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Das Ghettobuch
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David Pinksi

Der Erdgeist.

Es war vor vielen Jahren einmal!

Damals schien auch der Mond – vielleicht reiner in unserer Zeit, weil ihn die Menschen mit reineren Augen betrachteten ... Still schwamm er am klaren Himmel und alle Sternlein lächelten und grüßten ihn mit ihren sanften Strahlen.

Auf der Erde war eine warme, duftende Frühlingsnacht, eine Nacht voll Leben, Lust und Liebe ... Man atmete frei, und in der Luft lag ein Sehnen; ein Sehnen nach Leben, Lust und Liebe ...

Auf einem Hügel, hinter dem Städtchen, stand der Erdgeist, hob die Arme über dem Kopf und streckte sie weit von sich. Sein Herz schlug heftig und die Brust war ihm beengt. Er rang nach Atem, sein Körper zuckte und krümmte sich und er bettelte um Leben, Lust und Liebe ...

Aber die Juden im Städtchen merkten nichts von all dem. Für sie existierte die Außenwelt nicht, denn es war in der Schewues-Nacht. Die Männer sagten daheim oder im Bethause den Tikin her, während die Frauen mit Backen beschäftigt waren, damit die Männer nach der durchwachten Nacht frische, warme Plätzchen vorgesetzt bekämen ...

Den Männern und den Frauen war schrecklich heiß, aber sie blieben bei ihren Verrichtungen und kämpften gegen den Schlaf. Sie wußten, daß der Erdgeist ihnen den Schlaf schickt und waren sicher, daß sie ihn besiegen werden ...

Aus den offnen Fenstern drangen die singenden Stimmen der Tikinbeter auf die Gasse, bald munter und schnell, bald schläfrig und schleppend, von Zeit zu Zeit hörte man ein lautes Gähnen oder die Stimme einer beschäftigten Frau und die Luft war vom heißen Atem der Erde erfüllt ...

Ein Haustor öffnete sich und ein Jüngling von achtzehn Jahren trat auf die Gasse. Sein Gesicht war bartlos, aber dünne, gekräuselte Pejes reichten ihm bis über die Ohren. Er trug einen langen Rock und hatte einen Samthut auf dem Köpfe. Die Hosen steckten in den Stiefeln und unter dem Arme trug er ein Tikin-Schewues. Zu Hause sagte er, daß er ins Beth-ha-Midrasch gehe, aber er schritt nach einer ganz anderen Richtung hin. Die Lüge bedrückte ihn und seine Augen waren verschämt zu Boden geheftet, aber er schritt kräftig aus.

Bei einer Gartenmauer, in einem engen, stillen Gäßchen hielt er inne, sah sich erst nach allen Seiten um und klopfte an die Mauer ...

Sie hat im Garten gewartet. Es war ein Mädchen in weißem Kleide von sechzehn Jahren. Sie stand unter einem Kirschbaum und blickte durch eine Spalte ins Gäßchen. Sie erkannte seinen Schatten und seine Schritte und ihr Herz fing lauter zu schlagen an. Sie drückte sich fest an die wand, damit ihr keine Bewegung von ihm verloren gehe. Auf ihren Lippen lag ein breites, glückliches Lächeln und sie hatte Lust, laut aufzulachen, von Herzen, vor Glück und Liebe zu lachen ...

Sie näherte sich der Stelle, wo er stehengeblieben war und rief: »Hier bin ich, Meierl!«

Im Nu überwand er alle Scheu.

»Chanele«, rief er voll Entzücken und kletterte über die Mauer in den Garten.

Chanele lachte laut. Sie hätte am liebsten vor Freude aufgeschrien, aber sie hielt ihre weiße Hand vor den Mund und kicherte in sich hinein.

Die Anstrengung und die ungewöhnliche Zusammenkunft machten ihn verlegen. Er klopfte den Staub von seinen Feitertagskleidern und fühlte sich sehr glücklich.

Sie stürzte sich auf ihn, umarmte ihn und lehnte ihren Kopf an seine Brust.

»Oh, oh, oh«, stieß sie hervor und drückte sich noch fester an ihn. Dann zog sie seinen Kopf zu sich und küßte ihn auf den Mund. Er lachte und war glücklich, aber immer noch verlegen.

»Schau, Meierl,« sagte sie, »dort unten neben dem Apfelbaum habe ich ein Plätzchen zum Sitzen hergerichtet. Der Mond wirft seine Strahlen dorthin und wir werden den ganzen Himmel sehen können. Ein so süßer Duft ist dort und wir werden ruhig sitzen und warten.«

Sie nahm seinen Arm und führte ihn zum Apfelbaum. Fester drückte sie sich an ihn und er fühlte, wie ihr Körper zitterte.

Er nahm das Buch in die linke Hand und umarmte sie. Er wollte sie heftig küssen, aber er schämte sich vor dem Tikin und berührte ihren Mund nur schüchtern mit seinen Lippen ...

Doch Chanele verstand ihn, und es fiel ihr ein, daß sie zu ausgelassen war, – gar nicht so, wie es sich für ein junges Mädchen geziemt.

»Siehst du«, begann sie mit ernster Stimme. »Von hier werden wir sehen, wenn der Himmel sich öffnet,Einer uralten jüdischen Sage nach spaltet sich in der Schewues-Nacht der Himmel, ein in diesem Augenblick gehegter Wunsch geht in Erfüllung. so frei und offen liegt der Himmel vor uns ... Hier schläft gewöhnlich der Großvater und ich schlafe dort hinter den Stachelbeerbüschen ... Es wird hier gut zu sitzen sein ... Such' dir ein Plätzchen aus! Hier liegt mein Bettzeug. Oder darfst du auf dem Kissen eines Mädchens nicht sitzen ...? Aber auf meinem darfst du, denn es wird doch auch bald deines sein, nicht?«

Chanele war ein wenig befangen, aber mit Inbrunst wünschte sie, daß er sich auf ihr Polster niederlasse ... Nacht für Nacht würde sie es an sich drücken und mit heißen Küssen bedecken ...

Verlegen lächelnd blickte Meierl auf den Tikin in seiner Hand. Eine unbestimmte Angst überkam ihn und er fragte sich, ob es nicht besser wäre, jetzt im Bethause zu sitzen, aber dann schämte er sich dieses Gedankens und verspürte gar keine Lust, fortzugehen.

Sie setzten sich, er auf ihre Polster und sie auf die Polster des Großvaters.

»Ist es nicht schön hier?« fragte Chanele. »Sieh' nur, wie schön der Himmel heute ist! Sag', Meierl, blicken die Sterne nickt auf uns herab? Jener helle Stern dort links vom Mond sieht mir direkt ins Auge. Heute ist nur Halbmond und ich liebe den Vollmond so sehr. Ist es nicht wie ein Frauenantlitz? Wahrhaftig, ein Frauenantlitz? warum schweigst du, Meierl ...?

Sie wollte seinen Kopf in ihren Schoß legen, aber sie bemerkte den Tikin in seiner Hand und wagte es nickt.

»Gib mir das Buch. Ich habe einen guten Platz dafür«, sagte sie und legte den Tikin-Schewues auf einen Stachelbeerstrauch. Da er das Buch aber von dort sehen konnte, nahm sie es weg und legte es etwas weiter hin. Es fiel ihr ein, daß sie das heilige Buch beleidigt haben könnte und sie küßte es andächtig. Dann kehrte sie zum Apfelbaum zurück und tat so, als ob ihr der Gedanke, seinen Kopf in ihren Schoß zu legen, ganz entfallen wäre.

Meierl war froh, daß sie ihm das Buch abgenommen hatte, aber jetzt fürchtete er sich, so ohne »Zeugen« mit ihr allein zu sein. Ernst sah er zum Himmel auf und fragte sich, ob er nach dem Orte, wohin sie das heilige Buch gelegt, sehen soll.

Chaneles Gesicht strahlte. Mit einem Sprung saß sie auf den Polstern, legte den Kopf Meierls in ihren Schoß und drückte ihn fest, fest ...

Er erschrak. Er wollte ihr sagen, daß man das nicht tun dürfe, daß es sich nicht schicke. Er machte eine Bewegung, aber Chanele drückte ihn noch fester an sich, neigte sich zu ihm herab und küßte ihn auf den Mund.

»Oh, der Himmel hat sich aufgetan«, rief sie aus.

Sie legte ihre Hand auf seinen Mund, damit er nicht schelte, lehnte sich an den Baum und sagte mit ernster Miene:

»So, jetzt wollen wir ruhig auf den Himmel blicken.«

Meiert küßte ihre Hand und beruhigte sich mit dem Gedanken, daß sie ihn festhalte und jeder Versuch, sich ihr zu entwinden, nutzlos wäre ... Chanele neigte sich oft zu ihm und küßte ihn.

»So werden wir ja nicht sehen können«, sagte er.

Chanele konnte aber nicht ruhig sitzen. Eine unendliche Zärtlichkeit stieg in ihr auf. Sie wollte ihn immer nur küssen und vor Freude laut aufschreien. Nach einer Weile rief sie:

»Meierl!«

»Was?«

»Wann werden wir unsere Hochzeit feiern?«

»In vier Monaten.«

»Wieso?«

»Siwan, Tamus, Aw, Ellul und zwei Wochen in Tischri.«

»Der wievielte Tag in Siwan ist heute?«

»Weißt du nicht, wann Schewues fällt?«

»Wann?«

»Sechs Tage in Giwan.«

»Also noch vier Monate und eine Woche.«

»Ja.«

Eine Weile war es still. Dann sagte Chanele bittend:

»Diese eine Woche wollen wir nicht zählen. Eine Woche vergeht doch so schnell.«

»Hm. Eine Woche ist eine Woche«, antwortete er.

Chanele seufzte und sah betrübt zum Mond auf. Dann sagte sie tieftraurig:

»Noch mehr als vier Monate.«

Doch gleich darauf fuhr sie etwas heiterer fort:

»Aber dann werden wir immer beisammen sein. Stets, stets, stets. Nicht wahr, Meierl!«

Und still ward es, so still, als könnte man das sanfte Schweben des Mondes hören. Die Blütenknospen waren straff und dick dem Aufspringen nahe. Die Luft war erfüllt vom süß-sauren Duft der Apfelbäume und dem Geruch der Kirschblüten, der an bittere Mandeln erinnerte ...

Die beiden hörten ihre Pulse hämmern und sie fühlten sich so glücklich und frei und doch so tieftraurig, voll Sehnsucht nach etwas Unbewußtem und Unerfülltem ...

Chanele unterbrach die Stille:

»Meierl!«

»Was, Chanele?«

»Tut es dir nicht leid, daß du gekommen bist?«

»Aber Närrchen!«

»War es gut von mir, das ich dich gebeten habe zu kommen?«

Er drückte seinen Kopf fester an sie.

»Wir werden die Gelegenheit nicht sobald wieder haben«, fuhr sie fort. »Morgen und den ganzen Sommer wird der Großvater wieder hier schlafen ... Ach, ist das eine schöne Nacht, nicht, Meierl?«

»Während du sprichst, Chanele, kann sich der Himmel auftun und wir werden versäumen, uns etwas zu wünschen.«

»Gut, ich werde still sein. Aber, nicht wahr, es ist schön heute? Sag!«

Sie küßte ihn und blickte mit lächelndem Gesicht zum Himmel auf, aber nach einer Weile rief sie wieder:

»Meierl!«

»Was?«

»Sag' mir die Wahrheit.«

»Worüber?«

»Du glaubst.«

»Woran?«

»Daß sich der Himmel spalten wird.«

»Was denn? Aber natürlich.«

Er sprach es nicht mit vollster Überzeugung aus. Chanele lachte und fragte weiter:

»Hast du es irgendwo gelesen?«

»Nein, es kommt nirgends vor, aber man sagt ...«

Chanele lachte noch mehr.

»Mir scheint, du glaubst gar nicht daran«, sagte sie.

»Weiß ich? Man spricht so. Eigentlich dürfen wir Juden an Zeichen nicht glauben ...«

»Wenn du nicht glaubst, warum bist du denn hier!«

»Ich dachte, daß du glaubst.« – Und mit weicher Stimme fügte er hinzu: »Ich wollte mit dir zusammen sein, Chanele. Verstehst ...«

Sie sah ihn mit großen Augen an. Dann nahm sie seinen Kopf in beide Hände und sagte lächelnd:

»Du Lump! Und wann wirst du den Tikin sagen?«

»Mehr als die Hälfte habe ich am Tage bereits gesagt ..«

»Du Schwindler!«

»Wirklich, so wahr ich ein Jude bin ...«

»Und wann wirst du die zweite Hälfte sagen ...?«

»Oh, das ist bald erledigt«, sagte er mit Selbstbewußtsein. »Ich bete sehr schnell. Ich habe vorgestern mit einem Freund gewettet, daß ich mit dem Morgengebet früher als er fertig werde und er hat volle zehn Minuten mehr gebraucht als ich ...«

Lächelnd sahen sie einander an.

»Ich will jetzt schlafen«, sagte er im Spaß und schloß die Augen.

Und Chanele sprach zu ihm, wie zu einem Kinde:

»Schlaf nur, schlaf! Ich werde dir ein Geschichtchen erzählen: Es war einmal ein weißes Zicklein – ein schwarzes Bärchen und eine rote Kuh ... Meierl ist ein Narr ... Kitsch, kitsch, kitsch ...« Sie kitzelte ihn am Halse, daß er lachen mußte.

Dann erzählte sie ihm eine Geschichte nach der andern: von einem Rabbi und seiner Frau, von einem Königssohn und einer Prinzessin ... Bei sich dachte sie aber, daß noch über vier Monate bis zur Hochzeit sind, vier Monate und eine Woche ... Aber dann werden sie immer zusammenbleiben. Sie werden beim Großvater wohnen und sie wird stets Meierls Kopf in ihren Schoß legen; hier im Garten und in der Stube drinnen ... wie schön wird sich die Stube ausnehmen, die Wände werden weiß und golden gestreift sein ... Ein Glücksempfinden durchströmte sie und eine unendliche Sehnsucht ...

Plötzlich hielt sie im Erzählen inne. Meierl war eingeschlafen und die Mondstrahlen ruhten auf seinem reinen, weißen Gesicht. Es war wie das Gesicht des Prinzen aus dem Märchen ... Chanele fühlte sich von der Gegenwart entrückt ...

Meierl öffnete die Augen und lachte. Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie fühlte sich jetzt so müde. Ihre Hände und Füße zitterten.

Erschrocken sprang er plötzlich auf und rief: »Der Morgen graut schon.« Und er begann hinter den Büschen seinen Tikin-Schewues zu suchen.

Chanele reichte ihm das Buch und umarmte ihn. Vorsichtig blickte er durch die Spalte ins Gäßchen und kletterte dann über die Mauer. »Auf Wiedersehen, Chanele«, sagte er zärtlich und entschwand ihren Blicken.

Chanele stürzte zur Spalte und sah ihm nach. Ihr war so traurig zumute, und nur der eine Gedanke erfüllte sie: »Noch mehr als vier Monate!« Dann ging sie zum Apfelbaum, warf sich auf die Polster und weinte ...

... Die Frauen in der Stadt schliefen schon und die Männer murmelten immer noch müde und verschlafen den Tikin.

Auf dem Hügel hinter dem Städtchen stand der blasse Erdgeist und sah dem kommenden Morgen entgegen. Er hob die Arme über den Kopf und streckte sie weit von sich. Sein Herz schlug kaum und die Brust war ihm beengt. Er rang nach Atem und sein Körper zuckte ganz schwach vom Betteln nach Leben, Lust und Liebe ...


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