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Das Ghettobuch
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Jehudah Steinberg

Schimschon der Greis.

Aus dem Hebräischen von Dr. Ernst Müller.

Weder Neumond noch Sabbat ist es heute, – und doch brennen im Hause Schimschons des Alten, große Kerzen in Silberleuchtern, die nicht aus der Lade genommen waren seit jenem Tage, da ihm Zirele, sein Weib, gestorben war. Über den Tisch ist eine weiße Decke gebreitet und über alles etwas wie ein Schatten von Festlichkeit. Seine verheirateten Söhne und Töchter samt seinen Enkeln haben sich bei ihm versammelt, dazu einige Bekannte und Leute, die ihm nahestanden. Nur er allein sitzt einsam an dem Kopf des Tisches, in Sabbatkleidern angetan, und blickt wie in Verwunderung auf seine Umgebung. »Ist es ein Scherz, den diese Menschen treiben!«

Er will den versammelten ins Angesicht schauen, aber er fühlt, wie er sich schämt. Lang ist's her, seit er solch »kindisches« Fühlen gekannt! Bin Greis, der sich schämt! vor Jünglingen! vor Kindern!

Er wendet seine Augen von ihnen und schließt sie von Zeit zu Zeit, damit jene ihn nicht ansehen. Und wie er seine Augen schließt, kommt ihm eine Nacht gleich dieser ins Gedächtnis, aus weiter Vergangenheit her. Damals aber war das etwas ganz anderes. Damals hat seine »Zirele« noch gelebt.

Er war noch ein Knabe, hatte seinen ständigen Aufenthalt in der »Klaus« und kam ins Haus seiner Eltern nur mittags, um zu essen, und nachts, um zu schlafen.

Aber er wußte, daß er einen »Mechutan« und eine »Mechutenet« hatte, die zuweilen in den Wohnort seiner Eltern kamen und ihm Geschenke brachten. Und er verstand, daß er dort, im Hause des »Mechutan« und der »Mechutenet« auch eine Braut haben müsse, – es scheint ihm, daß sie »Zirele« heiße.

Und er erinnert sich, daß er um ihretwillen oft schon einen Kampf der Triebe auszufechten hatte, – weil ihm nämlich Gedanken über sie mitten im Lernen und Gebet den Kopf verwirrten ... Er sitzt zum Beispiel am Freitagabend bis nach Mitternacht in seines Vaters Hause und liest »Schir Haschirim«. »Mit mir, komm, o Braut, vom Libanon«,– sofort denkt er an sie, sieht sie mit allen jenen Merkmalen, die er der Braut aus »Schir Haschirim« gegeben hat.

Oder er sitzt in der sechsten Nacht der Woche wach in der »Klaus«, wie es bei den Jüngern der »Klaus« Brauch ist, wandelt den »Raschi« des Wochenabschnitts durch und ist mit der Wertmessung der Schönheit unserer Stammesmutter Sara beschäftigt. Und sofort stellt sich jene, die Zirele heißt, vor seine Augen hin in der vollen Schönheit der Sara, unserer Stammesmutter.

Und manchmal ging er ganz unschuldig an dem Hause des Dieners vorbei, der neben der »Klaus« wohnte, blickte in das Zimmer hinein und strauchelte an einer Versündigung des Blickes: denn er sah die Tochter des Dieners mit entblößten Armen stehen, die in einem Troge Wäsche wusch. Dann meinte er, daß Zirele an Schönheit der Tochter des Dieners gleichen könnte. Und nachher wieder, als er bei Ephraim, dem greisen Schächter, aus und ein ging, der nach dem Tode seines ersten Weibes ein ganz junges Mädchen zur Frau genommen hatte (und bei ihm lernte er die Kunst des Schächtens), dann stellte er sich – denn auf beide stieß er viele und viele Male – Zirele einmal in der Art der mannbaren Jungfrau vor und ein anderes Mal in der Gestalt der jungen Frau des Schächters.

So kämpfte er immer mit seinen Gedanken und obsiegte dem bösen Trieb. Nur eines beschloß er fest bei sich: wenn er Zirele zum Weibe nehmen wird, dann wird er sie lieben. Und nach der Thora ist es doch erlaubt, sein Weib zu lieben.

Und er erinnerte sich, daß, als er einmal nachts nach Hause kam, sein Vater ihm kund tat, daß seine Hochzeit – so Gott will – am nächsten »Trostsabbat« stattfinden werde.

Er freute sich ausnehmend darüber. Nur schämte er sich vor sich selber und strengte sich an, etwas Trauriges in seine Gedanken zu bekommen, damit man ihm nicht anmerke, wie er sich der Nachricht freut, – doch gelang es ihm nicht. Was ihm nur einfiel, war Spaß und Fröhlichkeit.

Und dann der Sabbat der Vollendung! Und wieder jene Reize, die er nie vergessen wird! Wieviel überschwengliche Wonne und wieviel Sorge und Angst empfand er auf jenem Wege. Er sorgte und ängstigte sich, es könnte am Ende auf dem Wege etwas passieren, um alles zunichte zu machen. Es könnten sie Räuber überfallen, – es könnte ein Unwetter kommen, das sie zur Rückkehr zwingt, – es könnte, – wer weiß es? –am Ende einer der Schwägersleute Reue bekommen.

Und dann, wie er vor dem Schreiten unter den Trauhimmel auf sie blickte, wie es so sein soll, da sah er, daß sie wirklich sehr schön war. Dann unter dem Trauhimmel wurde er plötzlich zum Mittelpunkt aller Blicke, – Greise standen vor ihm auf, – die Reichen der Stadt taten ihm Ehre an!

Das war wirklich des Glückes zu viel! ...

Und dann begann er mit ihr zu leben. Er hielt sein Gelöbnis und liebte sie. Sie war auch ein musterhaftes Weib. Um ihretwillen war er gewürdigt, gottesfürchtige, vollendete Söhne in die Welt zu setzen und Töchter, wert, an Talmudgelehrte vermählt zu werden.

Sein Herz klopfte ihm manchmal: man könnte dafür seinen Lohn im Jenseits verkürzen. Er wußte und fühlte bei sich, daß er in dieser Welt zu viel des Glückes genoß ...

Die Leute redeten ihm nach, daß er ein »Geizhals« sei, weil er nicht, wie es einem richtigen Mann seines Standes ziemt, »Gäste ins Haus nahm«. Wer aber Verborgenes weiß, kennt die Wahrheit, daß er nicht aus Geiz Gäste von seinem Tische fernhielt, nur darum, weil er sich vor ihnen schämte, mit ihr zusammen bei Tische zu sitzen. Und sie den Gästen zuliebe vom Tische zu vertreiben, vermag er gewiß nicht. Wie wird er seinen Sabbat entweihen und allein mit den Gästen zu Tische sitzen! Und sie soll in der Rüche speisen?

Dann aber – der Todestag!

Ach! Er zweifelt, ob jene ganze Wonne gleichkam dem bitteren Schmerze jenes Tages und dem Schmerze der ganzen folgenden Jahre!

Das erste Jahr, erinnerte er sich, war er wie vom Wahnsinn befallen. Er blickte auf seine zwei jungfräulichen Töchter, die ihm geblieben waren, und weinte; er blickte auf sein kleines Mädchen und weinte; er fetzte sich zu Tische und weinte, er ging an der Küche vorbei, warf einen Blick hinein – und weinte; er suchte ein Buch in der Lade, stieß auf Zireles Gebetbuch und weinte. Er weinte das ganze Jahr.

Und dann begannen die Leute hinter ihm zu reden: »Ist es möglich! Ein »Schächter und Aufseher« in Israel, und bleibt ohne Weib?

Und damals stand die Sache in Gefahr: er war fast von der Notwendigkeit gedrängt: »die Würdenträger der Gemeinde gegen den Schächter und Aufseher« – keine Kleinigkeit! Aber jedesmal, wenn es zur Ausführung kommen sollte, empfand er eine Art Ekel. Sein Herz bäumte sich mit aller Macht dagegen. Und er fing an, durch eine Ausrede zu entschlüpfen: »Ich will zuerst meine älteste Tochter verheiraten.«

Und als er sie vermählt hatte, begann er sich mit seiner zweiten Tochter zu entschuldigen.

Inzwischen wuchs auch das kleine Mädchen heran, und er begann vor den Würdenträgern zu klagen und wies mit dem Finger auf das Kind, das schon in seine Jahre gekommen war.

Und als er das »Kind des Alters« vermählt hatte, versprach er seinem Schwiegersohne die Kost an seinem Tische, solange er lebe, in der Absicht, eine neue Ausrede zu haben gegen jene, die über seinen ledigen Zustand redeten.

Indes verjährte sich die Sache; er wurde immer älter, kam in die Jahre des Greisentums und war vor der bitteren Versuchung gerettet. Jedenfalls achtete er nicht mehr dessen, was die Würdenträger über ihn redeten, weil er sich überhaupt nicht mehr mit dem Schächten befaßte.

Er übergab sein Amt dem Schwiegersohne, der an seinem Tische speist. Dieser ist ein rechter »Schächter und Aufseher«, gottesfürchtig, fromm und stellte die Gemeinde zufrieden.

»Was aber wollen diese Narren jetzt?«

»Können sie die Jahre erneuern? Mir sie wiedergeben, sie, Zirele?«

Und er weiß doch, daß nicht jene ihn dazu drängten, sondern er selbst hatte seinen Kindern die Absicht kundgetan, nach Erez Israel zu gehen, und er selbst hatte gestanden, daß er zu diesem Zwecke ein Weib nehmen müsse; denn, die Wahrheit zu sagen, wie kann ein Mann aus Israel, und gar einer, der schon in die Jahre kam, nach Erez Israel gehen ohne Weib?

Er weiß dies alles und kann keine Schuld auf einen anderen lasten. Nur wenn er auf diese närrische Feier blickt, wenn er den Schadchen sieht, den Vorbeter, den Gemeindediener, mit eben dem nämlichen Trauhimmel, unter dem er damals gestanden hatte, – vor vierzig Jahren, – dann faßt ihn ein heftiges verlangen, aufzuspringen, die Lichter auszulöschen, all diese geputzten Gäste – sie einbegriffen – aus dem Hause zu jagen und ihnen nachzuschreien: »Verräter! Was wollt ihr, Kinder, Narren?«

»Was aber wird mit Erez Israel sein!« ...


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