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Kapitel V.
Von der Wahrheit im allgemeinen.

§ 1. Philal. Viele Jahrhunderte hat man schon gefragt, was die Wahrheit ist. Die Unsrigen glauben, daß es die Verbindung oder Trennung der Zeichen je nach der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Dinge untereinander ist. Unter der Verbindung oder Trennung der Zeichen muß verstanden werden, was man sonst einen Satz (Urteil) nennt.

Theoph. Aber ein Beiwort macht noch keinen Satz, z. B. der weise Mensch, obgleich dabei eine Verbindung zweier Ausdrücke stattfindet. Auch ist Negation etwas anderes als Trennung, denn wenn ich sage: Mensch und nach einem kleinen Zwischenraume ausspreche: weise, so negiere ich nicht. Die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ist auch nicht eigentlich das, was man durch den Satz ausdrückt. Zwischen zwei Eiern besteht Übereinstimmung, zwischen zwei Feinden besteht Nichtübereinstimmung. Es handelt sich hier um eine ganz besondere Art des Übereinkommens oder Nichtübereinkommens. Ich glaube also, daß die Definition den Punkt, um welchen es sich handelt, nicht erklärt. Was mir jedoch an Ihrer Definition der Wahrheit am wenigsten gefällt, ist, daß man dabei die Wahrheit in den Worten sucht. Also würde derselbe Sinn, in Latein, Deutsch, Englisch, Französisch ausgedrückt, nicht dieselbe Wahrheit sein, und man müßte mit Hobbes sagen, daß die Wahrheit vom menschlichen Belieben abhängt, was doch eine sehr seltsame Ausdrucksweise ist Gegen Hobbes' »Nominalismus« s. den »Dialogus de connexione inter res et verba«, der überhaupt die beste Erläuterung zu Leibniz' folgenden Ausführungen enthält (Band I, S. 26 ff.).. Man schreibt die Wahrheit sogar Gott zu, welcher, wie Sie mir, glaube ich, zugeben werden, keine Zeichen nötig hat. Endlich habe ich mich schon mehr als einmal über die Grille Ihrer Freunde gewundert, die sich darin gefallen, die Wesenheiten, Arten und Wahrheiten zu etwas Sprachlichem zu machen.

Philal. Übereilen Sie sich nicht! Unter den Zeichen verstehen sie die Ideen: die Wahrheiten werden also entweder gedanklich oder sprachlich, je nach den Arten der Zeichen.

Theoph. Wir werden dann also auch noch Buchstabenwahrheiten bekommen, die man wieder in papierne oder pergamentene Wahrheiten, in Wahrheiten gewöhnlicher Schreibtinte oder Druckerschwärze unterscheiden könnte, wenn man die Wahrheiten nach den Zeichen unterscheiden muß. Man tut also besser, die Wahrheiten in die Beziehung zwischen den Gegenständen der Ideen, vermöge deren die eine in der anderen enthalten oder nicht enthalten ist, zu setzen. Diese Beziehung hängt von den Sprachen nicht ab und ist uns mit Gott und den Engeln gemein; und wenn Gott uns eine Wahrheit offenbart, so erlangen wir diejenige, welche seinem Verstande innewohnt, denn obgleich zwischen seinen und unseren Ideen ein unendlicher Unterschied, sowohl was Vollkommenheit als was Umfang anbetrifft, besteht, so bleibt doch immer wahr, daß beiderseits die gleiche Beziehung stattfindet. Also muß man die Wahrheit in diese Beziehung setzen, und wir können zwischen den von unserem Belieben unabhängigen Wahrheiten und zwischen den Ausdrücken, welche wir nach Gutdünken erfinden, unterscheiden.

§ 3. Philal. Es ist nur zu wahr, daß die Menschen selbst im eigenen Geiste die Worte an Stelle der Dinge setzen, besonders wenn es sich um zusammengesetzte und unbestimmte Ideen handelt. Aber wie Sie bemerkt haben, ist es auch ebenso wahr, daß der Geist sich alsdann begnügt, die Wahrheit nur zu bezeichnen, ohne sie für den Augenblick zu verstehen, überzeugt, daß es nur von ihm abhängt, sie, sobald er will, zu verstehen. Übrigens ist die Handlung, welche man beim Bejahen oder Verneinen ausübt, leichter zu begreifen, indem man das, was in uns vorgeht, überdenkt, als es leicht ist, sie in Worten klar zu machen. Stoßen Sie sich daher nicht daran, wenn man in Ermangelung eines Besseren von Zusammenfügen oder Trennen gesprochen hat. § 8. Auch werden Sie zugeben, daß zum mindesten die Sätze sprachliche (Wahrheiten) genannt werden können, und daß sie, sofern sie wahr sind, zugleich sprachliche und reale Bedeutung haben, denn (§ 9) die Falschheit besteht darin, die Worte anders zu verbinden, als es der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Ideen entspricht. Zum mindesten (§ 10) sind die Worte wichtige Förderungsmittel der Wahrheit. § 11. Es gibt auch eine moralische Wahrheit, die darin besteht, von den Dingen unserer Überzeugung gemäß zu reden; endlich eine metaphysische Wahrheit, nämlich das reale Dasein der Dinge in Übereinstimmung mit den Ideen, die wir von ihnen haben.

Theoph. Die moralische Wahrheit wird von einigen Wahrhaftigkeit genannt; und die metaphysische Wahrheit pflegen die Metaphysiker gewöhnlich als ein Attribut des Seins zu betrachten, aber es ist ein sehr unnützes und fast sinnloses Attribut. Begnügen wir uns, die Wahrheit in der Übereinstimmung der Urteile unseres Geistes mit den Dingen, um die es sich handelt, zu suchen. Allerdings habe ich die Wahrheit auch den Ideen beigelegt, indem ich sagte, daß die Ideen wahr oder falsch sind; aber in diesem Falle verstehe ich das in der Tat von der Wahrheit der Urteile, welche die Möglichkeit des Gegenstandes der Idee bejahen. Und in diesem selbigen Sinne kann man auch sagen, daß ein Wesen wahr ist, d. h. das Urteil, das sein wirkliches oder wenigstens mögliches Dasein bejaht.


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