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§ 1. Philal. Wir haben von den Arten unserer Erkenntnis gesprochen. Jetzt wollen wir zu den Mitteln übergehen, die Erkenntnis zu vermehren oder die Wahrheit zu finden. – Es ist eine unter den Gelehrten angenommene Meinung, daß die Maximen die Grundlagen aller Erkenntnis sind und daß jede Wissenschaft im besonderen sich auf gewisse schon vorher bekannte Dinge ( Praecognita) gründe. § 2. Ich gestehe zu, daß die Mathematik diese Methode durch ihren guten Erfolg zu begünstigen scheint, und Sie haben sich auch vielfach hierauf gestützt. Aber man zweifelt noch daran, ob es nicht vielmehr die Ideen sind, die dies durch ihren Zusammenhang bewirkt haben, – weit mehr als zwei oder drei allgemeine Maximen, welche man zu Beginn aufgestellt hat. Ein junger Knabe erkennt, daß sein Körper größer ist als sein kleiner Finger, aber nicht auf Grund jenes Axioms, daß das Ganze größer ist als sein Teil. Die Erkenntnis hat mit besonderen Sätzen angefangen, und erst hinterher hat man das Gedächtnis mittels der allgemeinen Begriffe von einem verwirrenden Haufen besonderer Ideen entlasten wollen. Wäre die Sprache so unvollkommen, daß sie die relativen Ausdrücke Ganzes und Teil nicht besäße, könnte man dann etwa nicht erkennen, daß der Körper größer als der Finger ist? Ich lege Ihnen die Gründe meines Autors wenigstens vor, obgleich ich vorauszusehen glaube, was Sie in Übereinstimmung mit dem, was Sie früher bemerkt, hierüber sagen könnten.
Theoph. Ich weiß nicht, warum man den Maximen so gram ist, daß man sie hier von neuem wieder angreift; wenn sie, wie man zugibt, dazu dienen, das Gedächtnis von einer Menge besonderer Ideen zu entlasten, so müssen sie, wenn sie auch sonst keinen anderen Nutzen hätten, schon hierdurch sehr nützlich sein. Ich füge indes hinzu, daß dies nicht ihr eigentlicher Ursprung ist: denn man findet sie nicht durch Induktion aus Beispielen. Derjenige, welcher erkennt, daß zehn mehr als neun, daß der Körper größer als der Finger ist, und daß das Haus zu groß ist, um durch die Tür davonlaufen zu können, erkennt jeden dieser besonderen Sätze vermöge ein und desselben allgemeinen Grundes, der darin gleichsam verkörpert und klargemacht wird, – analog den farbigen Zeichnungen, bei denen die Proportion und Gestaltung eigentlich in den Formen und Umrissen besteht, die Farbe mag sein, welche sie wolle. Dieser gemeinsame Grund ist nun eben das Axiom selbst, das hier sozusagen implizit erkannt, obwohl nicht sofort in abstracto und abgesondert eingesehen wird. Die Beispiele ziehen ihre Wahrheit aus dem Grundsatz, der in ihnen verkörpert ist, nicht aber hat das Axiom seinen Grund in den Beispielen. Da nun dieser gemeinsame Grund jener besonderen Wahrheiten im Geiste aller Menschen liegt, so sehen Sie wohl, daß es nicht nötig ist, daß die Worte Ganzes und Teil sich in der Sprache dessen finden, der von ihm durchdrungen ist.
§ 4. Philal. Ist's aber nicht gefährlich, unter dem Vorwande von Axiomen willkürlichen Voraussetzungen Ansehen zu verschaffen? Der eine wird mit einigen Alten voraussetzen, daß alles materiell sei, der andere mit Polemo, daß die Welt Gott ist Nach Stobaeus Ekl. Phys. c. 2, 5 § 62 (Sch.)., ein dritter wird als Tatsache aufstellen, daß die Sonne die oberste Gottheit sei. Urteilen Sie, welche Religion wir haben würden, wenn das erlaubt wäre. So gefährlich ist es, Prinzipien, ohne sie der Prüfung zu unterwerfen, anzunehmen, besonders wenn sie die Moral angehen. Denn mancher mag ein zukünftiges Leben erwarten, das eher der Art des Aristipp entspricht, der die Glückseligkeit in die körperlichen Lüste setzte, als der des Antisthenes, welcher behauptete, daß die Tugend hinreiche, um glücklich zu machen. Und Archelaus, der als Prinzip aufstellt, daß Recht und Unrecht, Ehrbar und Schändlich allein durch die Gesetze und nicht von der Natur bestimmt werden Nach Diogenes Laertius Lib. II, cap. 4 (Sch.)., hat ohne Zweifel andere Maße des moralisch Guten und Bösen als diejenigen, welche Verpflichtungen anerkennen, die allen menschlichen Satzungen vorausliegen. § 5. Die Prinzipien müssen also gewiß sein. § 6. Aber diese Gewißheit kommt nur aus der Vergleichung der Ideen; wir haben also keine anderen Prinzipien nötig und werden, wenn wir dieser Regel allein folgen, weiter kommen, als wenn wir unseren Geist der Willkür eines anderen unterwerfen.
Theoph. Ich bin erstaunt, daß Sie gegen die Maximen, d. h. gegen die evidenten Grundsätze dasjenige geltend machen, was man gegen willkürlich angenommene Prinzipien einwenden kann und muß. Wenn man Praecognita oder vorausgehende Erkenntnisse in den Wissenschaften verlangt, welche dazu dienen, das Wissen zu begründen, so fordert man bekannte Grundsätze, nicht aber willkürliche Aufstellungen, deren Wahrheit nicht bekannt ist. Selbst Aristoteles versteht es in diesem Sinne, wenn er sagt, daß die niedrigeren und untergeordneten Wissenschaften ihre Prinzipien von anderen, höheren Wissenschaften, in denen sie bewiesen worden sind, entlehnen; ausgenommen die erste der Wissenschaften, welche wir die Metaphysik nennen, und die nach ihm von den anderen nichts verlangt, sondern diesen vielmehr die Prinzipien liefert, deren sie bedürfen. Und wenn er sagt: δεῖ πιστεύειν τὸν μανϑάνοντα Περὶ σοφιστικῶν ἐλέγχων, Kap. 2., der Lernende muß dem Lehrer glauben, so ist seine Ansicht dabei die, daß er es nur einstweilen tun solle, solange er in den höheren Wissenschaften noch nicht unterrichtet ist, so daß dies nur vorläufig geschieht. Man ist somit weit davon entfernt, willkürliche Prinzipien zuzulassen. Ich muß dem hinzufügen, daß selbst Grundsätze, die nicht völlig gewiß sind, ihren Nutzen haben können, wenn man nur durch Beweisführung darauf weiter baut. Denn obwohl in diesem Falle alle Schlußfolgerungen nur bedingte Wahrheit besitzen und nur unter der Voraussetzung gelten, daß jenes Prinzip wahr ist, so wären doch zum mindesten dieser Zusammenhang selbst und diese bedingten Urteile erwiesen – so daß sehr zu wünschen wäre, daß wir viele auf diese Art geschriebene Bücher hätten, wobei, wenn der Leser oder Lernende von der Bedingung unterrichtet wäre, keine Gefahr des Irrtums bestünde. In der Praxis würde man sich an diese Folgerungen nur insoweit halten, als die Voraussetzung sich anderweitig gerechtfertigt fände. Diese Methode dient ferner selbst sehr oft zur Bewährung der Voraussetzungen oder Hypothesen, wenn viele Schlußfolgerungen aus ihnen hervorgehen, deren Wahrheit anderweitig bekannt ist; und das gibt mitunter eine vollständige Umkehrung, welche genügt, die Wahrheit der Hypothese zu beweisen. Conring, von Beruf ein Arzt, aber in jeder Art der Gelehrsamkeit, außer vielleicht in der Mathematik, tüchtig, hat an einen Freund, der damit beschäftigt war, zu Helmstädt das Buch des Viottus, eines geschätzten peripatetischen Philosophen, welcher das Beweisverfahren und die beiden letzten Bücher der Analytik des Aristoteles zu erklären sucht, neu drucken zu lassen, einen Brief geschrieben. Dieser Brief wurde dem Buch hinzugefügt. Conring tadelte darin den Pappus, daß er sagt: Die Analyse beabsichtigt, das Unbekannte zu finden, indem sie es (als bekannt) voraussetzt, und von da durch Folgerung zu bekannten Wahrheiten fortschreitet. Dies ist – sagte er – gegen die Logik, welche lehrt, daß man aus Falschem nichts Wahres schließen kann. Ich zeigte ihm aber später, daß die Analyse sich der Definitionen und anderer reziproker Sätze bedient, welche Mittel an die Hand geben, die Umkehrung zu machen und synthetische Beweise zu finden. Und selbst wenn diese Umkehrung nicht beweisend ist, wie in der Physik, so ist sie nichtsdestoweniger bisweilen von großer Wahrscheinlichkeit, wenn die Hypothese viele sonst schwer zu verstehende und voneinander ganz unabhängige Erscheinungen leicht erklärt Näheres hierüber in Leibniz' Briefwechsel mit Conring, s. bes. Leibniz' Brief an Conring vom 3. Januar 1678 (Gerh. I, 187 ff.).. Ich halte in Wahrheit dafür, daß gewissermaßen der Grundsatz aller Grundsätze der richtige Gebrauch der Ideen und Erfahrungen ist, aber wenn man sich darein vertieft, so wird man finden, daß hinsichtlich der Ideen dieser Gebrauch in nichts anderem besteht, als darin, die Definitionen mittels identischer Axiome zu verknüpfen. Es ist indessen nicht immer leicht, zu dieser letzten Analyse zu gelangen, und so viel Lust auch die Mathematiker, wenigstens die alten, bezeigt haben, damit zustande zu kommen, so haben sie es doch noch nicht vollbringen können. Der berühmte Verfasser der Abhandlung über den menschlichen Verstand würde ihnen viel Vergnügen bereiten, wenn er diese Untersuchung, die bedeutend schwerer ist, als man denkt, zu Ende führen wollte. Euklid hat z. B. unter die Axiome eines gesetzt, welches darauf hinausläuft, daß zwei gerade Linien sich nur einmal treffen können. Nun erlaubt uns das von der sinnlichen Erfahrung hergenommene Phantasiebild in der Tat nicht, uns mehr als eine Begegnung zweier Graden vorzustellen, aber darauf darf die Wissenschaft nicht gegründet werden. Und wenn jemand glaubt, daß die Verknüpfung der distinkten Ideen auf diesem Phantasiebild beruht, so ist er über die Quelle der Wahrheiten nicht wohl unterrichtet, und sehr viele Sätze, die nur durch andere Vordersätze beweisbar sind, würden ihm für unmittelbar gewiß gelten. Das haben viele, welche Euklid getadelt haben, nicht gehörig erwogen. Jene Arten von Phantasiebildern sind nur verworrene Vorstellungen, und wer die gerade Linie nur auf diese Weise erkennt, wird nicht imstande sein, etwas von ihr zu beweisen. Daher mußte Euklid, da er keine distinkt ausgedrückte Idee, d. h. keine Definition der Geraden besaß (denn die, die er vorläufig aufstellt, ist dunkel und hilft ihm bei seinen Beweisen nicht) Vgl. Leibniz' Aufsatz: In Euclidis πρῶτα. Math. V, 185., auf zwei Axiome zurückgreifen, die ihm statt Definitionen gedient haben, und die er in seinen Beweisen verwendet, nämlich erstlich, daß zwei Grade keinen gemeinsamen Teil besitzen, und zweitens, daß sie keinen Raum einschließen. Archimedes hat eine Art Definition der geraden Linie gegeben, indem er sagte, daß sie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei. Aber er setzt dabei stillschweigend voraus (indem er in den Beweisen solche Elemente anwendet, wie die des Euklid, welche sich auf die beiden eben erwähnten Axiome stützen), daß die Bestimmungen, von denen diese Axiome reden, der von ihm definierten Linie zukommen. Wenn Sie also mit Ihren Gesinnungsgenossen der Meinung sind, daß es – unter dem Vorwande der (unmittelbaren Erkenntnis der) Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Ideen – erlaubt war und noch ist, Sätze, die sich nur auf die Aussage der sinnlichen Wahrnehmung stützen, in die Geometrie aufzunehmen, ohne jene Strenge der Beweise durch die Definitionen und Axiome anzustreben, welche die Alten in dieser Wissenschaft gefordert haben (eine Ansicht, die, wie ich glaube, viele infolge mangelhafter Kenntnis des Gegenstandes teilen), so gestehe ich Ihnen, daß man sich damit für solche, die sich nur um die gewöhnliche praktische Geometrie, wie sie nun eben ist, bemühen, begnügen kann, nicht aber für die, die nach der wahrhaften Wissenschaft, als der eigentlichen Vollendung der Praxis selbst streben. Wenn die Alten dieser Meinung gewesen und in diesem Punkte lässig gewesen wären, so glaube ich, daß sie kaum vorwärts gekommen wären, und daß sie uns nur eine empirische Geometrie hinterlassen hätten, wie es die der Ägypter augenscheinlich war und die der Chinesen noch zu sein scheint. Dies hätte uns der schönsten physikalischen und mechanischen Erkenntnisse beraubt, die wir vermittels der Geometrie gefunden haben, und die überall da unbekannt sind, wo es unsere Geometrie ist. Es hat auch den Anschein, daß man, wenn man den Sinnen und deren Bildern gefolgt wäre, in Irrtümer verfallen sein würde, – wie z. B. alle diejenigen, welche nicht in der wissenschaftlichen Geometrie unterrichtet sind, es auf das Zeugnis ihrer Einbildungskraft hin als eine unzweifelhafte Wahrheit annehmen, daß zwei Linien, die sich einander beständig annähern, sich zuletzt schneiden müssen, während die Geometer uns in bestimmten Linien, welche sie Asymptoten nennen, Beispiele vom Gegenteil geben. Außerdem aber würden wir hierdurch dessen beraubt sein, was ich in der Geometrie in Absicht der Spekulation am meisten schätze, daß sie uns nämlich die wahre Quelle der ewigen Wahrheiten und das Mittel, vermöge dessen wir uns deren Notwendigkeit begreiflich machen können, eröffnet – was die verworrenen Bilder der Sinne nicht deutlich zu zeigen vermögen. Sie werden mir sagen, daß Euklid gleichwohl gezwungen gewesen ist, bei gewissen Axiomen stehen zu bleiben, deren Evidenz man nur verworren mittels der Bilder erkennt. Ich gebe Ihnen zu, daß er bei diesen Axiomen stehen geblieben ist, aber es war besser, sich auf eine kleine Anzahl von Wahrheiten dieser Art zu beschränken, die ihm als die einfachsten erschienen, und daraus die übrigen, welche ein anderer von geringerer wissenschaftlicher Schärfe gleichfalls ohne Beweis für gewiß angenommen hätte, abzuleiten, als viele davon unbewiesen zu lassen und als was noch schlimmer ist, den Leuten die Freiheit zu lassen, nach eigener Laune ihre Lässigkeit, so weit es ihnen beliebte, zu treiben. Sie sehen also, daß das, was Sie mit Ihren Freunden über die Verknüpfung der Ideen als die eigentliche Quelle der Wahrheiten bemerkt haben, der Aufklärung bedarf. Wenn Sie sich begnügen wollen, diese Verknüpfung verworren zu erkennen, so schwächen Sie die Strenge der Beweise ab, und Euklid hat unvergleichlich besser daran getan, alles auf Definitionen und eine kleine Zahl von Axiomen zurückzuführen. Wollen Sie aber, daß diese Verknüpfung der Ideen deutlich eingesehen und ausgedrückt werde, so werden Sie genötigt sein, wie ich es verlange, auf die Definitionen und identischen Grundsätze zurückzugehen, und mitunter werden Sie sich auch, wie Euklid und Archimedes, mit einigen weniger ursprünglichen Grundsätzen begnügen müssen, wenn es schwer sein wird, zu einer vollständigen Analyse zu gelangen, – und daran werden Sie besser tun, als manche schöne Entdeckung, die Sie auf diesem Wege bereits finden können, zu vernachlässigen oder hinauszuschieben. In der Tat glaube ich – wie ich Ihnen bereits früher einmal bemerkt habe –, daß wir keine Geometrie (ich verstehe darunter keine demonstrative Wissenschaft) hätten, wenn die Alten keinen Schritt vorwärts hätten tun wollen, ehe sie nicht die Axiome, die sie anwenden mußten, bewiesen hätten.
§ 7. Philal. Ich fange an, zu verstehen, was die distinkte Erkenntnis einer Verknüpfung zwischen Ideen bedeutet, und sehe wohl ein, daß auf diese Art die Axiome notwendig sind. Auch sehe ich wohl, in welcher Art die Methode, die wir bei unseren Untersuchungen befolgen, wenn es sich um die Prüfung der Ideen handelt, nach dem Vorbild der Mathematiker geregelt werden muß, die von gewissen sehr klaren und leichten Ausgangspunkten aus (die nichts anderes als die Axiome und Definitionen sind), in kleinen Schritten und mittels einer ununterbrochenen Verkettung von Beweisen zur Entdeckung und zum Beweise von Wahrheiten emporsteigen, die anfangs über die menschliche Fassungskraft hinauszugehen scheinen. Die Kunst, Beweise und jene bewundernswürdigen Methoden zu finden, welche sie für die Aufhellung und systematische Ordnung der vermittelnden Ideen entdeckt haben, hat erstaunliche und unverhoffte Entdeckungen hervorgebracht. Ob man aber mit der Zeit nicht eine ähnliche Methode wird erfinden können, welche sich ebensowohl auf die anderen Ideen, wie auf diejenigen, die dem Gebiet der Größen angehören, erstreckt, darüber will ich nicht entscheiden. Wenigstens würden wir, wenn andere Ideen nach der bei den Mathematikern üblichen Methode untersucht würden, in unserem Denken dadurch weiter kommen, als wir uns vorzustellen vielleicht geneigt sind. § 8. Und dies könnte besonders in der Moral geschehen, wie ich schon mehr als einmal gesagt habe.
Theoph. Ich glaube, daß Sie recht haben, und bin seit lange geneigt, ans Werk zu gehen, um Ihre Voraussagungen zur Erfüllung zu bringen.
§ 9. Philal. Hinsichtlich der Erkenntnis der Körper muß man einen gerade entgegengesetzten Weg einschlagen: denn da wir keine Ideen von ihren realen Wesenheiten haben, sind wir genötigt, auf die Erfahrung zurückzugehen. § 10. Ich leugne indessen nicht, daß wer vernünftige und geordnete Erfahrungen zu machen gewohnt ist, richtigere Vermutungen als ein anderer über ihre noch unbekannten Eigenschaften aufzustellen vermag; aber all dies ist Urteil und Meinung, nicht Erkenntnis und sicheres Wissen. Ich glaube daher, daß die Physik nicht fähig ist, unter unseren Händen Wissenschaft zu werden. Indessen können die Experimente und die tatsächlichen Beobachtungen uns für unsere körperliche Gesundheit und für die Bequemlichkeiten des Lebens Dienste leisten.
Theoph. Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß die Physik in ihrer Gesamtheit bei uns niemals eine vollkommene Wissenschaft sein wird, aber wir werden nichtsdestoweniger ein bestimmtes physikalisches Wissen erreichen können, ja wir besitzen schon jetzt Proben hiervon. Die Magnetologie kann z. B. für eine solche Wissenschaft gelten, denn wir können hier, indem wir nur wenige in der Erfahrung gegründete Voraussetzungen machen, auf Grund sicherer Schlußfolgerung eine Menge Erscheinungen nachweisen, die in der Art, wie die Vernunft es bestimmt, tatsächlich eintreten. Wir dürfen nicht hoffen, von allen Erfahrungen Rechenschaft abzulegen, wie selbst die Geometer noch nicht alle ihre Grundsätze bewiesen haben; aber ebenso, wie sie sich damit begnügt haben, eine große Zahl von Lehrsätzen aus einer kleinen Anzahl von Vernunftprinzipien abzuleiten, ist es auch genug, daß die Physiker mittels einiger Erfahrungsgrundsätze von einer großen Menge von Erscheinungen Rechenschaft ablegen und sie sogar in der Praxis vorhersehen können.
§ 11. Philal. Weil aber unsere Geisteskräfte nicht dazu angetan sind, uns die innere Bildung der Körper unterscheidbar und kenntlich zu machen, so müssen wir es als hinlänglich erachten, daß sie uns das Dasein Gottes und Erkenntnis von uns selbst erschließen, die hinreicht, um uns über unsere Pflichten und über unsere wichtigsten Interessen, vorzüglich hinsichtlich der Ewigkeit, zu unterrichten. Und so glaube ich im Recht zu sein, daraus zu folgern, daß die Moral die eigentliche Wissenschaft und die große Angelegenheit der Menschen im allgemeinen ist, wie andrerseits die verschiedenen Künste, welche verschiedene Teile der Natur betreffen, die besondere Aufgabe der Einzelnen ist. Man kann z. B. sagen, daß die Unwissenheit im Gebrauch des Eisens die Ursache davon ist, daß in den Ländern von Amerika, wo die Natur alle Arten von Gütern im Überfluß ausgebreitet hat, die meisten Bequemlichkeiten des Lebens fehlen. Weit entfernt also, die Wissenschaft der Natur zu verachten (§ 12), halte ich dafür, daß dies Studium, wenn es gehörig geleitet wird, von größerem Nutzen für das Menschengeschlecht sein kann, als alles, was man bisher geleistet hat. Derjenige, der die Buchdruckerei erfand, der den Gebrauch des Kompasses entdeckte und die Heilkraft der Chinarinde zeigte, hat zur Verbreitung des Wissens und zur Förderung der Bequemlichkeiten des Lebens mehr getan und mehr Menschen vom Tode gerettet, als die Gründer von Schulen und Hospitälern und anderen mit großen Kosten errichteten Denkmalen rühmlichster Menschenliebe.
Theoph. Sie können nichts sagen, was mir mehr zusagte. Die wahre Moral oder Frömmigkeit ist also weit entfernt, die Trägheit mancher nichtstuerischer Quietisten zu begünstigen, sondern treibt uns vielmehr zur Pflege der Künste und Wissenschaften an. Und wie ich vorlängst gesagt habe, würde eine bessere Staatskunst imstande sein, uns dereinst eine weit bessere Medizin, als wie wir jetzt haben, zu verschaffen. Nächst der Sorge für die Sittlichkeit kann man dies nicht genug predigen.
§ 13. Philal. Obwohl ich die Erfahrung empfehle, verachte ich doch die wahrscheinlichen Hypothesen keineswegs. Sie können zu neuen Entdeckungen führen und sind wenigstens dem Gedächtnis eine große Hilfe. Aber unser Geist ist sehr geneigt, zu schnell fortzueilen und sich mit einigen oberflächlich erfaßten Erscheinungen zufrieden zu geben, weil er sich nicht die nötige Mühe und Zeit nimmt, um die Hypothesen auf eine große Zahl von Phänomenen anzuwenden.
Theoph. Die Kunst, die Ursachen der Phänomene oder die echten Hypothesen zu entdecken, ist der Dechiffrierkunst zu vergleichen, in der oft eine sinnreiche Vermutung ein großes Stück Weges abkürzt. Lord Bacon hat den Anfang damit gemacht, die Kunst des Experiments unter Regeln zu bringen, und der Ritter Boyle hat ein großes Talent für ihre praktische Ausübung besessen. Wenn man indessen hiermit nicht die Kunst verbindet, die Erfahrungen anzuwenden und Folgerungen aus ihnen zu ziehen, so wird man auch mit königlichem Kostenaufwande nicht auf das kommen, was ein Mann von großem Scharfsinn sogleich entdecken könnte. Descartes, der sicher ein solcher Mann war, hat in einem seiner Briefe über der Methode des Kanzlers von England eine ähnliche Bemerkung gemacht Eine Äußerung Descartes', die Leibniz' Bemerkung völlig entspräche, findet sich – wie Schaarschmidt bemerkt – in Descartes' Briefen nicht; doch scheint Leibniz eine Stelle in einem Briefe an Mersenne vom 10. Mai 1632 (ed. Adam-Tannéry I, 251) vorzuschweben., und Spinoza, den zu zitieren ich mich nicht scheue, wenn er etwas Gutes sagt, macht in einem seiner Briefe an den verstorbenen Oldenburg, Sekretär der Royal Society von England, der unter den nachgelassenen Werken dieses scharfsinnigen Juden gedruckt worden ist, eine verwandte Reflexion über ein Werk Boyles Vgl. Spinoza, Epistolae (ed. Bruder) Nr. IX, über Boyle vgl. Band I, S. 210, Anm., der sich, die Wahrheit zu sagen, ein wenig zu lange damit aufhält, um aus einer unendlichen Zahl schöner Erfahrungen keinen anderen Schluß zu ziehen, als den, den er als Grundsatz hätte annehmen können: daß nämlich in der Natur alles auf mechanische Art geschieht: ein Grundsatz, dessen man sich durch die bloße Vernunft und niemals durch die Erfahrungen, so viel man deren auch mache, versichern kann.
§ 14. Philal. Nachdem man klare und deutliche Ideen mit bestimmten Namen festgestellt hat, besteht das große Mittel zur Ausbreitung unserer Erkenntnisse in der Kunst, vermittelnde Ideen zu finden, kraft deren wir die Verknüpfung oder die Unverträglichkeit der einander fernstehenden Ideen zeigen können. Die Maximen wenigstens dienen nicht dazu, uns diese Vermittlungen zu geben. Gesetzt, daß jemand keine exakte Idee von einem rechten Winkel hat, so wird er sich vergeblich quälen, etwas über das rechtwinklige Dreieck zu beweisen, und welche Maximen man auch anwende, so wird man immer Mühe haben, mit ihrer Hilfe zum Beweise des Satzes zu gelangen, daß die Quadrate über den beiden Seiten, die den rechten Winkel einschließen, dem Quadrat über der Hypotenuse gleich sind. Es könnte jemand lange über diese Axiome nachdenken, ohne jemals in der Mathematik klarer zu sehen.
Theoph. Über die Axiome nachzudenken hilft nichts, wenn man sie nicht anzuwenden weiß. Die Axiome dienen oft dazu, die Ideen unter sich zu verknüpfen, wie z. B. jene Maxime, daß ähnliche Figuren der zweiten und dritten Dimension sich wie die Quadrate und Kuben der entsprechenden Stücke erster Dimension verhalten, von größtem Nutzen ist. Hieraus ergibt sich beispielsweise die Quadratur des Möndchens des Hippokrates, zunächst für den Fall der Kreise, indem man weiterhin diese beiden Figuren, sofern es sich vermöge ihrer gegebenen Lage tun läßt, miteinander zur Deckung bringt, da das zwischen ihnen bestehende bekannte Verhältnis weitere Aufklärungen verspricht Näheres über die Quadratur der »Lunula« des Hippokrates von Chios (um 440 vor Chr.) in Cantors Vorles. über die Gesch. der Mathematik3, I, 192 ff..