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Das Ghettobuch
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M. Spector

Die Jugendfreunde.

I.

Seit fünf Jahren wohnt Feiwels in der großen Stadt Warschau und jeden Abend spaziert er auf dem Marschalkowski-Prospekt, denn er wohnt in der Nähe dieser verkehrsreichen Straße.

Seine Bücher und Feuilletons bringen ihm so viel ein, daß er sorgenlos leben kann. Die Zukunft erscheint ihm im rosigsten Lichte, denn er ist erst siebenundzwanzig Jahre alt und man erwartet noch viel von seinem Talent. Außerdem ist er ein schöner, gesunder, junger Mann. Kein Wunder also, daß er auf jedermann einen guten Eindruck macht.

Wenn er am Abend durch die Straßen schlendert, denkt er oft mit Stolz daran, daß er sein Glück nur sich selbst und seiner Begabung zu danken hat. Er ist in den fünf Jahren, seitdem er das Provinzstädtchen verlassen hat, ein anderer geworden. Er ist fröhlicher und lebhafter und macht den Eindruck eines Menschen, der sich seinen Platz im Leben erobern wird. Sein Auftreten ist sicher und selbstbewußt und er ist überall als erfolgreicher und berühmter Schriftsteller bekannt.

II.

Als Feiwels eines Abends auf dem Marschalkowski-Prospekt spazierte, erblickte er inmitten der Straße einen Juden in einem langen, alten Winterrock gehüllt, einen Sack unter dem Arm.

Der Jude sah sich nach allen Seiten um, als suche er jemand.

Ab und zu verließ er seinen Platz und machte einige Schritte; kehrte aber immer wieder unentschlossen zurück. Er rannte bald rechts und bald links, bald lief er einem Tramwaywagen nach und winkte dem Kondukteur, daß er halten lassen soll. Die Tramway fuhr aber jedesmal weiter und der Jude blieb, müde vom Laufen, zurück, um auf den nächsten Wagen zu warten.

Feiwels merkte, daß es ein Jude aus einer Kleinstadt sei, der zum ersten Male nach Warschau gekommen war. Er näherte sich ihm und erklärte ihm, daß er zur Haltestelle gehen müsse.

Sie sprachen eine Weile und Feiwels erfuhr, daß der Jude aus Szticzin gekommen sei.

»Auch ich bin ein Szticziner«, sagte Feiwels.

Verwundert betrachteten sie einander und erkannten, daß sie Kameraden im Cheder in Szticzin gewesen. Sie waren auch entfernte Verwandte ...

Feiwels bat nun seinen Jugendfreund Jossel Leibalis, daß er bei ihm Wohnung nehme.

III.

»Du wohnst sehr schön, Simon«, sagte Jossel, als die Freunde in Feiwels Wohnung beim Abendessen saßen, verwundert betrachtete er die schönen Möbel und die tapezierten Wände. – – »Ich habe heute noch etwas zu besorgen«, fuhr er nach einer Weile fort und begann in den Taschen nach einer Adresse zu suchen.

»Jetzt am Abend wirst du doch nichts mehr ausrichten können. Laß es für morgen«, meinte Feiwels.

»Es ist richtig, wichtige Geschäfte sind es nicht«, erwiderte Jossel. »Ich möchte aber gern alles erledigen, um morgen mit dem Mittagszug abreisen zu können. Ich bin schon zehn Tage vom Hause weg und mein Weib und die Kinder sind allein zurückgeblieben ...«

»Was hast du für ein Geschäft und wozu bist du nach Warschau gekommen?« fragte Feiwels. »Die Besorgungen kannst du für morgen lassen ...«

»Vielleicht hast du recht«, entgegnete Jossel. »Ich habe schon drei Nächte kein Auge geschlossen. – Das heißt, eigentlich habe ich schon zehn Nächte nicht geschlafen – seitdem ich auf der Reise bin. Kann man denn auf der Bahn schlafen ...? Man nickt höchstens ein wenig ... Gut, ich werde die Geschäfte für morgen lassen und mich diese Nacht ausschlafen, wer kann denn auf der Reise die Zeit ausrechnen ... Soll schon sein auf morgen ...! Was hast du gefragt? Womit ich handle? Mit Leid und Unglück handle ich! Heutige jüdische Geschäfte! Steins gesagt! Die Eisenbahn steckt meinen ganzen Verdienst ein und ich plage mich rein umsonst – das ist mein Erwerb.

»Aber was führt dich nach Warschau?«

»Was ich hier mache? Ich soll so wissen von Schlechtem, ob ich es weiß! Was habe ich in Berdytschew und in Lodz gesucht ... Verflucht soll dieses Lodz werden! ... Nicht einen Sack habe ich dort kaufen können, habe umsonst Spesen gemacht. Und die ganze Welt schreit: »Lodz! Lodz! Pfui soll es werden! Aus Berdytschew habe ich doch einige hundert Säcke mitgebracht, aber aus Lodz nicht einen ... Nun bin ich in Warschau! Weiß ich, was ich hier suche! Morgen werden wir ja sehen!«

»Du handelst also mit Getreide?« fragte Feiwels.

»Nein, mit Getreidesäcken handle ich. Bei uns sind jetzt neue Säcke nicht zu bezahlen und so fahre ich herum, um alte, gebrauchte Säcke einzukaufen. Das führt mich auch nach Warschau. Man sagt, daß hier alte Säcke massenhaft zu haben sind – aber von Lodz hat man das auch behauptet ... Morgen werde ich wissen, was für eine Stadt dieses Warschau ist und warum die ganze Welt schreit: »Warschau! Warschau!«

»Trägt das Geschäft auch etwas«, unterbrach ihn Feiwels.

»Allen unseren Feinden gesagt! Man verdient kaum das trockene Stückchen Brot und manchmal auch das nicht. Wer weiß, ob mir diese Reise etwas einbringen wird. Die Eisenbahn will aber von nichts wissen. Für die Reise muß man zahlen und das Weib und die fünf Kinder wollen essen ...

»Fünf Kinder hast du schon?« fragte Feiwels verwundert. »Mir scheint, wir sind im selben Alter, – siebenundzwanzig Jahre, nicht?«

»Was wunderst du dich! Ich bin ja schon zehn Jahre verheiratet. Bald kommt das sechste Kind. – Gebe Gott, daß es ein Mädchen sein soll. Ein Briß fehlt mir noch bei diesen goldenen Geschäften ...«

Jossel schwieg und aß weiter, nur von Zeit zu Zeit seufzte er tief. Feiwels betrachtete ihn jetzt genauer. Jossel sah gealtert aus. Sein Gesicht war abgehärmt und eingefallen. Er schien ein geplagter, lebensmüder Mensch zu sein.

Feiwels begann zwischen sich und seinem Freunde Vergleiche anzustellen: Zwei Jugendfreunde waren sie, zwei Schüler in demselben Cheder, doch ihre Wege waren auseinander gegangen – und nun war Jossel ein müder, halbkranker Mensch, der mit alten Säcken handelte und der ein Weib mit fünf kleinen Kindern zu ernähren hatte, welch ein Leben stand ihm noch in diesem armen Städtchen Szticzin bevor ...? Und er – er wohnte in der schönen Stadt Warschau und war ein talentierter, berühmter Schriftsteller ... Er war gesund und sah jünger aus als er in Wirklichkeit war. Die Zukunft sollte ihm aber erst das wahre Lebensglück bringen. Nach wenigen Jahren wird ein Werk von ihm Aufsehen erregen. Seit einem Jahre arbeitete er bereits an diesem Buche ...

»Jeder hat sein Schicksal«, dachte Feiwels, und wenn er Jossel anblickte, war ihm traurig zumute. »Wenn wir uns nicht zufällig getroffen hätten, wüßtest du gar nicht, daß ich in Warschau wohne«, sagte Feiwels nach einer Weile.

»Wer weiß nicht, daß du hier eine große Rolle spielst«, entgegnete Jossel. »In Szticzin spricht man in einem fort von dir, und am Sabbat wird ein Beth-ha-Midrasch über deine Werke debattiert. Ich habe einmal mit meinem Weibe ein Buch von dir gelesen und wir haben sehr viel gelacht ...«

Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, das sich in seinem vertrockneten Gesicht sehr schlecht ausnahm.

»Wir haben uns gefragt, woher du das hast«, fuhr er nach einer Weile fort.

»Wenn du gewußt hast, daß ich in Warschau wohne, warum hast du mich nicht aufgesucht?« fragte Feiwels.

»Ich will dir die Wahrheit sagen«, entgegnete Jossel. »Ich habe mir gedacht, daß du dich mit mir schämen wirst, wenn du wüßtest, was man in Szticzin von dir spricht ... Aber wenn ich nach Hause komme, werde ich den Leuten schon erzählen, wie du wirklich bist ...«

»Eine sehr schlechte Meinung habt ihr, wie es scheint, von mir in Szticzin«, unterbrach ihn Feiwels.

»Im Gegenteil! Ich freue mich sehr, daß du mich nicht vergessen hast«, sagte Jossel.

Er dachte an einen Szticziner Bankier, der auch sein Jugendfreund gewesen war und der sich schämte, mit ihm auf der Straße zu sprechen. Und Simon, von dem die ganze Welt spricht, behandelte ihn wie seinesgleichen. Ganz Szticzin soll erfahren, wie ihn Simon aufgenommen hat.

IV.

Am nächsten Tag mietete Feiwels eine Droschke und brachte seinen Freund zur Bahn.

Jossel schimpfte auf dem ganzen Wege über Warschau.

»Hat man je so etwas gehört«, rief er ein um das andere Mal. »Für geflickte, alte Sacke verlangen sie hier denselben Preis wie bei uns in Szticzin für neue, tadellose. Und nun kommt noch das Reisegeld hinzu. Die Eisenbahn fahrt einen nicht umsonst. Diese Warschauer Ware und diese Warschauer Juden! Steins gesagt! Wer kann denn mit ihnen handeln, von einem Lutwak möchten sie die Haut herunterziehen ...

Als sie den Bahnhof erreichten, hörten sie schon das erste Läuten. Schnell lösten sie das Billett und eilten auf den Perron, denn das zweite Läuten ertönte.

Jossel begann sich von seinem Freund zu verabschieden. Er dachte daran, wie gut und freundlich Feiwels zu ihm in dieser großen, fremden Stadt gewesen war. Eine Rührung überkam ihn und mit Tränen in den Augen rief er aus:

»Sei gesund, Simon, ich danke dir für die Aufnahme und für deine Freundlichkeit ... Es soll dir immer gut gehen und du sollst glücklich sein! Und Gott soll dir helfen, daß du diese Narrischkeiten aufgibst ...! Büchlech – das ist kein Geschäft! Gott soll dir einen besseren Beruf bescheren ...!«

Schnell sprang er ins Kupee, denn das dritte Läuten ertönte.

Wie erstarrt blieb Siegmund Feiwels mit ausgestreckten Armen stehen. Er wollte Jossel festhalten, ihn fragen: »Narrischkeiten? warum? ... Warum«, murmelte er für sich traurig, und als der Zug davonfuhr, ging er verstimmt, mit gesenktem Kopf seiner Wohnung zu.


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