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Kapitel IX.
Von der Erkenntnis unseres eigenen Daseins.

§ 1. Philal. Bisher haben wir nur die Wesenheiten der Dinge betrachtet, und da unser Geist sie nur durch Abstraktion erkennt, indem er sie von jedem besonderen Dasein außer dem in unserem Verstande loslöst, so geben sie uns durchaus keine Erkenntnis irgendeines wirklichen Daseins. So beziehen sich auch die allgemeinen Urteile, von denen wir eine sichere Erkenntnis haben können, nicht auf das Dasein. Wird übrigens einem Individuum einer Gattung oder Art irgendeine Eigenschaft zugesprochen vermöge eines Urteils, das, wenn man die gleiche Eigenschaft der Gattung oder Art im allgemeinen zusprechen würde, keine Gewißheit besäße, so bezieht sich das Urteil nur auf das Dasein im besonderen und zeigt nur eine zufällige Verbindung in den bestimmten daseienden Dingen an: wie wenn man z. B. sagt: dieser oder jener ist gelehrt.

Theoph. Sehr richtig, und in diesem Sinne beziehen auch die Philosophen in ihrer so häufigen Unterscheidung zwischen dem, was zur Essenz und zur Existenz gehört, auf die Existenz all das, was akzidentell oder zufällig ist. Ja auch bei denjenigen allgemeinen Sätzen, welche wir nur aus Erfahrung wissen, weiß man oft nicht, ob sie nicht vielleicht gleichfalls akzidentell sind, weil eben unsere Erfahrung beschränkt ist; wenn man z. B. in den Ländern, wo das Wasser nicht friert, das Urteil fällt: »das Wasser ist immer in flüssigem Zustande«, so drückt dieses Urteil nicht das Wesen aus, und man erkennt dies, wenn man in kältere Länder kommt. Man kann indessen das Akzidentelle in einem engeren Sinne nehmen, so daß es gleichsam ein Mittleres zwischen ihm und dem Wesentlichen gibt; und zwar ist dieses Mittlere das Natürliche, d. h. dasjenige, was dem Dinge zwar nicht mit Notwendigkeit angehört, ihm indessen, wenn kein Hindernis eintritt, von selbst zukommt. So könnte jemand behaupten, daß der flüssige Zustand dem Wasser zwar nicht wesentlich, aber zum mindesten natürlich sei. Man könnte es, sage ich, behaupten, aber bewiesen ist es dennoch nicht, und vielleicht hätten die Einwohner des Mondes, wenn es solche gäbe, Grund, sich nicht minder berechtigt zu der Erklärung zu halten, daß es dem Wasser natürlich ist, gefroren zu sein. Indessen gibt es andere Fälle, wo das Natürliche weniger zweifelhaft ist: so geht z. B. ein Lichtstrahl innerhalb desselben Mediums stets in gerader Linie fort, wenn er nicht zufällig auf irgendeine Oberfläche trifft, die ihn zurückwirft. Übrigens pflegt Aristoteles die Quelle der zufälligen Dinge in der Materie zu suchen; alsdann muß man aber darunter die zweite Materie verstehen, d. h. die Menge oder die Masse der Körper.

§ 2. Philal. Ich habe in Übereinstimmung mit dem vortrefflichen englischen Schriftsteller, der die Abhandlung über den Verstand geschrieben hat, bereits bemerkt, daß wir unser Dasein durch Intuition, das Dasein Gottes durch Beweis und das der übrigen Dinge durch sinnliche Wahrnehmung erkennen. § 3. Jene Intuition nun, welche uns unser eigenes Dasein erkennen läßt, bewirkt auch, daß wir es mit völliger Evidenz erkennen, die eines Beweises weder fähig noch bedürftig ist, dergestalt, daß, auch wenn ich es unternehme, an allem zu zweifeln, selbst dieser Zweifel mir nicht verstattet, an meinem Dasein zu zweifeln. Kurz, hierüber haben wir den überhaupt größtmöglichen Grad der Gewißheit.

Theoph. Mit allem dem bin ich vollkommen einverstanden, und füge noch hinzu, daß das unmittelbare Bewußtsein unseres Daseins und unseres Denkens uns die ersten aposteriorischen oder faktischen Wahrheiten, d. h. die ersten Erfahrungen liefert; wie die identischen Sätze die ersten apriorischen oder Vernunftwahrheiten, d. h. die ersten Einsichten, enthalten. Die einen wie die anderen sind keines Beweises fähig und können unmittelbar genannt werden, jene, weil zwischen dem Verstande und seinem Gegenstande, diese, weil zwischen dem Subjekt und dem Prädikat ein Verhältnis der Unmittelbarkeit stattfindet.


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