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Das Ghettobuch
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Von David Rothblum

Lose Blätter.

Sünden.

Es war ein lachender Frühlingstag voller Sonnenschein, als der kleine Mendel mit seinem greisen Lehrer außerhalb der Stadt spazieren ging. Sie waren einander auf den Gräbern des alten Friedhofs begegnet, wo die Juden am Lag B'oomer unter freiem Himmel die Psalmen beten. Und da die Hitze gar so drückend und der Tag schließlich doch ein Feiertag war, lud der Alte seinen Lieblingsschüler, von dem er noch Großes erwartete, zu einem Spaziergange ein.

»Wie es doch betrübend ist,« begann der Lehrer, gleichsam seine Gedanken vom Friedhof aus fortspinnend, »wie unendlich betrübend, daß wir in unserem verwaisten, unglücklichen Zeitalter nicht einen einzigen Mann besitzen, der jenen gliche, an deren Gräbern wir eben vorbeigeschritten sind. Das ist die größte Gottesstrafe, die uns trifft.« Der Greis seufzte aufrichtig und tief; der dreizehnjährige Knabe nickte verständnisvoll mit dem Kopfe.

»Denkt man einen Mann zum Beispiel, wie es der heilige R'mo war,« setzte der Alte seine Rede fort, »so ist es nicht zu fassen, was dieser Geistesriese gewußt, gekonnt und geschrieben hat. Wir sinken heute in ein Nichts zusammen, alle miteinander, im Vergleiche zu diesem einzigen Manne. Und doch lebt unser Volk in der steten Hoffnung, daß vielleicht doch einer unserer Nachkommen jene Männer erreiche ...«

»Ist es wahr,« fiel ihm der Knabe in die Rede, »daß der Baum am Grabe des R'mo von sich selbst zu sprießen begann am selben Tage, an dem man den R'mo in die Erde senkte?«

»Unsere Eltern erzählten es, und die sprachen immer die Wahrheit, solche Wunder pflegten früher öfter zu geschehen. Jetzt freilich, wo die Welt im Körperlichen bis über die Ohren steckt, geschehen keine Wunder mehr. Das ist ja der Unterschied der Zeiten. Heute geht alles seinem Nutzen nach, es wird sogar des Nutzens wegen Thora gelernt. Und das ist doch die größte Sünde ...«

Sie gelangten während ihres Gespräches an den Saum eines Fichtenwaldes. Die Bäume strömten einen kühlen, würzigen Duft aus, der die Sinne bestrickte. Aus dem Waldesdunkel vernahm man eignes Gesumme, leise und doch vernehmbar, ein Sich-Regen des erwachenden Lebens, Ein unsichtbarer Vogel ließ in kurzen Zeiträumen langgezogene, lockende Töne unendlich sehnsuchtsvoll erschallen.

Die beiden Spaziergänger ließen sich auf dem Rasen nieder. Der Greis begann den Wochenabschnitt zu erklären. Er vertiefte sich in Talmud und Midrasch, interpretierte dunkle Stellen, brachte die Aussprüche der Weisen in Verbindung und fand bei seinem Schüler das vollste Verständnis.

Inzwischen sang der Vogel in den Lüften. Die langgezogenen Töne wurden kürzer, inniger, sie erklangen fast wie Seufzer. Dann erstarben sie allmählich – es war, als sänge der Vogel sein eigenes Totenlied. Und wie wenn seine kleine Seele nicht mit einem Male den Körper verlassen könnte, stieß er dünne, klagende Töne aus, die der Wald auffing und wiedergab.

Der Lehrer schien nichts zu hören. Er begann die Materie zu besprechen, die er mit seinen Schülern in der letzten Woche im Talmud durcharbeitete. Da gab es schwere Stellen, fast unüberbrückbare Klüfte, Klippen, an denen der Verstand zu zerschellen drohte. Er aber ruderte mit sicherer Hand über diesen bodenlosen Tiefen. Es vermochten wohl nur wenige ihm zu folgen, doch Mendel war überall dabei. Da ließ der Lehrer mit einem inneren Wohlgefallen sein Auge auf ihm ruhen. Er dachte sich immer dabei: Das ist der zukünftige Mann.

Und während der Greis mit seinem Schüler diskutierte, begann der Vogel plötzlich von neuem sein Lied. Es war diesmal ein Jubelgesang, ein Lied der Auferstehung. Mächtig erscholl die Weise, herrlich in ihrer Art. Es war ja nur eine einzige winzige Kehle, und doch ertönte es wie von einem Chor. Es waren Töne, voll, laut und frohlockend, Jubelgesänge, die sich überstürzten, in rasendem Tempo gesungen, so daß es kaum dem Walde gelang, sie zum Widerhall zu bringen ...

Und während der Greis unbekümmert weiter sprach, huschte der Vogel aus dem Walde ...

»Da ist er!« schrie plötzlich der Knabe auf. »Da ist er!« Und mit einem Satze sprang er auf und lief dem Vogel nach ...

Der Greis blieb wie versteinert auf seinem Platze. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Tiefbeschämt kehrte der Knabe zurück. Sein Leib zitterte vor Erregung.

Die große Sünde kam ihm zum Bewußtsein.

Und der Lehrer erhob sich vom Rasen und sprach kalt die Worte der Weisen:

»Wer das Thorastudium unterbricht, sprechend: Wie schön ist dieser Baum, wie schön ist dieses Feld! der kommt um sein Seelenheil.«

Der Knabe begann bitterlich zu weinen. Und als er auf seinen Lehrer sah, da kam es ihm vor, daß sein Haupthaar weiß wurde wie Schnee ...

Der Vogel aber begann sein Lied von neuem...

Geschichte.

In einem mit größtem Komfort ausgestatteten Gemach saß auf dem weichgepolsterten Diwan ein polnischer Graf. Neben ihm am Fenster stand, den Daumen der linken Hand im Gürtel, ruhig wie eine Statue ein polnischer Jude.

»Eine solche Ungeheuerlichkeit ist noch nicht dagewesen, sage ich dir, ganz einfach noch nicht dagewesen!« begann wieder der Graf.

Der Jude schwieg.

»Etwas ganz anderes ist es ja, wenn ein gewöhnlicher Mensch seine Menschenpflicht verkennt. Und wieder etwas ganz anderes ist es, wenn man gegen einen einzelnen Menschen barbarisch verfährt. Aber ein Kaiser! Dem man mit größtem Übereifer jeden halbgeäußerten Wunsch erfüllt, dessen Wort ein Gebot, dessen Wille ein Befehl ist! Und gegen ein ganzes Volk ...«

Der Graf erhob sich ungestüm von seinem Platze. Der Jude schwieg.

»Und so redet ein Germane, der auf die Kultur seines Volkes pocht! Da ruft er seine Krieger zusammen und hetzt sie gegen eine machtlose Nation, er, der Mächtige, gegen ein unglückliches Volk, dessen Verbrechen darin besteht, daß es seine nationale Eigenschaft bewahren, seine idealen Güter beschützen, seine Sprache pflegen und seinem Gotte dienen will ...«

»Nun ja«, sagte endlich der Jude.

»Aber unser Blut, das wir für ihn und seine Dynastie bei jeder Gelegenheit vergossen, war ihm gut genug! In Zeiten der Not, da waren wir seine und seiner Väter Freunde. Jetzt sind wir die Übermütigen, die mit einem Stoße vom Erdboden zu vertilgen sind! Was?« Der Graf stellte sich vor seinen Juden und sah ihm empört ins Gesicht.

»Es wundert mich nur, daß du dich darüber so aufhältst,« begann der Jude, der den Grafen mit »du« anzusprechen pflegte, wenn außer beiden sonst niemand zugegen war. »Wie oft sagte ich dir, daß es kein Ungefähr im Leben gibt. Und jedes Weshalb hat sein Deshalb. Und es gibt keine Ernte ohne Saat.«

»Wie meinst du das?«

»Wir hatten einen Weisen, und dieser sah einmal, als er am Ufer eines Flusses einherschritt, einen Menschenkopf auf den Wellen treiben. Da sprach er mit lauter Stimme: Weil du ersäuft hast, bist du ersoffen, und die dich ersäufet, werden ersaufen ...«

»Oh, du bist diesmal auf einer falschen Fährte! Ich weiß ja, worauf du hinaus willst«, antwortete der Graf. »Wer hat die Juden mit größter Gastfreundlichkeit empfangen, als sie in Spanien gebraten und gebrannt, in Deutschland gemordet und geschlachtet wurden! Wer hat ihnen Rechte gegeben, als sie allerorten für vogelfrei erklärt wurden?«

»Ich meinte ja nur,« sagte der Jude, »daß du keinen Grund zu jammern hast, da es doch schließlich der Anfang ist. Wenn er sein Volk gegen euch zusammenruft, dann achtet und fürchtet er euch. Ihr werdet Zeit und Grund zu jammern haben, wenn es so weit kommt, daß er euch ...«

»Daß er uns – ?« fragte der Graf gespannt.

»Daß er euch wird – Mah-Jufith»Mah-Jufith« ist der Titel eines Sabbat-Tischgesanges. Polens Adelige pflegten die von ihnen abhängigen Juden zu zwingen, dieses Gebet nach der traditionellen Melodie ihren Gästen vorzusingen. singen lassen«, schloß der Jude kühl.

»Was sagst du, Jude!«

»Nu, ich meine, daß er für die Erlaubnis, in seinem Lande atmen zu dürfen, euch wird Mah-Jufith singen lassen ...«

Der Pole erschauerte. Der Jude verließ langsamen Schrittes das Zimmer.

Und der Graf setzte sich abermals auf den Diwan und ließ den Kopf auf die Handfläche sinken. Und er dachte lange, lange nach. Und als die letzten Sonnenstrahlen wie blutige Streifen an den Tapeten erglänzten, da hatte er die Überzeugung, daß es zwei Methoden gibt, eine Nation zu unterdrücken, und daß an den Juden die schlimmere erprobt wurde. Und er wußte noch mehr ...

Jeruscholajim.

Er wohnte auf den Höhen der Tatra und war Besitzer einer Dorfschenke. Zehn Meilen in der Runde fand man keinen zweiten Juden.

Er verließ die Berge nur dreimal im Jahre, am Pessach, Schewuoth und Sukoth. Da ging er zu Fuß zu seinem Rabbi nach Sandec.

Sonst sah er durch das ganze Jahr keinen Juden. Wer hätte sich auch dorthin verirrt, so hoch hinauf, wo der Enzian blüht ...

Was er von seinem Judentume wußte...? Nicht viel. Die Gebräuche waren ihm fremd. Außer der Waldschenke hatte er von seinem Vater die Kenntnis der jüdischen Gebete geerbt, und auch da war ihm nicht alles geläufig ...

Aber eines wußte er, und das wußte er gut. Er wußte, daß sein Volk einmal ein Königreich hatte und die Hauptstadt dieses Königreiches war Jeruscholajim ...

Und daß sein Großvater und sein Vater in den Nächten von ihren Lagern aufstanden und beim trüben Lichte einer Kerze Gebete aufsteigen ließen, heiße, sehnsuchtinnige Gebete um Wiedererbauung der verwüsteten Stadt ... um die Erlösung von Jeruscholajim ...

In häßlichen Nächten, wo tausend böse Geister ihren Jammertanz in den Lüften ausführten, der Sturm seufzend um Einlaß bat und die Föhren aneinander gerieten ... da saßen sie am Fenster, gebeugt, aufgelöst und Tränen in Strömen vergießend um Jeruscholajim ...

Und wenn in winterlichen Nächten die Bäume vor Frost erstarben, die Tiere des Waldes ihren Schmerzensruf ertönen ließen und die Hüttentür sich mit Weiß bedeckte ... da sah er sie beide auf niedrigen Schemeln sitzen, wie die Leidtragenden, die einen Toten beweinen, und tropfenweise fiel es ihnen aus den Augen, und hier und da vernahm er unter den fremden Worten das einzige, das er schon in seiner Wiege verstand ... Jerusckolajim ...

Und wenn in Frühlingszeiten die Bäche erwachten und der Wind ihr Gemurmel an sein Bettchen brachte ... wenn im Sommer die Tage nie zur Ganze erblaßten, die Nächte nur wie eine Dämmerung auf den Bergen lagen ... da saßen sie beide, noch lag die Lerche im Schlafe, und beteten Chazoth»Chazoth« heißt Mitternacht. So heißen auch die Gebete, die von den frommen Juden um die Mitternachtstunde verrichtet werden. Sie enthalten größtenteils Klagen um Jerusalem und Bitten um baldige Befreiung aus dem Exil. für die gottvergessene Stadt, für das sündige, zertretene, ewig unvergeßliche Jeruscholajim ...

Und als der Alte starb, da saß sein Vater allein ...

Und dann weckte er auch ihn zu Chazoth.

Und nach dem Tode seines Vaters saß er allein zu Chazoth.

Da erfuhr er eines Tages etwas Gewaltiges, etwas Unfaßbares ... Da saß der Rabbi unter seinen Treuen und sprach ... Man stand dichtgedrängt, um alles zu hören, um kein Wort zu verlieren ... auch er horchte andächtig ... da sagte der Rabbi deutlich: »Solange Jeruscholajim trauert, ist auch die Gottheit in Trauer ... solange die Juden im Golus sind, ist auch die Schechinah im Golus ... Und der Golus kann nur durch die Erlösung Jeruscholajims beendigt werden ... deshalb muß jeder Jude trachten, Jeruscholajim zu erlösen ...« und dann schluchzte der Rabbi ...

Und es schluchzte mit ihm die andächtige Gemeinde ...

Und als er keuchend die Bergabhänge hinaufklomm, um in seine Hütte zu gelangen, da kam ihm die schwere Last zum Bewußtsein, die der Jude auf sich trägt ...

Die der Jude seit undenklicher Zeit trägt, seitdem es dem König aller Könige gefiel, seine Residenz zu verderben und mit seinem Volke in die Gefangenschaft zu ziehen ...

Die Last, die seine Ahnen getragen, die er seinen Großvater und seinen Vater tragen sah in den Nächten ...

Die Last des einzelnen für das ganze Volk.

Und er wollte diese Last mit Liebe tragen und mit Geduld, mit Hinopferung und Frömmigkeit ... Und die Sterne können es bezeugen, daß er es getan; denn sie sahen ihn auf der Erde sitzen und schluchzen.

Und auch die Winde können es bezeugen, die seine Seufzer bis zum Jordan trugen ... Und auch die Tiere des Waldes ...

Als er sterben wollte, standen zu beiden Seiten seines Lagers sein Weib und sein Sohn.

Er drückte die Hand seines Erben ... dieser erwiderte, und sie haben sich verstanden ...

Und er fiel zurück röchelnd:

Jeruscholajim ...

Das Herz hörte auf zu schlagen. Auf den Lippen aber zitterte es nach:

Jeruscholajim ...


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