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Viertes Kapitel.
Rückt stark in der Chronologie vorwärts


Die Jugendgeschichte der Menschen, und wär es auch die des Kindes- und Knabenalters eines Alexanders, Cäsars und Leibniz', ist größtentheils abgeschmackt oder erlogen; es kann seyn, daß Kinder schon gewisse Anlagen zeigen, aber was sind bloße Anlagen? Das Zeug wird in der Folge so jämmerlich vergrößert, in der Lebensgeschichte mancher großer Männer nämlich, daß man glauben sollte, der Knabe habe so viel Verstand und Kenntnisse mit auf die Welt gebracht, als Andere, die doch auch nicht auf den Kopf gefallen sind, oder welche, nach einer sehr beliebten, sogar auf dem Katheder gewöhnlichen Phrasis, kein Esel aus der Wand geschlagen hat, durch lauter Anstrengen nicht erwerben können. Andere hingegen, welche ausarten, waren schon nach der Pädobiographie in ihrer ersten Jugend ganz eingemachte Schufte u. s. w.

Aus dieser Ursache werde ich meinen Helden nicht eher als handelnd auftreten lassen, bis er wirklich handelt: von seinen Kindereien werde ich nur fragmentarisch reden.

Daß Sibylle beym Pastor blieb, und daß der junge Johann Heinrich auch da blieb, versteht sich von selbst. Er hieß zwar nach seinem Taufnamen Kapper, aber Sibyllchen wußte ja recht gut, daß dieser Name ihrem Jungen nicht gebührte, sie gab ihm also gegen jeden, der darnach fragte, ihren eigenen Zunamen, und nannte ihn Euler. Als der junge Euler ungefähr sieben Jahr alt war, mußte er nach der Schule wandern und beym Cantor Schönleben die scholastischen Wissenschaften, nämlich Lesen und Schreiben, wie auch die fünf Species der Rechenkunst, den kleinen Catechismus Lutheri, nebst dem breiten Darmstädter Catechismus, die Bußpsalmen und ungefähr vier Dutzend heilige Lieder aus dem Gesangbuche auswendig lernen. Das war nun ein grave opus für unser Eulerchen, und wann's schon in der lieben Schule zu Kirchberg wie in fast allen Schulen Germaniens herging, nämlich daß man die Kinder durch die Bank wie Strohmänner ansieht, und sie zehn und mehr Jahre täglich sechs Stunden mit dem Schulmeisterleins-Unterricht und elenden Fratzen beschäftigt, so konnte doch Eulerchen nicht recht mitkommen, und ungeachtet der Kopfnüsse und der häufigen Stockhiebe, welche Herr Cantor Schönleben ihm auf Buckel und Hände fallen ließ, kannte unser Heldchen im eilften Jahre kaum die Buchstaben und wußte mehr nicht auswendig, als die zehn Gebote und das Vaterunser; jedoch wohl zu merken, ohne die im Catechismus befindlichen Auslegungen, was ist das? genannt.

Der Cantor, welcher sich schämte, daß sein Schüler so gar schlecht vorwärts rückte, beschloß seinen Fleiß an ihm zu verdoppeln, und gerbte ihm daher täglich das Fell so rein aus, daß ihm der Buckel immer blau und braun blieb. Eulerchen war zwar hartschlägig, und konnte schon etwas zu sich nehmen, ohne darüber sehr afficirt zu werden, aber Herr Schönleben schlug, wenn er wollte, und es ihm Ernst war, einen Stock trotz dem besten Korporal, und da mußte er wohl bey Eulerchen auf die Fühlhaut kommen. Der Junge klagte zwar nicht zu Hause: denn er hatte von dem Herrn Pastor oft gehört, daß der Bakel die höchste Wohlthal für junge Knaben sey; und da er wußte, daß seine Mutter Sibylle in allen Stücken gerade dachte wie der Pastor, so hoffte er nicht, zu Hause Hülfe und Trost zu finden, und schwieg deshalben.

Indessen merkte Sibyllchen an den rothgeweinten Augen, welche ihr Leibsöhnchen jedes Mal mit aus der Schule brachte, daß etwas vorgefallen seyn und zum öftern vorfallen müsse, worüber das gute Kind Thränen vergösse; sie nahm daher ihren Johann Heinrich vor, und kam bald hinter die wahre Ursache der rothen Augen. Da brach ihr denn das Mutterherz, und als sie gar die Striemen und Schwielen auf den Armen und dem Rücken ihres Mätzchens sähe, fiel sie beynahe in Ohnmacht. Aber was sollte sie thun? Den Pastor davon benachrichtigen? – Das ging nicht: denn der Pastor pflegte stets zu sagen: an Knaben wäre kein Schlag verloren, als der, welcher neben abfiele. Ja, sagte er oft, selbst Achilles hat Hiebe bekommen, daß er hätte mögen schwarz werden; der glaubwürdige Autor Ovidius erzählt sehr energisch im ersten Buche seines schönen Werkes von der Kunst zu lieben, daß Chiron der Centaur, das ist ein Kerl halb Mensch und halb Pferd, dem Achilles rechtschaffen auf die Pfoten gehauen habe, wenn er nicht lernen wollte.

Bey dem Pastor war also keine Hülfe wider des Cantors Despotismus zu suchen, und doch konnte Sibyllchen nicht zugeben, daß ihr Hanhenrich alle Tage so erbärmlich durchtrischakt wurde. Was war daher zu thun? Sie mußte selbst Hand anlegen, um ihrem Söhnchen seine traurige Lage zu erleichtern. Als daher der Pastor nach seiner und fast aller Herren Amtsbrüder Gewohnheit über Land gegangen war, um einen guten Freund abzustoßen, steckte sie einige Loth Kaffee und ein Viertel Pfund Zucker in die Tasche, nahm auch ein Päckchen A-B-Taback nebst einer Flasche Schnapps mit, und besuchte die Frau Cantorin, welche sie sehr höflich bat, doch die Milch zu einem guten Kaffee herzugeben. Die Frau Cantorin war sehr willig dazu, und der Kaffee ward fertig. Unterdeß kam Herr Schönleben aus der Schule.

Ih, sagte der Herr Cantor, Jungfer Sibyllchen, wie hat denn unser einer einmal die Ehre, Sie in seinem Hause zu sehen?

Sibylle. Wollte mich doch erkundigen, ob mein Hanhenrich auch hübsch fleißig ist, und brav lernt.

Cantor. Flüchtig ist er, Jungfer Sibyllchen, aber es wird schon kommen.

Sibylle. Sie trinken doch eine Tasse mit, Herr Cantor?

Cantor. O ja, mit Permission, wenn's erlaubt ist; denn ich merke schon, Jungfer Sibyllchen hat Kaffee und Zucker mitgebracht. – Wir trinken allen unsern Kaffee mit Syrup oder mit Thomaszucker; der ordinäre Zucker ist jetzt höllenmäßig theuer. – Will mir aber erst eine Pfeife machen.

Sibylle. Was rauchen Sie für Taback, Herr Cantor?

Cantor. Je nun, Cantors-Taback, Knaster drey Ellen um den Leib für einen Kreutzer. Die Zeiten sind gar zu schlecht.

Sibylle ( zieht das Päckchen heraus). Wollen Sie den da probiren, Herr Cantor?

Cantor. Ih schaut doch mal, das ist ja A-B von der Sorte, die der Herr Pastor und der Herr Superintendent zu Gießen rauchen. Das ist bey mir rara phrasis, die ich notiren werde, weil sie selten occurrirt. ( Nimmt einen allmächtigen Pfeifenkopf und stopft ihn.) Ah, nun hab' ichs schön gemacht: die Pfeife ist verstopft. Mit Permission, Jungfer Sibyllchen: ich werde mein Nahrungspfeifchen holen.

Sibylle. Nach Belieben: der Taback soll ja Ihre seyn.

Cantor. Das ganze Päckchen?

Sibylle. Ja wohl; hab's ja für Sie mitgebracht.

Cantor. Gaudeamus igitur – das soll mir wohl bekommen: werde das Bißchen guten Taback für die Sonntage sparen.

Sibylle. Ist nicht nöthig: mein Vetter, der Kaufmann Host zu Gießen, versieht mich mit dergleichen, wenn ich es haben will: mein Hanhenrich soll Ihnen jede Woche ein Viertelpfund bringen.

Cantor. Werde wieder erkenntlich seyn, Jungfer Sibyllchen. Aber jetzt muß ich mich recommandieren!

Sibylle. Und wohin wollen Sie, Herr Cantor?

Cantor. Zum Nachbar Bierlümmel.

Sibylle. Der ist vorhin in die Schenke gegangen.

Cantor. Ih nun, so geh' ich auch dahin: hab' ohnehin heut noch keinen Wurf gemacht.

Sibylle ( zieht ihr Fläschchen hervor). Ists gefällig, Herr Cantor?

Cantor. Ah, ah! ( thut einige derbe Züge) Excellent, bey meiner armen Seele! Wo haben Sie diesen Concursus Triefelarum her?

Sibylle. Von meinem Vetter Höpfner zu Gießen War ein berühmter Destillateur, und darf mit dem Commentator der Institutionen Höpfner, welcher ehedem auch in Gießen die Rechte lehrte, nicht verwechselt werden, doch waren beyde nahe Vettern. L.. Er schickt mir dann und wann ein Fläschchen. Wenn ich künftig wieder eins kriege, sollen Sie immer etwas davon abhaben. Nur bitte ich, daß mein Hanhenrich –

Cantor. Sorgen Sie nicht, Jungfer Sibyllchen: er wird schon werden.

Sibylle. Aber der Junge ist so scheu: wenn Sie ihn hart angreifen sollten, Herr Cantor –

Cantor. Versteh' schon, versteh' schon. Lassen Sie mich nur machen, Jungfer Sibyllchen: soll schon werden.

Was wirklich geworden ist, errathen meine Leser ohne meine weitere Auseinandersetzung. Hanhenrich erhielt keine Hiebe mehr: denn Sibylle hielt Wort, schickte dem Cantor jede Woche ein Viertelpfund A-B-Taback, dann und wann ein Butelchen mit Schnapps, und besuchte bisweilen die Frau Cantorin, um dort den mitgebrachten Kaffee bereiten zu lassen.


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