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Kapitel XIV.
Vom Urteil.

§ 1. Philal. Der Mensch würde in den meisten Handlungen seines Lebens unentschieden bleiben müssen, wenn er in dem Falle, wo eine sichere Erkenntnis ihm mangelt, keinen sonstigen Maßstab des Handelns hätte. § 2. Er muß sich oft mit einer einfachen Dämmerung von Wahrscheinlichkeit begnügen. § 3. Das Vermögen, sich ihrer zu bedienen, heißt Urteil. Man begnügt sich mit ihm oft aus Notwendigkeit, oft aber auch aus Mangel an Fleiß, an Geduld und Geschicklichkeit. Man bezeichnet es als Zustimmung oder Verwerfung, und es hat statt, wenn man etwas vermutet, d. h. wenn man etwas vor dem Beweise als wahr annimmt. Entspricht diese Annahme der Wirklichkeit der Dinge, so ist das Urteil richtig.

Theoph. Andere nennen Urteil die Handlung, welche man allemal vollzieht, wenn man sich gemäß einer bestimmten Erkenntnis der Ursache entscheidet, ja manche werden das Urteil von der Meinung eben dadurch unterscheiden, daß es nicht so ungewiß sein darf. Ich will aber mit niemand über den Gebrauch der Worte streiten, und es steht Ihnen frei, das Urteil für eine wahrscheinliche Ansicht zu nehmen. Was die Vermutung ( Präsumption) anbetrifft, so ist dies ein Ausdruck der Juristen, und bei ihnen unterscheidet sich die Präsumption durch ihren richtigen Gebrauch von der Konjektur. Sie ist etwas mehr und darf vorläufig, bis das Gegenteil bewiesen ist, für Wahrheit gelten, während ein Anzeichen oder eine Konjektur oft gegen eine andere Konjektur abgewogen werden muß. So wird von demjenigen, welcher zugibt, von einem anderen Geld geliehen zu haben, vermutet, daß er es bezahlen müsse, wenn er nicht nachweist, daß er es schon getan habe, oder daß die Schuld aus irgendeinem anderen Rechtsgrund erloschen sei. Vermuten ist also in diesem Sinne nicht etwas vor dem Beweis als wahr annehmen – was nicht erlaubt ist –, sondern es im voraus, aber mit Grund, annehmen, bis ein Gegenbeweis erbracht ist.


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