Artur Landsberger
Raffke & Cie.
Artur Landsberger

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Drittes Kapitel

Günther entwickelte sich alle Tage mehr zu jener Gattung von Wunderkind, dem man in den Häusern der oberen Zehntausend auf Schritt und Tritt begegnet und dessen hervorragende Eigenschaften man mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen kann.

Allein die Affenliebe von Eltern und Tanten verleiht die Gabe, in Häßlichkeit verborgene Schönheit, in Widerspenstigkeit den Ausdruck starken Willens und in unbekümmertem und ohne Rücksicht auf Zeit und Ort geübtem Nässen die Äußerung einer schönen Seele zu erblicken.

Der Gast hingegen, dem man dies Wunder vorsetzt, wendet sich mit Grausen – es sei denn, daß Rücksichten und gesellschaftlicher Takt ihn zwingen, zu loben und zu bleiben.

Cäcilie empfing jetzt viel Rekonvaleszenzbesuche. Und Günther wurde bald jeden Nachmittag von halb fünf bis halb sieben zum Tee gereicht. Alle bestaunten ihn, und bei vielen hinterließ er einen schwer verwischbaren Eindruck.

Cäcilie fand, schon als er sechs Wochen alt war, daß er einem alten spanischen Granden aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, dessen Porträt in der Gemäldegalerie dem Ruhebett unmittelbar gegenüber hing, unverkennbar ähnlich sah.

Und als er nach weiteren vier Wochen das erste Mal unartikulierte Laute von sich gab, die anders klangen als das gewöhnliche Geplärre und einem abgerissenen Lallen glichen, rief Cäcilie begeistert:

»Hast du gehört, Leo, was er gesagt hat?«

Leo und Emma sahen sich erstaunt an.

Da lallte der spanische Grande von neuem.

»Hört ihr's nicht? Tarantella! ruft er ganz deutlich!« – Und sie fiel Leo um den Hals und rief: »Ich bin ja so stolz! Es ist ein Wunderkind!«

Emma schüttelte den Kopf und dachte:

»Ist das eine verrückte Mutter!«

Einen Tanz gab es, als eines Morgens eine Probierdame von Gerson in Begleitung eines Laufjungen erschien, der auf seinem Rücken keuchend einen Berg von Kartons schleppte.

Emma wurde nach vorn gerufen. Die Kartons wurden geöffnet.

»Wat soll das?« fragte Emma drohend, stemmte die Fäuste in die Hüften und sah in die Kartons, die offen ringsum auf der Erde standen.

»Echte Spreewälder Kostüme!« sagte Cäcilie.

»Wollen die Jnädige auf'n Maskenball jehn?«

»Aber nein, Emma, die sind für Sie!«

»Für mich? – Das wär' jelacht!«

»Das gehört sich so!« suchte Cäcilie sie zu belehren.

»Für wen?«

»Nu, überhaupt.«

»Für Sie! Das mag sein. Für mich nich! Warum haben Se sich da nich jleich so 'ne wendische Unschuld jenommen? Da hätten Sie das teure Kostüm gespart.«

»Aber Emma, bedenken Sie, Sie schonen Ihre Sachen!«

»Ausjeschlossen!« widersprach Emma. »Und denn überhaupt, im Tiergarten, mang die echten Spreewälderinnen! Ich wer' mich blamieren! Fällt mir nich ein!«

Jetzt mischte sich auch die Probierdame in die Unterhaltung.

»Das Kostüm ist doch so kleidsam!« sagte sie.

»Ich glaube, daß es Sie vorzüglich kleiden würde.«

»Sehn Se 'mal an! Was Se nich sagen!« erwiderte Emma. – »Na, wie wär's denn, wenn Sie mal 'n paar Monate darin rumliefen? – Wenn's doch so kleidsam is! Der Jnädigen kommt's nich drauf an. Selbstredend troddele ich nebenher. Für alle Fälle! Und in Anspruch werden Se von dem Kind weiter nich jenommen.«

»Das ist eine Idee!« rief Cäcilie. – »Sie mit Ihrer Figur und dem Gesicht würden überall Aufsehen machen! Jeder würde fragen, wem der Junge gehört!«

»Jawoll!« bestätigte Emma. – »Das ist de beste Reklame für Sie und den Jungen – und für de Konserven.«

Cäcilie sah sie erstaunt an.

»Na ja!« fuhr Emma fort. »Wenn es denn heißt: Das is der Junge von der Konservenfabrik Raffke & Cie., was meinen Sie, wie so'n lebendiges Plakat zieht!«

Cäcilien leuchtete das ein.

»Und was Sie da alles für Bekanntschaften machen!« reizte Emma die Probiermamsell.

Die protestierte und rief entsetzt:

»Gnäd'ge Frau!«

»Sagen Se das nich!« widersprach Emma.

»Ich . . . bin . . .,« rief die Probierdame atemlos.

»Ich weiß!« beruhigte sie Emma. »Sie sind! Aber das macht nichts. – Ich bin ja bei Ihnen. Und in so'm Fall, wo Ihnen jemand zu nahe tritt, da nehm' ich 'n mir schon beiseite und bring' ihm bei, daß Se man nur 'ne Atrappe sind.«

»Mein Gott, das ist doch unmöglich!« rief die Probierdame.

»I Gott bewahre! Bei unserer Jnädigen is nichts unmöglich – von wo sind Sie?«

»Von Gerson.«

»Sehn Se 'mal an! Na, mit dem Mann wird sich doch reden lassen. Oder glauben Se, der macht Bankrott, wenn Sie zwei Monate lang bei Raffkes Amme spielen?«

»Ich werde das schon erledigen,« sagte Cäcilie, »schlimmsten Falls zahlt man drauf.«

»Da hören Se's, Fräulein! – Bei uns is es so fein, da wird immer draufgezahlt.«

»Und Ihre Ansprüche?« fragte Cäcilie.

»Gott, ich weiß ja gar nicht – ich war ja noch nie – was hätte man denn da zu tun?«

»Nichts!« erwiderte Emma.

»Ich weiß ja auch gar nicht mit so was Bescheid.«

»Sie haben nichts weiter zu tun, als hübsch auszusehen und alle Augen auf sich zu lenken.«

»Auf den Jungen!« rief Cäcilie.

»Vasteht sich! Das is natürlich der Zweck der Übung. Der Junge! – Na, und dann die Konserven!«

»Und wann wäre das?«

»Ich denke, daß es vorläufig genügt, wenn Sie meinen Sohn auf den Spaziergängen begleiten,« sagte Cäcilie. »Ob Sie nachher dann ganz zu uns kommen, nicht wahr, das müßte man dann erst sehen.«

»Jewiß!« stimmte Emma bei. »Das heißt, morgens von zehn bis zwölf und nachmittags von . . . ach so, zu den Tees, da müßte sich das Fräulein denn wohl auch schon bemühen. Sie macht doch 'ne janz andre Figur als ich.«

»Selbstredend!« erwiderte Cäcilie. »Was haben Sie in Ihrer jetzigen Stellung?«

»Neunzig Mark.«

»Schön. Ich will mit meinem Mann sprechen. Ich denke, wir geben Ihnen das Doppelte.«

»Das heißt hundertfünfundzwanzig Mark,« sagte Emma.

Die Probierdame machte ein verständnisloses Gesicht und Cäcilie bestätigte:

»So etwa!«

»Sehn Se!« rief Emma. »Ich kenn' mich aus!«

»Sie heißen?« fragte Cäcilie.

»Fiffi Lehmann.«

»Wie reizend!« rief Cäcilie. »Fiffi! – Sie wohnen bei Ihren Ehern?«

»I Gott bewahre!« erwiderte Emma. – »Wie wird se denn, wenn se Fiffi heißt.«

»Bei Bekannten!« sagte Fräulein Lehmann.

»Bei Bekannten wohnt sich's ja auch ganz nett,« meinte Emma, nahm eins der Spreewälder Kostüme heraus und sagte: »Ja, Fräulein Fiffi, dann werd'n Se wohl 'mal in so 'ne Garnitur steigen müssen.«

Fiffi zog Rock und Bluse aus, und Emma half ihr in eins der Kleider.

»Nu, was sagen Se?« fragte Emma.

»Prächtig! prächtig!« rief Cäcilie. – »So 'ne Amme soll uns noch'mal jemand nachmachen!«

Fiffi sah in den Spiegel und gefiel sich.

»Kann ich denn dazu die Lackschuhe und die seidenen Strümpfe tragen?«

»Erst recht! erst recht!« rief Emma. »Nu machen Se man gar keine Faxen weiter und kommen Se! Sehn Se bloß, wie die Sonne scheint! Jetzt fahr'n wir jleich mit dem Jungen in de Siegesallee!«

»Und Gerson?« fragte Fiffi unschlüssig.

»Das erledigt die Jnädige. – Also denn!« Sie nahm Fräulein Lehmann unter den Arm und ging mit ihr hinaus. – »Na, der Junge wird Augen machen!« sagte sie.

Eine Viertelstunde später fuhr Fiffi den jungen Günther durch die Siegesallee.

Emma ging triumphierend daneben.

Fiffi fiel jedem, der vorüber kam, auf. Die Leute blieben stehen und sahen ihr nach. Mehr als einmal hätte Emma nur ein paar Schritte zurückzubleiben brauchen – und Günther hätte seine erste Straßenbekanntschaft gemacht. –

Fiffi machte auch auf Leo einen ausgezeichneten Eindruck. Zwar schien ihm als Kaufmann Zweck und Notwendigkeit dieser Neuerwerbung nicht einwandsfrei erwiesen. Doch irgend etwas in ihm sträubte sich dagegen, diesen Zuwachs seines Hauspersonals zahlenmäßig zu werten.

Es war dasselbe Gefühl, das ihn bei der Lösung der Etikettenfrage leitete. Denn Fiffi ließ sich schwer in das Hauspersonal einreihen. Sie behauptete, höhere Töchterschulbildung zu besitzen und zur Erweiterung ihrer französischen Kenntnisse längere Zeit in Paris gewesen zu sein.

Beiden Raffkes fehlte die Fähigkeit zur Nachprüfung. Französische Seifen und Parfüms und ein Dorinlappen, mit dem sie sich alle halbe Stunde leidenschaftlich die Nägel polierte, waren keine stichhaltigen Beweise. Und daß sie zu Cäcilie nie anders als Madame, statt danke merci und zu Günther, wenn sie gutgelaunt war, Chéri sagte – nun ja, all' das sprach für die Richtigkeit ihrer Angaben; schließlich aber waren das Dinge, die man sich auch ohne Spezialstudien in Paris aneignen konnte.

Jedenfalls: Dienstpersonal im üblichen Sinne war Fiffi nicht. Man konnte sie nicht an die Leutetafel setzen; und sie in ihrem Spreewälderkostüm mit dem Charakter einer Gouvernante oder Hausdame zu den herrschaftlichen Mahlzeiten heranzuziehen, war gleichfalls unmöglich.

Auch Franz, der sonst stets Rat wußte, fand keine andere Lösung als: selbständige Haushaltung. – Fiffi bekam im Seitenflügel der Villa ihre eigenen Räume, aß auf ihrem Zimmer, und ihre Lebensführung glich der eines kostbaren Vollbluts. Sie wurde von der Dienerschaft abgewartet und verwöhnt. Früh am Morgen wurde sie von der Zofe frisiert und machte Toilette. Dann wurde sie von Emma abgeholt, vor Günthers Wagen gespannt und zwei Stunden im Freien bewegt. Nachmittags, wenn Besuch kam, fanden Besichtigungen satt, die sie von Gerson her gewöhnt war. Und dann erschien bei gutem Wetter Emma noch einmal, um sie zu einem zweiten Spaziergang zu holen. Von sieben ab aber war sie sich selbst überlassen und war freie Herrin ihrer Zeit.

Fiffi bedeutete für Emma eine Entlastung. Die Beziehungen zwischen ihr und Emma waren mithin normale.

Auf die bei den Spazierfahrten immer wiederkehrende Frage, die man, mehr um mit Fiffi anzuknüpfen als aus Interesse für den Jungen, stellte:

»Wer ist denn dies reizende Kind?« antwortete Fiffi:

»Günther Raffke,« und Emma fügte regelmäßig hinzu:

»In Firma Raffke & Cie., Konserven engros.«

Und es dauerte gar nicht lange, da war »das Konservenkind« das populärste aller Tiergartenkinder.

Günther selbst verhielt sich allen Liebesbezeugungen und Auszeichnungen gegenüber passiv. Er empfand es höchst störend, wenn Unbekannte sich zu ihm hinabbeugten, mit ihren Händen auf seiner Decke entlang fuhren, die Mäuler spitzten und ihm die dümmsten Koselaute ins Gesicht pruschten.

Er riß die blauen Augen weit auf und dachte:

»Seid ihr verrückt? oder was wollt ihr?«

Daß man ihm die kurze Zeit, die er wach lag, keine Ruhe gönnte, verdroß ihn, zumal er von dem dummen Zeug, das man ihm erzählte, kein Wort verstand. Nur, was das ewig wiederkehrende: »Na, so lach' doch mal!« zu bedeuten hatte, wußte er. Denn als zwei Tanten ihn eines Tages stundenlang mit diesem »na, so lach' doch mal« gepeinigt hatten, und er für diese Quälereien nur einen verächtlichen Blick übrig hatte, sah er plötzlich in einem Spiegel, wie Fiffi sich mit einem runden Gegenstand das Gesicht betupfte und ganz weiß auf den Backen wurde. Das fand er komisch und mußte lachen. Im selben Augenblick riefen die Tanten strahlend:

»Na also!«

Von da ab wußte er, was dies ewige »na, so lach' doch mal!« zu bedeuten hatte. Und Günthers erster Schritt, den er bewußt tat, war die Opposition. Denn von dieser Stunde ab waren alle Versuche, ihn auf diese Weise zum Lachen zu bringen, vergeblich. Außer Emma langweilten ihn alle. Kam sie aber in seine Nähe, so streckte er die kleinen Arme nach ihr aus.

Fiffi erkannte er am Geruch. Und wenn er dann mit dem Näschen instinktiv »seinen Hochzieher« machte, wie Emma sich ausdrückte, der sich so ähnlich, wie Hif – hif – hif,« anhörte, dann war es für Cäcilie ganz deutlich, daß er Fiffi rief.

Und, um dies Wunder zu zeigen, mußte sich Fiffi, so oft Besuch kam – an manchen Tagen mehr als ein dutzendmal – über seine Wiege beugen.

Hatte er 'mal eine unruhige Nacht und war er daher tagsüber besonders ruhebedürftig, so wußte er schon im voraus, daß die bösen Menschen ihn heut' doppelt quälen würden.

In solchen Fällen sehnte Günther das Ende des Tages herbei und streckte Emma, wenn sie des Abends zum Waschen kam, mit doppelter Bereitwilligkeit die kleinen Ärmchen entgegen. Cäcilie begriff er gar nicht. – Daß sie ihm mit ihrem Munde unaufhörlich im Gesicht herumfuhr, ließ er sich gefallen, weil er dachte, das gehöre zu den Dingen, die, wie das Bürsten, Waschen und Kämmen, sein müssen. Daß sie aber, so oft er einen Laut von sich gab, wobei er sich gar nichts dachte, in Begeisterung geriet, vor Freude aufschrie, ihn in die Höhe riß und an sich drückte, verstand er nicht. So lag er denn nie ruhiger, als wenn Cäcilie vor ihm stand.

»Du kannst mir glauben,« sagte sie zu Leo, »der Junge denkt.«

Leo, der ihm alle Tage neue Spielsachen aufs Bett baute, mochte er gar nicht. Leo hatte die Angewohnheit, ihm mit zwei Fingern auf den Bauch zu stuken und dabei zu sagen:

»Wie macht die Kuh? – Muh! Muh!«

So kam es, daß Günther, der gar nicht wußte, was eine Kuh war, die Begriffe verwechselte, Leo für eine Kuh hielt und, wenn er gerade bei Laune war, »muh, muh!« sagte, sobald Leo sich über sein Bettchen beugte. Da daraufhin aber regelmäßig ein Jubel losbrach, der ihm weh tat, so gab er auch das bald auf.

Am wenigsten konnte es Günther leiden, wenn er des Nachmittags nach vorn gebracht und von Arm zu Arm gereicht wurde. Daß es sich dabei um Cäciliens Teegesellschaften handelte, wußte er natürlich nicht. Aber etwas anderes hatte er bemerkt: Einmal, als es ihn dabei überkam, war so eine Tante, die ihn gerade im Arm hielt und »kille kille« mit ihm machte – was er, da er kitzlich war, auf den Tod nicht leiden konnte – aufgesprungen, hatte entsetzt aufgeschrien und ihn Fiffi wieder in den Arm gelegt. Und danach war er nicht weitergereicht, sondern in sein Zimmer getragen worden. Das wiederholte sich ein zweites und ein drittes Mal. Und schließlich empfand er so etwas wie einen Zusammenhang zwischen dem »Überkommen«, dem Aufschrei, der Rückkehr in Fiffis Arme, dem Hinausgetragenwerden und der Rückkehr in sein Bett, in dem er endlich Ruhe hatte.

Und so entwickelte sich in ihm der Wille. Er dachte schon von dem Augenblick an, in dem man ihn nach vorn trug, an nichts anderes. Und oft machte sich seine Willensäußerung schon fühlbar, wenn Cäcilie ihn vor den entzückten Augen ihrer Gäste der Amme Fiffi aus dem Arm nahm. Die Vorstellung mußte dann vorzeitig abgebrochen werden.

Cäcilie war außer sich. Sie wandte sich besorgt an den Sanitätsrat und war sofort für Hinzuziehung eines Spezialisten. Aber der Arzt sah in Günthers Verhalten keinen Grund zur Besorgnis. –

Günther wurde nicht mehr herumgereicht und bereitete damit Cäcilie die erste Enttäuschung. –

Während so Günther schon in seinem ersten Lebensjahre viel auszustehen hatte, lebte Frida bei Linkes ein ruhiges Leben. Sie wurde von Emma pünktlich und gewissenhaft besorgt, in die Luft gefahren, von Paul geschaukelt, durch die Stube gefahren und von keinem Menschen sonst belästigt.

Kein Zweifel, daß Frida von den beiden Kindern das glücklichere war.

 


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