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Das Ghettobuch
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Marek Scherlag

Eli, der Schaffer.

An der gebirgigen Grenze zwischen Galizien und Ungarn lag ein Landgut, aus mehreren Dörfchen und Gehöften stehend, einem reichen Juden gehörig, der in Budapest lebte. Die Verwaltung seines Besitzes hatte er in die Hände eines entfernten Verwandten, eines zugrunde gegangenen Gutsbesitzers gelegt, der wieder die eigentliche Bewirtschaftung ebenfalls einem weitläufigen Verwandten, einem zugrunde gegangenen Gutspächter, Eli, übertrug.

Eli, der Schaffer genannt, war der geborene Agronom. Schon als Kind hatte er Gelegenheit, seine Talente auf diesem Felde zu entwickeln, er weidete nämlich die Gänse und Enten seines Vaters, eines kleinen Pächters eines polnischen Grafen, oder hütete die Schafe und Kühe bis zu seinem Jünglingsalter. Von da an überwachte er die Stallungen, die Bestellung der Äcker, die Aussaat und Ernte, die Tennen und Scheunen, griff oft selbst zu, besonders beim Dreschen.

Sein Vater war mit ihm außerordentlich zufrieden, nur wurmte es ihn, daß der Junge so wenig »Jüdisches« lernte. Im Dorfe gab es aber keinen jüdischen Lehrer, so mußte er ihn denn selbst unterweisen: da er jedoch selbst keine Leuchte war und über wenig freie Zeit verfügte, trug sein Unterricht nur dürre Früchte. Als besonders schweren Schlag empfand er die Assentierung seines Sohnes. Bald darauf starb er. Nun kam Eli frei, als seiner alten Mutter einziger Erhalter.

Nach einigen Jahren wurde er von einem Freunde, einem schielenden und sehr gelehrten Juden, ausgepachtet, mußte Not leiden und auf die Suche nach Brot gehen. In diese Zeit fiel der Tod seiner Mutter. Jetzt stand er ganz allem da und verließ grollend die Heimat, um seinen einzigen Verwandten in Ungarn, von dem er wußte, daß er ein Gut verwaltete, aufzusuchen. Bei dem blieb er auch und war zufrieden, als Schaffer tätig zu sein, sich im Freien zu regen, den Duft der Erde einzuziehen und die Leute zur Arbeit anzutreiben.

Eines Tages bemerkte er in dem nächstgelegenen Landstädtchen auf dem Jahrmarkt ein Judenmädchen, das ihm auf den ersten Blick gefiel. Er trat entschlossen auf sie zu und fragte die Errötende, ob sie »von da« wäre und wo ihre Eltern wohnten. Mit der Hand wies sie ihm nach einer baufälligen Hütte. Dorthin begab er sich auch alsbald und fragte einen gebrochenen Greis, der in einem Lehnstuhl vor sich hinduselte, ob er ihm seine Tochter geben möchte. Da kam aus der Kammer eine alte Frau dazu.

»Welche Tochter?« fragte sie.

»Die ich jetzt auf dem Markt gesehen«, entgegnete Eli.

»Frime!« rief die Frau dem scheinbar schwerhörigen Gatten zu. Und zu Eli gewendet, bemerkte sie: »Sie ist so gut wie versprochen mit unserer Nachbarin Sohn.«

»Wer ist das!« fragte Eli.

»Der erste Belfer in Cheder«, war die Antwort.

»Der kann ja gewiß keine Frau ernähren. Und wer ich bin, wißt ihr vielleicht. Ich bin der Schaffer ...«

»Ah – so!«

Die Greisin wischte rasch einen wackligen Stuhl rein. Aber Eli setzte sich nicht.

»Also einverstanden?« fragte er. »In ein paar Tagen komme ich, mir Ihre Tochter holen.«

»Ich werd' mit ihr reden!« schmunzelte der Alte.

»Ein Kind muß gehorchen!« sagte Eli und entfernte sich mit kurzem Gruße.

Einige Wochen darauf wurde die Hochzeit gefeiert, denn Frime war ein gehorsames Kind ...

Während Eli, der Schaffer, am weißgetünchten warmen Ofen saß, den Arbeitsplan für den nächsten Tag erwägend, lag auf dem grauen Sofa gegenüber sein junges Weib Frime in holder Gemütsruhe. Eine weiche, trauliche Atmosphäre schwebte über den schlichten Einrichtungsgegenständen der weißgetünchten Stube. Es war Nachmittagsruhe. Da wurde die Tür aufgerissen und herein stürzte ein rotbackiges Bauernmädchen.

»Verkleidete sind da!« rief sie wie jemand, der eine Feuersbrunst meldet, »sie sind zum Herrn Verwalter gegangen, dort sind auch Musikanten und lustig geht's zu.«

Damit verschwand sie wie der Wind.

Frime erhob sich indessen behende, daß der Staub aus dem alten Herrschaftssofa sprühte, und trat leise zu ihrem Manne mit einem bittenden Lächeln um den weichen Mund. Der rauhe, schwarzbärtige Schaffer starrte auf dies anmutige Frauenbild mit den weichen und runden Formen wie entzückt, zumal da ihre Augen so sonderbar strahlten, als kämen sie aus dem Lande der Ahnungen und Träume.

»Du, Frime, ein Junge muß es sein!« flüsterte er heiß, indem er sie zart und behutsam an den weißen Händen faßte.

»Schon wieder, du Kindernarr!« sagte sie neckisch; »aber wenn du schon ja so lieb und gut bist, führe mich zum Verwalter hinüber, ich will Musik hören, sonst werde ich noch so trüb wie ein altes, verlassenes Weib und dies könnte jemandem schaden ...«

»Nein, das geht nicht,« unterbrach er sie, »wirst dich erkälten, aufregen und weiß Gott was noch ...«

Und sie, schmollend: »Den ganzen Winter hältst du mich wie in einem Kerker. Zwei Unterhaltungsabende mit Tanz waren schon hier, ich durfte nicht hingehen, ich wollte auch nicht, schon des Tanzes wegen. Aber heute, wo es bloß eine unschuldige Belustigung gibt, heute will ich hingehen. Es ist ja Purim. Mein Gott, was war das für eine Fröhlichkeit bei meinen Eltern ... alle die Maskierten, der eine als Haman, der andere als Ahasverus, und das Spiel ...« Dabei schlüpfte sie in den Mantel, der mit Pelz umbrämt war.

Und bald darauf trippelte sie, beinahe vermummt, auf dem glattgetretenen Schnee dem stattlichen Wohnhaus des Verwalters zu. Unwillig, wie verschämt, hielt der ungeschickte Schaffer seine Hand unter ihrem Arm, denn daran war er nicht gewöhnt, und auch sie konnte sich eines Gefühles des Staunens nicht erwehren. Es berührte sie schier peinlich, daß der plumpe Mensch so folgsam und so zärtlich war, denn sie fühlte, daß es nicht ihr zuliebe geschah. Er war kein schlechter Mensch, aber roh und rauh. Wo hätte er auch weiche, feine Umgangsformen hernehmen sollen. Zu ihr war er ja sehr gut, doch zärtlich sein war ihm fremd. »Die Frau ist der Kinder wegen da«, wiederholte er.

Eine Ehe ohne Kinder wäre kein richtig Ding. Er gestand es selbst ein, nach einem Kinde sehnte er sich wie ein Durstiger nach einem Trunke. Wie hatte er nach dem Tode des Erstgeborenen – vor einem Jahre war's – geschluchzt und gegen Gott gegrollt! Wie ein Heide hatte er in seiner Verzweiflung Gott gehöhnt, bis sie das erlösende Wort fand: »Gott hat's gegeben, Gott hat's genommen.«

Diese Erinnerungen abschüttelnd, trat sie in den heiteren Wohnraum, wo Musikanten spielten und Maskierte ihr tolles Wesen trieben.

Die beleibte, schwerfällige Frau Verwalterin tat ganz verwundert und erfreut, wies der »Schafferin« freundlich den Platz neben sich und bewirtete sie mit Wein und Lebkuchen. Selbstverständlich hatten beide Frauen über dies und jenes zu flüstern.

Der Schaffer stand an einen Kleiderschrank gelehnt und ließ seine Frau nicht aus dem Auge. Das Estherspiel war eben zu Ende. Ein verkleideter Junge johlte noch, mit den Händen vor einer rotgekleideten Kreatur fuchtelnd.

»Lieber hob ech gar ka Numen,
wie zu heißen Rosche Humen ...«

Manche lachten, einige aßen und tranken, einige nahmen von der Hausfrau Almosen in Empfang, dankten und gingen.

Während Frime vom Lebkuchen ein Stückchen spielend zerbröckelte, stierte sie der als Ahasver verkleidete Bocher an, als wollte er sie verschlingen. Es war der erste Belfer aus dem Nachbarstädtchen. Frime und er hatten als Kinder miteinander gespielt, dann hatten sie die ersten Jugendjahre zusammen verträumt, bis eines Tages der gutgestellte Schaffer das folgsame Mädchen heimführte.

Der Belfer trug von diesem Tage an eine brennende Sehnsucht im Herzen. Und diese Sehnsucht lag in seinen Blicken, mit denen er Frime umschlang. Neid auf den glücklichen Eli erfüllte ihn. Ein Schaffer galt in dieser Gegend als ein gemachter Mann, was war ein Belfer dagegen? Auch imponierte es ihm, daß ein Jude sich auf die Bewirtschaftung eines Gutes verstand. Im stillen sagte er sich freilich: Er ist doch ein Bauer. Kann er denn Thora lernen? Und dieser Mensch hatte Frime in seiner Macht!

Der Schaffer murrte und fletschte seine raubtierartigen Zähne, da ihm die Zudringlichkeit des »Königs Ahasver« nicht sonderlich behagte. Endlich näherte er sich seinem Weibe, beugte sich herab und flüsterte:

»Frimeleben, verschau dich nicht, die Masken sind häßlich und rot, du weißt ja, du mußt vorsichtig sein.«

Frime errötete, was den unverwandt starrenden »König« noch mehr lockte und reizte.

»Schaffer, der Herr Verwalter ruft«, ertönte es aus dem anstoßenden Zimmer.

Nie war der Schaffer unwilliger von seinem Weibe fortgegangen.

Jetzt hatte Ahasver freien Spielraum, klirrte mit den Sporen, gierte mit den Augen und goß in sich den Wein unablässig und hastig, als wollte er ein inneres Feuer löschen. Doch glich er einem brennenden Hause, in das man ganze Ströme Wasser spritzt und aus dessen Winkeln und Räumen trotz alledem die Flammen immer wilder hervorlodern. Die Sehnsucht schrie: »Geh, nimm, was dir gehört, nimm, und sei es auch nur auf einen Augenblick.«

Als die Aufmerksamkeit der Anwesenden in eine andere Richtung gewendet war, sprang er blitzartig an die begehrenswerte Frau heran, um sie zu umarmen ...

Sie schnellte empor, eilte, wie verwirrt, zur Tür, noch ehe es jemand bemerken konnte, und lief hinaus in Frost und Wind; der Lehrer ihr nach, keuchend und glühend ...

»Schaffer, Ihr Weib lauft nach Haus«, rief ein Bauer. Gleich einem verwundeten Eber stürmte der Schaffer hinaus, durchs Dorf dem Hause zu, über den glitschigen Weg, wo eine Gestalt die andere jagte. Seine Augen rollten, seine Schläfen schwollen an, seine Mundwinkel bebten, feucht vor Schaum der Wut. –

»Ich erschlage dich«, schrie er wie besessen, »Lump, ich erschlage dich! ... Frime, lauf' nicht! ...

Da rutschte sie aus, sank mit einem Aufschrei um und lag auf dem kalten schneebedeckten Weg. Der Belfer aber lief und hastete an ihr vorbei und rannte wie wahnsinnig weiter ...

»Ich erschlage dich, wenn was geschieht«, donnerte ihm der Schaffer nach.

Ängstlich hob er sein Weib empor und trug es besorgt auf seinen Händen ins Haus. Sein Blick verlor sich in dem hohen Raum, wo die Nachmittagssonne wie ein kalter Silberschild lag. Wie, wenn etwas geschähe ...?

In der warmen Stube legte er seine Gattin sanft auf das graue Sofa. Es war an ihr keine Spur vom Fall zu finden, sie fühlte sich nur erschöpft und traurig. Weshalb sie weggelaufen war, konnte sie sich nicht erklären. Ihr war nur, als ob sie der Geist ihrer Kindheit vorwurfsvoll angesehen hätte ... Auch andere Gefühle waren in ihr ... aber so unklar und durcheinanderwogend ...

Am ganzen Körper zitternd, saß der Schaffer neben seinem ruhenden, kreidebleichen Weibe und wiederholte ab und zu: »Wenn, Gott behüt', etwas geschieht, dann erschlag' ich den Elenden ...«

Seit diesem Tage lebten sie in immerwährender Angst. Und als nach einiger Zeit – da die Bäume bereits Knospen trugen – ein Kind zur Welt kam und der Schaffer verhaltenen Atems seine fliehenden Hände, wie im Traum, danach streckte und kein Lebenszeichen, auch nicht das leiseste, vernahm, schwollen seine Schläfen mächtig an und seine Augen rollten fürchterlich. Er wollte es nicht glauben, und als er es glauben mußte, stürzte er hinaus, finster und stumm ...

Eine Stunde mochte er über die einsame Fahrstraße gelaufen sein, bis er das Nachbarstädtchen erreichte, wo die Häuser und Hütten gleich Vogelnestern an den baumbestandenen Hügeln hingen. In eine der kleinsten Hütten trat er ein, finster und stumm. Freundlich und redselig bot ihm die Mutter des Belfers einen Sessel an.

»Sie können ja hier auf meinen Sohn warten,« sagte das kleine greise Mütterlein, »er kommt bald vom Beten, er ist überhaupt so fromm seit dem letzten Purim.«

Gedankenlos nickend verließ der Schaffer die Hütte und ging in das Bethaus. Das stand am Rande des Städtchens mit seinen hellen Wänden und Fenstern, wie ein Ausschnitt einer besseren Welt, lieblich winkend, und die Frühlingssonne breitete auf dem Wege dahin einen Strahlenteppich aus.

Was will ich dort eigentlich! fragte sich plötzlich der Schaffer, werde ich denn beten können! Und wozu auch! Ihn aber – – – ihn sollte ich eher hier am Wege erwarten. Aug um Aug, Zahn um Zahn! Mag auch seine Mutter dann hilflos dastehen. Er hat mich um mein Kind gebracht. Tot ist es zur Welt gekommen. Getötet hat es der Elende schon im Mutterleib. Aus einem Gärtlein vor einem Bauernhause klangen Kinderstimmen. Die Kleinen spielten mit einer gutmütigen zottigen Ziege. Das Bild gab dem Schaffer einen Stich ins Herz. Der Elende! preßte er hervor. Ich hab' ihm den Tod geschworen ...

Das Herz krampfte sich ihm zusammen, denn eben nahte gemessenen Schrittes der Jüngling, blaß und scheu, den Tefilinsack unter dem Arm. Die Augen des Schaffers blitzten, seine Rechte erzitterte und hob sich ...

Aber keine Waffe, kein Werkzeug war in ihr, womit er töten könnte. Erst jetzt war er dessen inne. Und das Gelüst nach Rache schwand, wie Rauch im Winde dahin. Und die dunklen Flecke, die vor seinen Augen durcheinanderschwirrten, zerflossen wie Nebel in Licht und Klarheit.

»Dein Glück, du kommst vom Bethaus«, stammelte er. – Aber der Jüngling, dem sein böses Gewissen und die einstige Drohung des Schaffers genug zu ahnen gaben, ergriff die Hand des finsteren Mannes und flehte: »Verzeihe mir, ich war damals wild und wahnsinnig. Zu Purim trinkt man soviel. Ich wollte dich früher um Verzeihung bitten, aber ich fürchtete mich vor dir. Jetzt kommst du zu mir ... sag', ist deinem Weib nur nichts geschehen! Ich fürchte ...«

»Was geht es dich an, Lump«, rief der Schaffer.

»Ist deiner Frau nichts geschehen?« wiederholte der andere. »Du schweigst ... ist, Gott bewahre, vielleicht ...?«

Wie aus einem schweren Traum aufgerüttelt, stammelte Eli: »Du hast Recht ... daß du fragst.«

»Wie?« schrie der Jüngling. »Dann kannst du mich totschlagen ... wie einen Hund! Dein Weib ... was hab' ich getan ... ! Warum schweigst du ...?«

Und Eli sah ihn mit aufgerissenen Augen an und sagte wie zu sich: »Wer weiß, was mein Weib macht ...

Gar nicht umgeschaut hab' ich mich nach ihr ... nur gelaufen bin ich, als ich's bestimmt wußte ... wozu, weiß ich nicht ... Mitgenommen hab' ich mir nichts ... und wenn auch, ich hätte nichts getan, denn wie du mir entgegengekommen bist ... und meine Faust sich ballte, da wurde sie kraftlos und es rief in mir: Tod und Leben ... das hängt von Einem ab!!! ... Du hast recht: ich muß schauen, was mein Weib macht.«

Und der finstere Mann eilte nach Hause, zu sehen, ob seinem Weibe nichts geschehen sei. Sein Blick verlor sich in die hohen unergründlichen Welträume auf der Suche nach Gott.

Wie eine goldene Schale voll zärtlicher Gluten hing die Sonne am Himmel, und keine Wolken trübten die Höhen.

Eli aber lief dahin, schnell und atemlos, und es war ihm, als hörte er seine Frime flüstern: »Gott hat's gegeben, Gott hat's genommen.«

Schüchtern schlich er in die Stube, und da er sein blasses Weib gewahrte, wie sie still und verlassen traurig aus den Kissen schaute, jauchzte er wie ein Kind:

»Du lebst ja.«


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