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Das Ghettobuch
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Vorwort.

Hier etwa in einem breiten Vorwort erläutern, was unter Ghettonovellen zu verstehen ist, hieße, dem vorliegenden Bande sein Todesurteil sprechen. Man lese die Geschichten – und man wird es wissen.

Aus der reichen Literatur das Typische und zugleich künstlerisch Wertvolle herausheben und zu einem Bande vereinigen, war meine Aufgabe. Daß eine solche Auswahl naturgemäß nach subjektiven Gesichtspunkten erfolgen mußte, versteht sich. Oft ist mir die Wahl schwer genug geworden. Hermann Blumenthal, der erfolgreiche Romancier, hat sie mir erleichtern helfen. Mit Verständnis und Hingabe hat er mir immer neues Material zugänglich gemacht, mir Übersetzungen geliefert, mir Hinweise gegeben, die oft sehr schwierigen Verbindungen mit Dichtern und Übersetzern hergestellt. Novellen aus dem Jüdischen, bei denen kein Übersetzer genannt ist, hat er ins Deutsche übertragen.

Nun noch ein paar Worte über die Dichter.

Hinsichtlich Zangwills, der längst Weltruhm erlangt hat, erübrigt sich eigentlich jeder Hinweis, wer seine Werke nicht kennt, wird sie nach den beiden Proben, die dies Buch gibt, kennen lernen wollen. Bei Siegfried Cronbach sind sie erschienen und von Dr. Hanns Heinz Ewers ins Deutsche übertragen.»Tragödien des Ghetto«, 2 Bände, 1907. »Träumer des Ghetto«, 2 Bände, 1908. »Komödien des Ghetto«, 1910. Der Dichter hat bei der Herausgabe selbst mitgewirkt, so daß die Ewerssche biographische Skizze, die dem Bande »Träumer des Ghetto« vorangeht und der ich die folgenden Sätze entnehme, als von Zangwill autorisiert gelten kann.

Unter den in allen Ländern wohnenden Juden gibt es heute kaum eine so prominente Persönlichkeit wie die des Engländers Israel Zangwill. 1864 wurde er zu London als Sohn armer russischer Einwanderer geboren. Seine Jugendjahre verbrachte er in Bristol und London, wo er eine jüdische Freischule besuchte. Sein Vater war ein rabbinischer Jude alten Schlages – Zangwill hat ihm in dem »Palästinapilger« ein Denkmal gesetzt –, und der Sohn mag nicht wenig unter dem Zwiespalt des modernen Lebens da draußen und der engen Ghettoatmosphäre zu Hause gelitten haben. Noch heute lebt Zangwills Vater in Jerusalem als einer der alten Leute, die, Gott wohlgefällig, dort ihr Leben beschließen und tagtäglich an der Klagemauer zu sehen sind. Aber der Sohn wuchs in der freien Luft Englands aus dem engen Kaftan heraus, er zeigte früh genug, daß der positive Kampf, nicht das negative Dulden seine Eigenart sei. Er studierte in London Philosophie und errang dort seine akademischen Grade, um dann zuerst als Lehrer tätig zu sein. Doch mußte er diese Tätigkeit bald aufgeben; er versuchte alte Mißstände zu beseitigen und kam dadurch in scharfen Gegensatz zu den Behörden, insbesondere zu Lord Rothschild. Hungernd schlug er sich weiter durch, indem er für alle möglichen Zeitungen Kleinigkeiten schrieb. Seinen ersten großen Erfolg hatte Zangwill mit seiner politischen Satire. Der Roman, der zuerst die Augen weiterer Kreise auf ihn lenkte, war »Die Kinder des Ghetto«. Hier entrollte Zangwill ein Bild, das bis dahin nur sehr wenigen bekannt war: eine östliche, mittelalterliche Welt mitten in dem westlichen modernen London. – Auch sein bestes und reifstes Werk ist dem Ghetto entnommen, freilich nicht dem kleinen Londoner Ghetto von heute, sondern dem großen Ghetto der Jahrhunderte, das bald in Rom, bald in Smyrna, das in Frankfurt, in Berlin, in Venedig, in Paris und Amsterdam seine Heimat hat. Es ist das sein Buch »Träumer des Ghetto«. Hier gibt Zangwill fein empfundene Bilder aller großen Juden seit der Diaspora. Da wird uns der ewige Renegat Uriel Acosta lebendig, da entsteht vor unserem Auge der andere Konvertit Sabbatai Zewi, der jüdische Messias. Moses Mendelsohn tritt vor uns, wir hören von dem strengen Schwärmer Spinoza und von Heinrich Heine in seiner Matratzengruft. Lassalle, Disraeli und vielen anderen Juden hat Zangwill hier ein Denkmal gesetzt. Immer versucht er dem Rein-Menschlichen der großen Männer nahe zu kommen und mit seinem Verständnis spürt er in ihnen stets dem Spezifisch-Jüdischen nach, aus dem heraus er sie erklärt und poetisch verklärt.

Kein Wunder, daß dies Werk Zangwills Feder am besten gelang, ist er doch selber ein »Träumer des Ghetto«. Wie durch die Brust eines jeden Träumers, so geht auch durch seine der uralte Zwiespalt, der ihn bald zu der modernen Welt, in der er lebt, treiben, und bald zurückziehen möchte zur dumpfigen und doch so heimatteuren Luft des Ghetto, die seine Väter atmeten. Und wie alle diese Träumer aus Rom und Berlin, aus Venedig und Smyrna, so verfolgt auch dieser Träumer eine Idee, von der er eine endliche Erlösung des Volkes Israel erhofft. Freilich: Zangwill lebt mitten im modernen London, und er hat es von den Engländern gelernt, seiner Idee Fleisch und Blut zu geben, während die Ideen so mancher anderer Ghettoträumer nur blutleere Schemen waren.

Nicht plötzlich, sondern erst langsam und allmählich reifte in ihm der Gedanke zur Verwirklichung des Ideals: – ein jüdischer Nationalstaat.

Die Tätigkeit, die er im Verfolg dieses Zieles als Politiker entwickelt und die in einem Gegensatze zu den Palästina-Zionisten steht, kann uns hier, wo wir es mit dem Dichter Zangwill zu tun haben, nicht beschäftigen. –

Ich wende mich also den anderen Dichtern des Ghetto zu. In den letzten Jahrzehnten hat sich im Osten Europas eine Literatur entwickelt, die bei uns zum großen Teile noch unbekannt ist. Es ist das die neuhebräische und jungjüdische Literatur. In Galizien und Rußland leben Dichter, die nur Hebräisch oder nur Jüdisch schreiben. Ihre Namen sind den Ostjuden geläufig, aber nur wenige im Westen kennen einen Smolenski, Bialik, Abrahamowicz oder I. L. Perez.

Die Juden des Ostens sind ein Naturvolk und haben ihre eigene Kultur. Das Land der Wunder steht ihnen noch offen; ihre Welt ist voller Poesie; ihre frohen Feste haben Reize von ganz eigener Schönheit und die Trauer an ihren Fasttagen, für deren Wiedergabe Gott noch keinem Dichter die Kraft gab, hat in der Geschichte keines Volkes ihresgleichen.

Mit einem Erbauungsbuch für Frauen: »Zeena ureena«, hat die Jargonliteratur begonnen. Später folgten Schundromane für das ungebildete Volk, »Maaßebüchlech« (Geschichtenbücher), die starke Verbreitung fanden, und Übersetzungen populärer Romane; das Singspiel entwickelte sich, das von Goldfaden geschaffen wurde, später viele Nachahmer fand und sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat.

Der erste Erzähler, der dem Volke mehr als bloße Unterhaltungslektüre bieten wollte, war S. I. Abrahamowicz (Pseudonym Mendale mocher Sforim). Sein Landstreicherroman »Fischke, der Krumme« und der symbolische Roman »Die Schindmähre« geben ein anschauliches Bild vom Leben und Treiben in den russischen Judengemeinden. Hier leben die Juden in ihrer eigenen Welt, haben ihre eigenen Gesetze und leben glücklich von den wenigen Groschen, die sie sich verschaffen. Die jüdischen Bettler schilderte Mendale, diese Stoiker, bei denen das Betteln ein Beruf ist. Seine Bücher sind Schöpfungen, deren sich die jüdische Literatur stolz rühmen darf.

Ein Meister der jüdischen Novelle ist I. L. Perez. Er hat unzählige Erzählungen geschrieben, die uns einen Begriff vom Leben und Treiben im Ghetto geben. Bilder aus dem Leben der Chassidim (Strenggläubige), mystische Erzählungen, Geschichten fürs Volk, Märchen und Legenden hat Perez geschaffen, und alles atmet Leben – wie es nur im Ghetto möglich ist. Seine besten Arbeiten hat Matthias Acher übersetzt und in zwei Bänden »Ausgewählte Erzählungen und Skizzen, 1905« und »Volkstümliche Erzählungen, 1913« im »Jüdischen Verlag, Berlin« herausgegeben.

Schalom Asch gehört zu den begabtesten unter den jungjüdischen Literaten. In seinen Erzählungen führt er uns in die Judenstädtchen seiner Heimat. Asch kennt dieses Leben wie kein Zweiter. Am besten gelingen ihm die Naturschilderungen. Die Natur wirkt auf ihn wie eine Offenbarung. Sie lebt und atmet. Die Bäume »beten« und die Gräser blicken andächtig zum Himmel. Die »Urwüchsigen« des Ghetto haben in Asch ihren beredten Schilderer gefunden – die Fuhrleute und die Dorfjungen. Derb ist ihr Wesen, aber sie sind voller Gottvertrauen und reich an Empfinden. Ein sentimentaler Zug, der selbst dem gröbsten Bauernjungen noch als Merkmal seiner Rasse anhaftet, wie fühlt Asch die Judenstädtchen seiner Heimat, die er uns am liebsten in der verklärten Schönheit ihrer Sabbatruhe zeigt.

Asch hat mit kleinen Erzählungen begonnen, die in Jargonzeitungen erschienen und später ins Russische und Polnische übersetzt wurden. Dann wandte er sich der Bühne zu und schrieb die Dramen: »Messiaszeiten«, »Heimgefunden«, »Gott der Rache«, die in Petersburg und Warschau mit großem Erfolge über die Bühne gingen. Bekanntlich hat auch Max Reinhardt die Begabung Aschs frühzeitig erkannt und schon vor Jahren den Berlinern das Drama »Der Gott der Rache« vorgeführt. In dem rührigen Jüdischen Verlag und bei S. Fischer hat Asch dann die Verleger gefunden, die seine Werke dem deutschen Leserpublikum übermittelten. Heute kennt ihn jeder gebildete Deutsche. Sein bestes Buch »Das Städtchen«, der Auswandererroman »Amerika« und der Roman aus der russischen Revolution »Die Jüngsten« sind viel beachtet worden.

David Pinski führte sich in Deutschland durch seine Komödie »Der Schatz« ein, die vor wenigen Jahren in Berlin, und zwar ebenfalls im Deutschen Theater zur Aufführung gelangte. Er hat seine Jugend in Rußland verbracht und lebt jetzt als freier Schriftsteller in Neuyork. Er hat außer den Theaterstücken »Eisik Scheftel« und »Jacob der Schmied« eine Reihe charakteristischer Erzählungen aus dem jüdischen Arbeiterleben geschrieben, in denen er sich als ausgezeichneter Beobachter der unteren Volksklassen zeigt.

M. Spector ist ein Satiriker, der mit Vorliebe die kleinen Leute schildert, die das Schicksal eines Tages zu Ansehen und Wohlstand brachte, und die sich nun im Schweiße ihres Angesichtes mühen, auch innerlich den armen Menschen aus- und den wohlhabenden anzuziehen. Spector war auch der erste, der jüdische Sprichwörter gesammelt hat. In Deutschland ist er durch die oft nachgedruckte Erzählung »Der Streik der Schnorrer« bekannt geworden.

Den »jüdischen Mark Twain« hat man S. Rabinowicz getauft, der unter dem Pseudonym »Scholem Aleichem«: »Friede mit Euch«, seine an Humor reichen Arbeiten schreibt, mit denen er sich auch bei uns zahlreiche Freunde erworben hat.

Blätter, wie die in Wien erscheinende »Neue National-Zeitung« haben uns die Bekanntschaft mit den Arbeiten des in Lausanne lebenden Dichters vermittelt; der in seiner Nähe wohnende ausgezeichnete Kenner der jüdischen Literatur, Silberroth, hat wichtige Beiträge über Scholem Aleichems Arbeiten geliefert. Einen richtigen Eindruck von dem Wesen seiner ungewöhnlichen Erzählungskunst aber wird man erst gewinnen, wenn man das von Dr. N. Birnbaum im Jüdischen Verlage in Vorbereitung befindliche Buch Scholem Aleichemscher Erzählungen, auf das ich ganz besonders hinweisen möchte, zur Hand nimmt. Die Erzählung »Der Talles-Ruten« ist ein Vorabdruck aus diesem Buche. Den Dichter zu übersetzen, bietet große Schwierigkeiten. Birnbaum darf das Verdienst in Anspruch nehmen, dem Original näher gekommen zu sein als alle, die sich vor ihm um Aleichem mühten.

Auf dem Gebiete der feinstilisierten Skizze hat sich Abraham Reisen einen Namen gemacht. Seine kleinen Ausschnitte aus dem traurigen Leben der Ghettojuden sind Meisterstücke knapper, mit wenigen Strichen das Wesen treffender Erzählungskunst. Sein Herz gehört denen, die ohne Licht und Sonne leben. Er ist der Empfindsamsten einer. Braucht da noch gesagt zu werden, daß er sich auch als Lyriker versucht hat?

Zahlreich ist die Zahl junger Talente, die sich regen und teils schon wertvolles geleistet haben, teils zu schönen Hoffnungen berechtigen. So Steinberg und Onauchi, Nomberg und Weißenberg, die vielversprechenden Hermann Menkes, M. Scherlag, D. Rothblum, sowie die hebräischen Schriftsteller Berdyczewski und Feierberg. Letzterer ist leider nicht mehr unter den Lebenden.

Noch hat die jungjüdische Literatur zwar kein epochemachendes Werk hervorgebracht. Aber in der kurzen Erzählung, in Stimmungsbildern und in der Skizze kann sie mit Leistungen aufwarten, die selbst vor strengster Kritik bestehen können und die der Literatur jedes Kulturvolkes zur Ehre gereichen würden.

Den Beweis hierfür soll dies Buch erbringen.

Als eine der schönsten Novellen dieser Sammlung hat Oskar Levertins »Ralonymos« zu gelten. Sie ist dem im Jahre 1905 im Inselverlage erschienenen Novellenbuch des Dichters »Aus dem Tagebuch eines Herzens und andere Rokokonovellen« entnommen, der wohl seine Freunde, aber längst nicht die Verbreitung fand, die er verdiente.

Auch J. E. Poritzkys sei besonders gedacht. Aus seinem Bändchen »Abseits vom Leben« steht hier eine Probe. Diesen längst nicht nach Gebühr bekannten Dichter, der in deutscher Sprache schreibt und dessen Novellenbände »Herz der Nacht«, »Gespenstergeschichten«, »Liebesgeschichten«(bei Georg Müller, München) bleibenden Wert besitzen, zählt man in literarischen Kreisen längst zu unseren besten.

Schließlich sei hier noch auf den vor zehn Jahren etwa im Jüdischen Verlage erschienenen »Jüdischen Almanach« hingewiesen, wer nach den hier gegebenen Proben tiefer schürfen und weiter in die Gefühlswelt des Ostjudentums eindringen will, dem sei die Lektüre des Almanachs empfohlen. Auch auf die literarisch und künstlerisch wertvollen Beiträge der Winzschen Monatsschrift »Ost und West« sei verwiesen.

Dr. Artur Landsberger.


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