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Das Ghettobuch
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I. Zangwill

Joseph, der Träumer.

I.

»Wir können nicht länger warten, Rahel«, sagte Manasse mit leiser ernster, aber fester Stimme. »Es ist bald Mitternacht.«

Rahel unterdrückte ihr Schluchzen und senkte andachtsvoll das Haupt, als Manasse die Dankgebete anstimmte. Aber ihr Herz war nicht mit frommer Freude erfüllt bei der Erinnerung, wie der Gott ihrer Väter sie und ihre Tempel gerettet hatte vor hellenischer Schändung. Ihr Herz bebte vor Angst um das Schicksal ihres Sohnes, des angehenden Rabbiners, der heute unerklärlicherweise zum ersten Male fern blieb von der häuslichen Feier des Weihefestes. Was tat er – außerhalb der Ghettopforten – in dieser großen, dunkeln, engen Stadt Rom, dem päpstlichen Gesetz Trotz bietend? Noch dazu in dieser Nacht, der unheilvollsten aller Nächte des Jahres, da durch eine Übereinstimmung der Zeitrechnung die christlichen Widersacher gerade die Geburt ihres Erlösers feierten? Tränenden Auges blickte sie zu ihrem Manne auf, der so ernst und trübe gestimmt war. Wie ehrwürdig sah er aus mit seinem wallenden, weißen Haar und Bart, als er sich jetzt anschickte, mit dem überzähligen Licht die Wachskerzen in dem neunarmigen Silberleuchter anzuzünden. Er trug einen langen Mantel, der ihn bis zu den Füßen einhüllte, vorn fiel er auseinander und ließ einen braunen groben Rock sehen, von einem Gurt gehalten. Diese dunkelfarbigen Kleider waren alt gekauft; so verlangte es die strenge Einfachheit der »Pragmatika«. Der jüdische »Rat der Sechzig« erlaubte seinen Leuten nicht, das Gewand in Falten zu legen, wie es die Römer jener Tage mit ihren purpurnen Prachtgewändern taten. Den jungen Leuten von Geblüt, denen es vom Christentum verboten war, sich »Signori« zu nennen, war es vom Judentum untersagt, mit den Signori an Luxus zu wetteifern.

»Gelobet seist du, Gott, unser Herr«, sang der alte Mann. »König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, das Chanukalicht anzuzünden.«

Mit zitternder Stimme fiel Rahel ein in die alte Hymne, die die Feier begleitete. »O Feste, Fels meines Heils«, sang die alte Frau. »Dir gebührt Lobpreisung; lasse mein Gotteshaus wieder erstehen, und dort will ich Dankgebete zu dir senden; während du den Feind, der dich lästert, vernichtest, werde ich mit Gesang und Psalm die Weihe des Altars feiern.«

Aber ihr inneres Auge streifte zu den dunkeln, ölerleuchteten Straßen der düsteren Stadt, hellsehend geworden durch die Liebe. Verhaftung durch die »Sbirren« war gewiß, andere Gefahren drohten. Banditen und Mordgesellen gab es im Überfluß. Wohl war die Stadt Rom sicherer als viele andere für die Juden – diese Juden, die wie durch ein Wunder, das unleugbarer war als das, welches sie heute feierten, seit der Geburt Christi gerade im Herzen des Christentums gewohnt hatten – das ewige Volk in der ewigen Stadt. Das Ghetto Roms war nicht Zeuge solcher Greuel gewesen wie das Barcelonas, Frankfurts oder Prags. Die blutigen Orgien der Kreuzfahrer hatten weit ab von der Hauptstadt des Kreuzes gewütet. In England, Frankreich und Deutschland hatten die Juden, dieser Sündenbock der Nationen, die Brunnen vergiftet und den »schwarzen Tod« gebracht, die Hostie durchbohrt, Kinder getötet, um ihr Blut zu nehmen, die Heiligen gelästert, kurz, alles getan, was nur die Einbildungskraft von Schuldnern, die abrechnen wollen, ersinnen kann. Doch die römischen Juden galten nur als fluchwürdige Ketzer. Vielleicht war die relative Armut dieses Ghetto schuld daran, daß seine Tragödie weniger in häufigen Blutbädern als in immerwährenden Erniedrigungen bestand. Indes Blutvergießen kam wohl auch vor, und der Gesang erstarb bei dem Gedanken daran auf Rahels Lippen, während Manasse unentwegt weitersang.

»Die Griechen hatten sich gesammelt gegen mich in den Tagen der Hasmonäer; sie brachen die Mauern meiner Türme nieder und entweihten das heilige Öl. Aber mit einem der übriggebliebenen Krüge geschah ein Wunder zu deinem Ruhme, Israel, und die Menschen, die solches sahen, bestimmten diese acht Tage zu Gebet und Lobgesängen.«

Sie waren wohlhabende Leute. Rahels Kleidung zeigte die äußerste Grenze des von der Pragmatika erlaubten Luxus. Sie trug zwar ein altgekauftes Kleid, aber es war aus Seide und mit einer Nadel am Halse geschlossen, die mit einer Perle besetzt war. Sie hatte ein Armband, einen glatten Ring am Finger und ein einreihiges Halsband; ihr Haar wurde von einem einfachen Netz gehalten.

Rahel blickte auf den neunarmigen Leuchter, und eine unerklärliche Trauer erfüllte sie. Ach, hätte sie doch neun Sprossen in ihrem Hause wie Miriams Mutter, eine wahre Mutter in Israel! Aber ach! sie hatte ja nur eine Leuchte – eine einzige – ein Hauch, sie war erloschen, und dunkel würde das Leben sein.

Daß sich Joseph nicht innerhalb der Ghettomauern befand, war sicher. Mit Willen würde er ihr nie solche Angst verursacht haben. Ihr Gatte und Miriam hatten ja auch alle Plätze des Viertels abgesucht, selbst jene sumpfigen Alleen, in denen jede Überschwemmung des Tiber Schlamm zurückließ, der Malaria erzeugte. Dort, wo ein Haus zehn Familien beherbergte, wo verkrüppelte Männer und runzlige Frauen durch die Straßen schlichen und mit Krankheit behaftete, halbnackte Kinder sich an der Erde herumwälzten. Manasse und Rahel hatten wahrlich der Sorge genug gehabt mit ihrem eigenartigen Sprößling, aber nie solche Sorge wie heute. Joseph, »der Träumer« – das war der Spitzname ihres Sohnes – dieses hübschen Jünglings mit dem feinen, ovalen Gesicht, den zarten, gelblichen Zügen, der aus seinen schwarzen Augen so sorglos dreinschaute und sich nicht entschließen konnte, einen der beschränkten Handelszweige zu ergreifen, die im Ghetto erlaubt waren, sondern eines Tages Rabbiner der Gemeinde werden wollte. Ein Träumer war er, wenn er gelegentlich seine nüchternen Lehrer durch seine Geistesblitze blendete und plötzlich Gedanken aufgriff, die besser geruht hätten. Warum war er nicht wie andere Söhne, warum ging er mit verträumten Augen durch die Straßen, warum konnte er weinen über das profane Hebräisch der spanischen Minnesänger, als wären ihre Gesänge »Selichoth« oder Bußgesänge? Warum heiratete er nicht Miriam! Das Mädchen wünschte es, das sah man. Warum mißachtete er das, was im Ghetto Gebrauch war, und entzog sich stillschweigend einer so herkömmlichen Sache, wie die Heirat der Kinder zweier alter Freunde war! Es hätte ja so gut gepaßt; die beiden Alten waren gleich wohlhabend und besaßen beide das Jus Gazzaga, das heißt die Pachtung der Häuser, die sie bewohnten. Große, schöne Häuser waren es, die nur getrennt waren durch ein altes Gebäude mit einem geschnitzten Portal. Sie standen am Ende der großen Via Rua, wo sie mit der engen kleinen Straße Delle Azzimelle zusammenstieß, in der die Osterkuchen gebacken wurden. Miriams Familie war groß, sie bewohnte das ganze Haus allein, während ein großer Teil von Manasses Haus vermietet war; denn der Raum wurde immer kostbarer im Ghetto, das bei stets wachsender Bevölkerung nur einen bestimmten Platz einnehmen durfte.

II.

Sie gingen zu Bett. Manasse bestand darauf. Sie konnten unmöglich bis zum Morgen auf Joseph warten. So sehr Rahel gewöhnt war, sich der Energie ihres Gatten zu fügen, in diesem Augenblick schien ihr seine Festigkeit – Härte. Die Nacht war lang. Hundert fürchterliche Visionen zogen an ihrem schlaflosen Auge vorüber. Die Sonne ging auf über dem Ghetto und gab sich Mühe, ihre Strahlen durch die hohen, dichtgedrängten Giebel der gegenüberliegenden Häuser zu senden. Die fünf Ghettotore wurden weit geöffnet, aber durch keines trat Joseph. Die jüdischen Hausierer zogen hinaus, setzten ihre gelben Hüte auf und schoben kleine Karren vor sich her, die mit besonderen Weihnachtswaren beladen waren. »Hepp, hepp«, riefen sie aus, wenn sie durch die Straßen Roms zogen. Einige verkauften Kräuter und Tränke, auch Amulette in Gestalt von kleinen Mandolinen oder viersaitigen Lauten, die dazu dienen sollten, Kinder vor Krankheiten zu bewahren. Manasse ging in das Geschäft, sein Antlitz blickte noch finstrer. Er hatte verboten, daß bis zum Nachmittage irgendwelche Nachforschungen außerhalb des Ghetto gemacht werden sollten; das hieße ja nur Josephs Gesetzesbruch dem Feinde verraten. Inzwischen würde der Wanderer vielleicht heimkehren. Manasses Geschäft war auf der Piazza Giudea. Zahlreiche Läden engten die Zugänge ein. Sie dienten hauptsächlich dem Verkauf abgelegter Kleider, da der Handel mit anderen Sachen den Juden durch päpstliche Bulle verboten war. Aber von alten Sachen war hier alles zu haben; von dem groben Gewand eines Hirten der Abruzzen bis zu dem verschossenen Trödelkram eines Hofmannes. Im Mittelpunkte stand ein neuer Springbrunnen mit zwei Drachen, der dem Ghetto statt des schlechten Tiberwassers das gute Wasser aus der Leitung, die Paul V. anlegen ließ, zuführte. Er trug eine lateinische Dankinschrift. An den Ecken des Platzes erhoben sich einige Gebäude von baufälliger Pracht, um Abwechslung in die Eintönigkeit der Ghettobaracken zu bringen; der alte Palast Boccapaduli, ein Wohnhaus mit hohem Turm, und drei ehemalige Kirchen. Ein monumentales, aber häßliches Tor, das bei Sonnenuntergang geschlossen wurde, bildete den Zugang zu der zweiten Piazza Giudea, auf die die Christen kamen, um mit den Juden Geschäfte zu machen – sie war fast eine Vorstadt des Ghetto. Manasse hatte nicht weit zu gehen, denn dieser Teil der Via Rua mündete auf der Piazza Giudea. Das andere Stück der Straße machte, nachdem es eine Strecke mit der Via Pescheria und dem Flusse parallel gelaufen, plötzlich eine Biegung am Portikus der Oktavia und endete an der Brücke Quattro Capi. Das war das Ghetto des sechzehnten Jahrhunderts.

Bald nachdem Manasse das Haus verlassen, trat Miriam mit verängstigtem Gesicht herein, um zu fragen, ob Joseph zurückgekehrt sei. Sie hatte ein schönes orientalisches Gesicht, aus dessen tiefen Augen das Licht der Liebe und des Mitleids strahlte. Es zeigte den Typ, den die Maler der Madonna gegeben haben, wenn sie daran dachten, daß die Mutter Maria eine Jüdin gewesen. In ein einfaches wollenes Gewand war sie gekleidet, ohne Spitze oder Stickerei; ein silbernes Armband bildete ihren einzigen Schmuck. Rahel erzählte ihr weinend, daß jede Nachricht fehle, doch Miriam stimmte nicht in ihr Weinen ein. Sie redete ihr zu, guten Muts zu sein.

Wirklich, bald danach erschien Joseph. Aus seinem Gesicht sprachen Verzückung und Verstörung zugleich. Sein schwarzes Haar und sein Bart waren ungekämmt, seine Augen seltsam funkelnd in dem bestürzten, fahlen Gesicht; eine eigenartig poetische Erscheinung in seinem rötlichbraunen Mantel und dem dunkelgelben Hut.

»Pax vobiscum«, rief er in hellen Jubeltönen.

»Joseph, was soll diese trunkene Tollheit!« stammelte Rahel.

»Gloria in altissimis Deo, und Friede auf Erden, allen Menschen, die ihn suchen«, beharrte Joseph. »Es ist Weihnachtsmorgen, Mutter.« Er fing an, den Vers eines Liedes zu singen: »Simeon, der gute Heilige aus alten ...«

Heftig schlug Rahel auf ihres Sohnes Mund. »Lästerer!« schrie sie; aschfahl wurde ihr Antlitz.

Sanft zog Joseph ihre Hand fort. »Du lästerst, Mutter«, rief er. »Freue dich, freue dich, an diesem Tage ward der teure Herre Christus geboren – er, der für die Sünden der Welt gestorben.«

Von neuem brach Rahel in Tränen aus. »Unser Junge ist toll – unser Junge ist toll! Was haben sie mit ihm gemacht!« Die ganze furchtbare Angst, die sie ausgestanden, lag in diesem Ausruf.

Schmerz verwischte die sanfte Ruhe auf Miriams Antlitz, als sie von der Fensternische aus Zeuge dieses Auftritts war.

»Toll? Oh, Mutter, ein Auferweckter bin ich! Freue dich, freue dich mit mir. Laß uns einstimmen in die allgemeine Freude, laß uns eins sein mit dem Menschengeschlecht.«

Rahel versuchte durch ihre Tränen zu lächeln. »Genug dieser Narrheit«, sagte sie einlenkend. »Es ist das Weihefest, nicht das Fest der Lose. Heute bedarf es keiner Maskerade.«

»Joseph, was fehlt dir?« fiel Miriams sanfte Stimme dazwischen, »was hast du getan? Wo bist du gewesen?«

»Bist du hier, Miriam?« Jetzt erst gewahrte er sie. »Wärst du doch mit mir dort gewesen!«

»Wo!«

»In St. Peter. Ach, die himmlische Musik!«

»In St. Peter!« wiederholte Rahel tonlos. »Du, mein Sohn Joseph, der Gottesrecht studiert, du hast dich so befleckt?«

»Nein, es ist keine Befleckung«, warf Miriam besänftigend dazwischen. »Hast du uns nicht selbst erzählt, wie unsere Väter an Sabbatnachmittagen in die Sixtinische Kapelle gingen?«

»Wohl, aber das war damals, als Michelangelo Buonarroti seine Fresken aus der Geschichte Israels malte. Sie gingen auch dahin, um die Gestalt unseres Gesetzgebers an des Papstes Grabmal zu sehen. Auch habe ich sogar von Juden gehört, die sich heimlich nach St. Peter stahlen, um einen Blick auf die gedrehte Säule aus dem Tempel Salomos zu werfen, die diese Ungläubigen um unserer Vergehen willen behielten. Aber es war ja die Mitternachtsmesse, die dieser Epikuraeer dort gehört hat.«

»Die war es,« sagte Joseph, leise wie im Traum, »die Mitternachtsmesse – Weihrauch, Lichterglanz, die Gestalten der Heiligen, wundervoll gemalte Fenster und eine große Menge weinender Andächtiger. Und die Musik schluchzte mit ihnen, bald in schrillem Ton, wie der heftige Schrei von Märtyrern, bald wie der Friedenshauch des heiligen Geistes.«

»Wie wagtest du dich in den Dom?« stöhnte Rahel.

»Wie sollten sie gerade an einen Juden denken in diesem ungeheueren Gedränge? Draußen war es dunkel, drinnen düster. Ich verbarg mein Gesicht und weinte. Sie blickten auf die Kardinäle in ihren kostbaren Gewändern, auf den Papst, auf den Altar, wer hätte Augen für mich gehabt!«

»Aber dein gelber Hut, Joseph!«

»In der Kirche trägt man keinen Hut, Mutter.«

»Entblößtest du dein Haupt, du Gotteslästerer, und betetest an?«

»Ich wollte nicht anbeten, liebe Mutter. Eine große Neugier zog mich dorthin – ich wollte sie mit eigenen Augen sehen und sie mit eigenen Ohren hören, diese Anbetung Christi, die meine Lehrer verhöhnen. Da fühlte ich mich von einer mächtigen Woge der Orgelmusik gepackt, und sie wallte von dieser niederen Erde auf zum Himmel. An dem Schemel Gottes in dem kristallnen Firmament, da brach sich die Woge. Und plötzlich erkannte ich, wonach meine Seele geschmachtet. Ich wußte, was das ruhelose Sehnen bedeutet hatte, das mich stets verzehrt, trotzdem ich nie darüber sprach – jene seltsamen Heimsuchungen, jene düsteren Empfindungen – jetzt plötzlich erkannte ich wie durch einen Blitz das Geheimnis des Friedens.«

»Und das ist – Joseph?« fragte Miriam sanft, denn Rahel rang so nach Atem, daß sie nicht sprechen konnte.

»Opferung«, sagte Joseph weich, hingerissen, »leiden, sich freiwillig der Welt opfern; hinsterben in köstlichem Schmerz, wie die letzten zitternden Töne der süßen Knabenstimme, die sich bei dem Lobgesang Mariä zu Gott emporschwang. Oh, Miriam, könnte ich doch unsere Brüder aus dem Ghetto führen, könnte ich sterben, um ihnen zum Glück zu verhelfen, sie zu freien Söhnen Roms zu machen.«

»Ein guter Wunsch, mein Sohn, aber die Erfüllung steht bei Gott allein.«

»Gleichviel. Laßt uns um Glauben flehen. Sind wir Christen, so werden die Tore des Ghetto fallen.«

»Christen!« klang es wie ein Echo aus Rahels und Miriams Munde in gleichem Entsetzen.

»Ja, Christen«, sagte Joseph unerschüttert.

Rahel lief zur Tür und schloß sie fester. Ihr bebten die Glieder. »Still!« hauchte sie. »Laß deinen Wahnsinn nicht zu weit gehen. Gott Abrahams, wenn dich einer hörte und dein Geschwätz dem Vater berichtete.« Verzweifelt rang sie die Hände.

»Joseph, komm zu dir«, bat Miriam, aufs tiefste betroffen. »Ich bin kein Gelehrter, sondern nur eine Frau. Aber du – du, der so viel gelernt – du hast dich doch nicht etwa von diesen Taschenspielern mit ihren heiligen Evangelien betören lassen? Sicherlich vermagst du ihnen auf ihre Verdrehungen unserer Propheten zu antworten!«

»Ach, Miriam«, erwiderte Joseph sanft. »Bist du auch so wie unsere Brüder? Sie haben kein Verständnis dafür. Das Herz kommt dabei nur in Frage, nicht die Worte. Was fühle ich als das Höchste, Göttlichste in mir? Opferung. Daher muß er, der ganz Aufopferung, ganz Märtyrer war, göttlich sein.«

»Verschwende kein Wort mehr an ihn, Miriam«, schrie die Mutter. »Ach, du Ungläubiger, den ich zur Strafe für meine Sünden geboren! Warum vernichtet dich nicht das himmlische Feuer hier auf der Stelle!«

»Du sprichst von Märtyrertum, Joseph«, rief Miriam, sich selbst vergessend, »wir Juden sind die Märtyrer, nicht die Christen. Wie das Vieh sind wir eingesperrt. Mit schimpflichen Merkmalen sind wir gekennzeichnet. Unser Talmud ist verbrannt. Unsere Besitzungen sind uns abgenommen. Von jedem achtbaren Beruf sind wir ausgeschlossen. Nicht einmal unsere Toten dürfen wir ehrenvoll begraben oder ihnen eine Grabschrift widmen.« Die Leidenschaft in ihrem Antlitz kam der seinen gleich. Ihre Sanftmut hatte sich in Feuer verwandelt. Sie glich einer Judith, einer Jael.

»Unsere eigene Feigheit macht, daß sie auf uns speien, Miriam. Wo ist der Geist der Makkabäer geblieben, dem wir am Chanukafeste lobsingen? Der Papst erläßt Bullen und wir gehorchen – äußerlich wenigstens. Unser Widerstand ist gelähmt, schweigt. Er befiehlt gelbe Hüte, wir tragen sie; doch allmählich werden die gelben Hüte dunkler, sie werden orange, ockerfarben, bis wir schließlich mit roten Hüten gehen, wie manche Kardinale, und ein neues Edikt heraufbeschwören. Wir werden auf eine Synagoge beschränkt; wir haben deren fünf für unsere Leute, aber wir bauen sie unter einem Dache und nennen vier davon Schulen.«

»Schweig, du Judenhasser«, schrie die Mutter. »Sage so etwas nicht laut. Mein Gott! Mein Gott! wie habe ich mich gegen dich versündigt!«

»Was willst du, Joseph!« sagte Miriam. »Mit Wölfen kann man nicht streiten, wir sind so wenige – wir müssen ihnen durch List beikommen.«

»Doch wir geben uns ja für Zeugen Gottes aus, Miriam. Unser Glaube besteht nur daraus, Gebete zu murmeln und frommen Mummenschanz zu treiben. Die christlichen Apostel zogen verkündigend durch die Welt. Besser ein kurzes Heldentum als diese lange Schmach.« Er brach plötzlich in Tränen aus und sank erschöpft in einen Stuhl.

Sofort war die Mutter an seiner Seite und beugte ihr tränenfeuchtes Antlitz zu ihm hinab.

»Dem Himmel Dank! Dank!« schluchzte sie. »Der Wahnsinn ist gewichen.«

Er gab keine Antwort. Er hatte nicht die Kraft, noch mehr zu streiten. Ein langes, gespanntes Schweigen herrschte. Jetzt fragte die Mutter:

»Wo fandest du denn Unterkunft für die Nacht!«

»Im Palast Annibales de Franchi.«

Miriam stutzte. »Des Vaters der schönen Helena de Franchi?« fragte sie.

»Demselben«, sagte Joseph errötend.

»Wie kamst du dazu, dort Schutz zu finden, in einem so vornehmen Hause, unter dem Dache eines Vertrauten des Papstes!«

»Erzählte ich dir nicht, Mutter, wie ich beim letzten Karneval seiner Tochter einen kleinen Dienst erwies! Sie hatte sich maskiert unter die Menge auf den Korso gewagt und wurde beinahe von den Büffeln niedergetrampelt, als sie von der Rennbahn flohen.«

»Nein, ich erinnere mich an nichts dergleichen«, sagte Rahel, den Kopf schüttelnd. »Aber du erinnerst mich daran, wie diese Christen uns wettrennen lassen wie Tiere.«

Er überhörte den Vorwurf, der darin lag.

»Signor de Franchi hätte viel für mich getan«, fuhr er fort. »Aber ich bat ihn nur, seine große Bibliothek benutzen zu dürfen. Du weißt, wie schwer es für mich ist, daß die Christen uns Bücher verweigern. So saß ich manchen Tag dort und las, bis die Vesperglocke mich mahnte, ins Ghetto zurückzukehren.«

»Ach! nur um dich abwendig zu machen, tat er das.«

»Nein, Mutter, wir sprachen nicht über Religion.«

»Und am letzten Abend hattest du dich zu sehr in dein Lesen vertieft!« warf Miriam dazwischen.

»Ja, so war es, Miriam.«

»Doch, weshalb warnte dich Helena denn nicht!«

Jetzt stutzte Joseph; dann aber erwiderte er einfach:

»Wir lasen im Tasso. Sie hat große Begabung zum Lesen. Zuweilen las sie mir Stellen aus Plato und Sophokles vor.«

»Und du, unser zukünftiger Rabbiner, du hörtest zu!« rief Rahel.

»Kein Wort von Christentum kommt darin vor, Mutter, auch befriedigen die Griechen die Seele nicht. Weise sang Jehuda Halevi: Halte dich fern von der Weisheit der Griechen.«

»Saßest du bei der Messe neben ihr!« sagte Miriam.

Offenherzig blickte er sie an.

»Sie ging nicht hin«, sagte er.

Miriam machte eine plötzliche Bewegung nach der Tür.

»Nun, da du in Sicherheit bist, Joseph, habe ich hier nichts mehr zu tun. Gott schütze dich.«

Heftig hob sich ihr Busen. Sie eilte hinaus.

»Arme Miriam!« seufzte Rahel. »Sie ist ein liebes, zuverlässiges Mädchen; sie wird keinen Laut von deinen Lästerungen verraten.«

Joseph sprang auf, wie elektrisiert.

»Keinen Laut verraten! Aber, Mutter, ich will es ja von den Giebeln der Häuser in alle Welt rufen.«

»Still! still!« hauchte seine Mutter, rasend vor Schreck. »Die Nachbarn könnten dich hören.«

»Das wünschte ich.«

»Jeden Augenblick kann dein Vater kommen, um zu sehen, ob du sicher zu Hause bist.«

»Ich will zu ihm gehen, seine Angst zu beruhigen.«

»Nein!« Sie hielt ihn am Mantel fest. »Ich lasse dich nicht fort. Schwöre mir, daß du ihn mit deinen Lästerungen verschonst, sonst könnte er dich auf der Stelle totschlagen.«

»Willst du, daß ich vor ihm lügen soll? Er muß erfahren, was ich dir erzählt habe.«

»Nein, nein, sage, du seist ausgeschlossen gewesen und habest dich versteckt gehalten.«

»Wahrheit allein ist groß, Mutter. Ich gehe, ihm Wahrheit zu bringen.« Er entzog ihr sein Gewand und stürzte hinaus.

Sie saß am Boden und wiegte sich hin und her, gemartert von Seelenpein. Träge schleppten sich die Stunden dahin. Niemand kam, weder Sohn noch Gatte. Schreckliche Bilder dessen, was sich wohl zwischen ihnen zugetragen haben könnte, quälten sie. Gegen Mittag stand sie auf und begann mechanisch das Mahl für ihren Gatten zu bereiten. Zur selben Minute, wie es seine jahrelange Gewohnheit war, kam er. Ihrem angstvollen Auge erschien sein strenges Antlitz bleicher als gewöhnlich, doch es verriet nichts. In gewohntem Schweigen wusch er seine Hände, sprach den Segen und setzte sich an den Tisch. Hundertmal schwebte die bange Frage auf Rahels Lippen, aber erst gegen Ende der Mahlzeit wagte sie die Worte: »Unser Sohn ist zurück. Hast du ihn nicht gesehen?« »Sohn! welcher Sohn? Wir haben keinen Sohn.« Er beendete sein Mahl.

III.

Der talmudgelehrte Apostel, der so von Verwandten und Freunden ausgestoßen war, wurde von der heiligen Kirche freudig willkommen geheißen; um so wärmer, da er aus eigenem inneren Antrieb gekommen war und die jährliche Geldbeisteuer verschmähte, mit der die Päpste wahre Religion belohnten – freilich auf Kosten des Ghetto, das dieses Einkommen seiner Abtrünnigen zu zahlen hatte. Es war Sitte, bekehrte Juden mit anderen zusammen zu taufen – zur größeren Ehre der heiligen Kirche. Da heimische Katechumenen selten waren, wurde den Juden manchmal ein türkischer Proselyt zugestellt. Aber in Anbetracht der Bedeutung dieses Übertritts, und da Epiphanias dicht bevorstand, ward es beschlossen, Joseph ben Manasse die Ehre einer Einzeltaufe zu gewähren. Die dazwischenliegenden Tage verbrachte er in einem Kloster, um seinen neuen Glauben zu studieren. So war es unmöglich, mit seinen Eltern und seinen jüdischen Glaubensgenossen in Verbindung zu bleiben, selbst wenn er oder sie es gewollt hätten. Ein Kardinalserlaß untersagte ihm, ins Ghetto zurückzukehren oder während der Vorbereitungszeit mit einem seiner Rassegenossen zu essen, zu trinken, zu schlafen oder zu sprechen; Peitsche oder Strang erwartete den Übertreter dieses Gebotes. Am Tage gingen Rahel und Miriam in der Nähe des Klosters umher, in der Hoffnung, seiner ansichtig zu werden; mehr als auf neunzig Ellen durften sie sich bei Strafe von Stockschlägen oder Verbannung nicht nähern. Ein Wort an ihn, eine Botschaft, die ihn erweicht, eine Unterredung, die ihn wieder zurückgebracht hätte, und der Missetäter wäre zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verdammt worden.

Epiphanias kam heran. Eine große Menge füllte die Lateransbasilika. Der Papst selbst war anwesend, und inmitten scharlachnen Pomps und schallender Musik nahm Joseph, bewegt bis in die Tiefen seiner Seele, die Sakramente entgegen. Annibale de Franchi, dessen stolzer Familienname fortan auch der Josephs sein sollte, stand Pate. Der ausübende Kardinal wünschte in seiner feierlichen Predigt der Versammlung Glück zu dem Wunder, das sich unter ihrer aller Augen vollzogen. Dann wurde der Neubekehrte, gekleidet in weißen Atlas, langsam durch die Straßen Roms geführt, um so aller Welt zu bezeugen, wie eine Seele dem wahren Glauben gerettet worden sei. In der Begeisterung dieser Aufnahme in die menschliche Brüderschaft, die Gott zum Vater hat und Christus zu seinem Symbol, gewahrte Guiseppe de Franchi nicht die düsteren, verstörten Gesichter seiner Brüder in der Menge, nicht den Haß, der aus ihren ergrimmten Augen loderte, als die festliche Prozession vorüberzog. Auch ließ er es sich nicht träumen, als er an diesem Abend vor dem Kruzifix und dem Heiligenbild kniete, daß seinetwegen eine andere Zeremonie begangen wurde, dort in der Synagoge auf der Piazza des Tempels, auf halbem Wege vom Flusse; eine Szene, die in ihrer ganzen Düsterheit eindrucksvoller war als aller Glanz des Kirchengepränges.

Die Synagoge lag versteckt, äußerlich nicht von den Nachbarhäusern zu unterscheiden. Innen glänzten Gold und Silber an den Paradiesäpfeln und Glöckchen der Gesetzesrollen und an der Stickerei des Vorhangs, der die Bundeslade verhüllte. Die Scheiben eines der Fenster, das in zwölf Farben leuchtete, nach den »zwölf Stämmen«, stellten die »Urim und Thummim« dar. In dem Hofe stand ein Modell des alten Tempels von Jerusalem, bis ins einzelne wunderbar ausgeführt, ein Andenken an entschwundenen Glanz.

Der »Rat der Sechzig« hatte gesprochen. Joseph Ben Manasse sollte die äußerste Strenge des jüdischen Gesetzes erleiden. Ganz Israel war in den Tempel zusammenberufen. Schreckliche, angstvolle Schwüle brütete über der Versammlung; wie in Todesschweigen hielt jeder der Männer eine schwarze Fackel empor, die in dem Dunkel der Synagoge geisterhaft flackerte. Ein Widderhorn erklang schrill und fürchterlich, und beim Klange seiner urwüchsigen Töne ward der Kirchenbann verhängt, die schreckliche Verdammnis, die dem Geächteten jedes menschliche Recht entzog, im Leben wie im Tode. Dann verlöschte die Gemeinde ihre Fackeln und rief »Amen«, und ein gleich tiefes Dunkel breitete sich über Manasses Gemüt. Er wankte nach Hause, um dort mit seinem Weibe auf dem Fußboden zu sitzen und den Tod ihres Josephs zu beklagen, während das Sterbelicht in dem Ölgefäß matt leuchtete und die Gebete für den Seelenfrieden des Dahingeschiedenen sich leidenschaftlich in die verdorbene Luft des Ghetto schwangen. Miriam aber, das madonnengleiche Antlitz mit heißen Tränen benetzt, verbrannte den Gebetschal, an dem sie webte, in heimlicher Liebe zu dem Manne, der ihr eines Tages seine Liebe schenken sollte. Dann ging sie, den Trauernden ihr Beileid zu sagen und hielt Rahels rauhe Hand in ihren weichen, sanften Fingern, die nie ein Liebender umfangen sollte.

Doch Rahel weinte um ihr Kind und war nicht zu trösten.

IV.

Helena de Franchi erzählte Guiseppe de Franchi von dem Banne. Durch eine ihrer Zofen hatte sie davon gehört, die diese Neuigkeit von Schlaume, dem Spaßvogel, erfahren hatte, einem unverschämten, spaßigen Schelm, der zwischen Jud und Christ seinen ränkevollen Weg zum Profit verfolgte.

Guiseppe lächelte – ein sanftes Lächeln, dem die Tränen nicht fern lagen. »Sie wissen nicht, was sie tun«, sagte er.

»Deine Eltern betrauern dich wie einen Verstorbenen.«

»Sie betrauern den verstorbenen Juden; die Liebe des lebenden Christen soll sie trösten.«

»Aber du darfst ja nicht zu ihnen, noch sie zu dir.«

»Durch den Glauben werden Berge versetzt; im Geiste umarme ich sie. Wir werden uns doch gemeinsam freuen dürfen im Lichte des Erlösers, denn das Weinen mag währen eine Nacht, aber am Morgen kommt die Freude.« Sein bleiches Antlitz strahlte in himmlischem Glanze.

Helena betrachtete ihn mit mitleidigem Staunen. »Du bist seltsam verzückt, Ser Guiseppe«, sagte sie.

»Das ist nicht seltsam, Signora, ganz einfach ist es – wie eines Kindes Gedanke«, sagte er und begegnete ihren klaren Augen mit seinem tiefen, mystischen Blick.

Groß und schön war sie; eher eine jener griechischen Statuen, wie sie die Bildhauer der Zeit nachahmten, als ein römisches Mädchen. Ein einfaches Kleid aus weißer Seide verriet die feinen Linien ihrer Gestalt. Durch das große Erkerfenster, in dessen Nähe sie standen, umspielte kaltes Sonnenlicht ihr Haar und schuf Lichtflecken auf den streifigen Tierfellen, die den Boden bedeckten, und auf den herabhängenden Teppichen an den Wänden. Die Gemälde und Elfenbeinschnitzereien, die Manuskripte und Büsten, alles trug dazu bei, das Gemach zu einer harmonischen Fassung für ihre edle Gestalt zu machen. Als er auf sie blickte, bebte er.

»Was soll fortan dein Leben sein«, fragte sie.

»Ergebung, Opferung«, sagte er, halb flüsternd. »Meine Eltern haben recht. Joseph ist tot. Sein Wille gehört Gott, sein Herz Christo. Mein Leben soll ein Dienen sein.«

»Wem willst du dienen?«

»Meinen Brüdern, Signora.«

»Sie verstoßen dich.«

»Doch ich verstoße sie nicht.«

Einen Augenblick schwieg sie; dann rief sie leidenschaftlicher: »Aber, Ser Guiseppe, du wirst nichts ausrichten. Hundert Generationen konnten sie nicht aufrütteln. Die Bullen aller Päpste ließen sie unbeugsam.«

»Keiner versuchte es mit Liebe, Signora.«

»Du willst dein Leben wegwerfen.«

Er lächelte bedeutungsvoll: »Du vergißt, daß ich tot bin.«

»Du bist nicht tot – der Lebenssaft fließt in deinen Adern. Die Frühlingszeit des Jahres naht. Sieh, wie die Sonne schon am blauen Himmel scheint. Du sollst nicht sterben – du sollst dich an der Sonne und der Schönheit der Dinge freuen.«

»Der Sonnenschein ist nur das Symbol der göttlichen Liebe, die aufbrechenden Knospen sind nur das Sinnbild der Auferstehung und des ewigen Lebens.«

»Du träumst, Guiseppe mio. Du träumst, und doch sind deine wunderbaren Augen offen. Ich verstehe nicht deine Liebe, die sich von irdischen Dingen abwendet, die deinem Vater und deiner Mutter das Herz zerreißt.«

Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Geduld! irdische Dinge sind gleich Schatten, die schwinden. Du gerade träumst, Signora. Fühlst du nicht die Vergänglichkeit aller Dinge – ja, selbst dieser weiten Erde, die von Dauer zu sein scheint, des sie überwölbenden Daches und der schönen Lichter, die daran strahlen, zu unserer vergänglichen Freude? Diese Sonne, die täglich am Firmament dahinzieht, ist nur ein gemaltes Trugbild, verglichen mit jenem ewigen Fels, der Liebe Christi.«

»Deine Worte sind klingende Zimbeln meinem Ohre, Ser Guiseppe.«

»Sie sind die Zimbeln deines Glaubens, Signora.«

»Nein, nicht meines Glaubens«, rief sie heftig. »Du weißt, im Herzen bin ich keine Christin, noch ist einer unseres Hauses ein Christ, obgleich sie sich dessen kaum bewußt sind. Mein Vater fastet wohl zur Fastenzeit, doch der Heide Aristoteles erfüllt seine Gedanken. Rom betet seine Rosenkränze und murmelt seine Paternoster, aber dem schlichten Glauben der Entsagung ist es längst entwachsen. Unsere Prunkaufzüge und Prozessionen, unsere glänzenden Feste, unsere prächtigen Gewänder, was haben sie mit dem bleichen Erlöser zu tun, dem du törichterweise nacheifern willst!«

»Dann gibt es ja selbst unter den Christen eine Aufgabe für mich«, sagte er mild.

»Nein, du würdest nur Unheil anrichten mit diesem seelenlosen Glaubensgespenst. Die Künstler sind es, die der Welt die Freude wiedergebracht, die die Seele der Schönheit in allen Dingen entdeckt haben. Obschon sie vorgeblich die heilige Familie, die Kreuzigung, den toten Heiland und das heilige Abendmahl gemalt haben, des Lebens Lieblichkeit war es, die ihre Kunst begeisterte. Ja, seit dem andächtigen Giotto ist es ein Preislied des Lebens, die Erhabenheit der menschlichen Gestalt, die Freude an der Farbe, die Würde des Menschen, die Verehrung der Musen. Sind denn nicht unsere Edlen selbst als Apostel gemalt worden, haben sie nicht ihre Bilder in heiligen Szenen anbringen lassen, haben sie nicht verstanden, wofür diese religiöse Kunst ein Vorwand war? Ist Rom nicht voll von heidnischer Kunst? Wurden nicht Laokoon, Kleopatra und Venus im Orangegarten des Vatikans aufgestellt?«

»Dennoch malten eure Maler am liebsten die Madonna mit dem Kinde.«

»Nur Venus und Kupido in anderer Gestalt.«

»Nein, dieser Spott paßt nicht zu der edlen Signora de Franchi. Du kannst nicht blind sein für das göttliche Sehnen, das eine Madonna Sandro Botticellis verrät.«

»Du sahst nicht seine Fresken in der Villa Lemmi bei Florenz, die köstliche Anmut seiner Gestalten, die bezaubernde Farbe, sonst würdest du begreifen, daß es nicht geistige Schönheit allein war, die seine Seele begehrte.«

»Aber Raffael da Urbino, Lionardo ...«

»Lionardo?« wiederholte sie. »Hast du seinen Bacchus gesehen oder sein Schlachten-Fresko? Kennst du die späteren Werke Raffaels? Und was sagst du zu unserem Fra Filippo Lippi? Fürwahr, ein christlicher Mönch! Was sagst du zu Giorgione von Venedig und seinen Schülern, zu dieser Blütezeit des Liebreizes, zu unseren Bildhauern und Baumeistern, zu unseren Goldschmieden und Musikern? Ja, wir haben das Geheimnis Griechenlands wieder entdeckt. Wir leben Homer, Plato, die edle Einheit des Sophokles. Unser Dante sagte Unwahres, wenn er meinte, Virgil wäre sein Führer gewesen. Der Poet von Mantua führte nie die Sterblichen in jene Regionen des Schmerzes. Er singt von Herden und Bienen, von Vögeln und sprudelnden Bächen und von der einfachen Liebe des Schäfers. – Und wieder lauschen wir ihm und atmen die süße Landluft, die dem Gemüt wohltuender ist als jener Höllendunst, der für Jahrhunderte das Leben vergiftet. Apollo ist Gott, nicht Christus.«

»Nicht Apollo, Apollyon ist es, der Rom so mit weltlichen und fleischlichen Lüsten versucht.«

»Du entthronst die Königin Vernunft, Ser Guiseppe. Du weißt, diese Dinge erheben unsere Seelen, sie erniedrigen sie nicht. Warst du nicht mit mir hingerissen von der Schönheit eines gemalten Antlitzes, von der Glut der leuchtenden Farbe, von der weißen Glorie einer Statue!«

»Ich sündige, wenn ich die Schönheit um ihrer selbst willen liebte, und – vergib, Herrin, wenn ich dir wehe tue – diese Verehrung der Schönheit ist für die Reichen, die Satten, die Wenigen. Was aber ist für den Armen, den Niedergetretenen, der in Trübsal weint! Welchen Trost hat dein Glaube für diesen bereit? All diese Wunder der Menschenhand, des Menschengeistes sind wie Spreu, abgewogen gegen ein reines Herz, eine gerechte Tat. Die Zeitalter der Kunst waren immer die der Greuel, Signora. Nicht im Können, sondern in der Einfalt offenbart sich unser Herr. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.«

»Hier ist das Himmelreich.« Ihre Augen funkelten. Ihr Busen hob sich. Das Feuer ihres Blickes entzündete das seine. Ihre Lieblichkeit erregte ihn und die unvergleichliche Schönheit ihres Antlitzes, ihrer Gestalt, die in diesem Augenblicke die Reinheit einer Statue mit der Wärme eines lebenden Weibes vereinte.

»Wahrlich, wo Christus ist, da ist das Himmelreich. Du hast dich in solcher Lichtfülle bewegt, Signora de Franchi, du wirst deines Vorrechtes nicht gewahr. Doch ich, der ich immer im Dunkel wandle, ich bin wie ein Blinder, der sehend geworden. Ich war ehrgeizig, wollüstig, zerrissen von Zweifeln und Fragen; nun bade ich in göttlichem Frieden; all meine Fragen sind beantwortet, mein stürmisches Blut ist beruhigt. Liebe, Liebe, das ist alles; das Unterordnen des Einzelwillens unter die Liebe, die die Sonne und alle Sterne bewegt, wie euer Dante sagt. Das ist der Endzweck, darum nur bewegen sich Sonne und Sterne, Signora – damit die Seelen der Menschen geboren werden und sterben in der Einheit mit der Liebe. Oh, meine Brüder« – verlangend breitete er die Arme aus, seine Augen waren voll Tränen, tränenvoll seine Stimme –, »warum feilscht ihr auf dem Marktplatze! Warum speichert ihr Gold und Silber auf? Warum jagt ihr den nichtigen Schatten irdischer Freude nach? Das nur, das ist wahres Entzücken, sich Gott zu ergeben, ganz und gar, nur danach zu trachten, das Werkzeug seines heiligen Willens zu sein.«

Tiefes Staunen sprach aus Helenas Antlitz; einen Augenblick spielte darauf ein Licht des Verständnisses, als sehne sie sich nach dieser seltsamen Entrückung, die ihr fremd war.

»Alles das ist reine Torheit. Deine Brüder werden ebensowenig jetzt auf dich hören wie jemals.«

»Tag und Nacht will ich beten, daß heiliges Feuer meine Lippen berühre.«

»Liebe ist auch ein heiliges Feuer, willst du ohne sie leben!« Sie näherte sich ihm; ihr Atem traf die schwarze Locke auf seiner Stirn. Er wich einen Schritt zurück, bebend.

»Mich verlangt nach göttlicher Liebe, Signora.«

»Hast du die Absicht, Dominikaner zu werden?«

»Ich bin dazu entschlossen.«

»Wird dich das Kloster befriedigen?«

»Es wird der Himmel für mich sein.«

»Da, wo es keine Ehre und kein Hingeben gibt. Was ist das für ein Samson-Glaube, der die Pfeiler der menschlichen Gesellschaft stürzt?«

»Nein, Heirat ist nur Schema – das Symbol einer göttlicheren Vereinigung. Doch sie ist nicht für alle Menschen, nicht für jene, die göttliche Dinge anders versinnbildlichen, die ihren Mitmenschen das Fleisch gekreuzigt, die Seele erhoben darstellen. Sie ist nicht für Priester.«

»Doch du bist ja kein Priester.«

»Das ist nur eine Frage von Tagen. Und wenn mich der Orden selbst zurückweist, werde ich doch im Zölibat bleiben.«

»Im Zölibat bleiben? Weshalb denn?«

»Weil mein eigen Volk von mir abgeschnitten ist. Würde ich eine Christin heiraten, wie so viele jüdische Bekehrte, so wäre die Kraft meines Beispiels verloren. Sie würden von mir dasselbe sagen, was sie von ihnen sagten – daß es nicht das Licht Christi gewesen sei, sondern einer Christin Augen, die berückten und hinüberzogen. Hart sind sie, sie glauben nicht an die Möglichkeit einer wirklichen Bekehrung. Andere haben sich durch Abtrünnigkeit bereichert oder, wenn sie reich waren. Beisteuern und Gebühren, die ihren Reichtum mindern konnten, vermieden. Doch ich habe mein ganzes Erbe verloren und will nichts annehmen. Deshalb schlug ich deines Vaters gütiges Anerbieten aus, die Stelle im Siegelamt und selbst den bescheideneren Posten eines Stabträgers Seiner Heiligkeit. Wenn meine Brüder ferner sehen werden, daß ich von ihnen weder Pension noch irgendwelches Geld – auch nicht einen roten Heller – fordere, daß ich ihnen predige, ohne Lohn zu nehmen, nur allein aus Liebe zum Himmel; wenn sie sehen werden, daß ich rein und einsam lebe, dann werden sie mir lauschen. Vielleicht werden ihre Herzen bewegt, ihre Augen geöffnet.« Sein Antlitz leuchtete in bleichem Glanze. Daran hatte es wirklich bis jetzt gefehlt, das fühlte er. Kein Jude hatte je als einwandfreier Christ vor seinen Brüdern gestanden, über jeden Argwohn erhaben, ohne Furcht und Tadel. Oh, welch glücklicher Vorzug, diesen Apostelberuf erfüllen zu dürfen!

»Aber vorausgesetzt ...« Helena zögerte; dann schlug sie ihre holden Augen auf und begegnete den seinen in furchtloser Offenheit, »sie, die du liebst, wäre keine Christin!«

Er bebte, ballte die Hände zusammen, um die heiße Woge irdischer Erregung zurückzudämmen, die ihn überwallte unter der Glut ihrer Augen, wie wenn der Mond die Flut anzieht.

»Ich würde gleichfalls meine Liebe ertöten«, sagte er tonlos. »Die Juden sind hart, sie machen nicht feine Unterschiede. Sie kennen nur Juden und Christen.«

»Mir scheint, ich sehe meinen Vater die Straße heraufreiten«, sagte Helena und wandte sich zum Erkerfenster. »Das scheint seine Feder und sein braunes Berberroß zu sein. Doch die Sonne blendet mich! Ich will dich allein lassen.«

Sie ging zur Tür, ohne ihn anzublicken. Dann wandte sie sich plötzlich zu ihm, daß seine Augen geblendet waren und sagte:

»Mein Herz ist mit dir, was du auch wählen magst. Aber bedenke dich wohl, ehe du Kutte und Priestergewand anlegst, dieses lieblose Gewand, das, um in deinem Sinne zu sprechen, alles das kennzeichnet, was ohne Liebe ist. Addio!«

Er folgte ihr, nahm ihre Hand, bückte sich herab und küßte sie ehrerbietig. Sie entzog sie ihm nicht.

»Besitzest du die Kraft zu Geißel und Strang, Guiseppe mio?« fragte sie sanft.

Er richtete sich auf, ihre Hand in der seinen haltend.

»Ja«, sagte er. »Du sollst mich begeistern, Helena. Der Gedanke an deine strahlende Reinheit soll mich rein erhalten und nicht schwanken lassen.«

Ein unergründlicher Ausdruck huschte über Helenas Antlitz. Sie entzog ihm ihre Hand.

»Ich kann nicht zum Sterben begeistern,« sagte sie, »nur zum Leben.«

Er schloß seine Augen in traumhafter Entrückung. »Es ist kein Sterben. Es ist die Auferstehung und das Leben«, murmelte er.

Als er seine Augen öffnete, war sie fort. Er fiel auf die Knie nieder in heißem Gebet, in der Todespein der Kreuzigung des Fleisches.

V.

Wahrend seines Noviziats, bevor er sein Mönchsgelübde ablegen durfte, hielt er eine »Probepredigt für die Juden« in einem großen Betsaal in der Nähe des Ghetto. Eine Kirche wäre durch die Gegenwart von Ketzern besudelt worden, und selbst aus diesem Betsaal waren alle kirchlichen Gerätschaften, die dort lagen, entfernt worden. Da war eine glänzende Versammlung angesehener Christen, reichgekleidet in goldbefranste Mäntel, mit Seidenbändern geputzten Hüten, denn Guiseppes Beredsamkeit wurde gerühmt. Annibale de Franchi saß in pomphaftem Aufzug ganz vorn. Ein Jude erschien – Schlaume, der Spaßvogel. Auf seine Geschicklichkeit, sich aus dem Vorwurf des Bannbruchs herauswinden zu können, konnte er sich verlassen. Schlaume hoffte sogar, ein oder zwei Mahlzeiten dadurch herausschlagen zu können, daß er den »Fattori« und den anderen Würdenträgern des Ghetto über die Vorgänge berichtete – ihrer menschlichen Neugier konnte er wohl sicher sein. Schlaume war an Listen reich, war er nicht sogar monatelang vor aller Christenheit mit einem hochroten Hut umherstolziert? Hatte er nicht, als er schließlich vor die Caporioni gebracht wurde, vorgegeben, das sei nur ein Musterstück der Hüte, die er verkaufte, sein eigentlicher gelber Hut säße, ohne daß er ihn absichtlich verbergen wollte, darunter. Doch jetzt freute sich Guiseppe de Franchi, da er dieses Mannes ansichtig wurde.

»Er ist schwatzhaft, er wird die Saat ausstreuen«, dachte er.

Spät am Nachmittage des nächsten Tages ging der Priester durch die Via Lepida, nahe dem Dominikanerkloster. Da fühlte er sich am Mantel gezogen. Er wandte sich um. »Miriam!« rief er und prallte zurück.

»Warum erschrickst du vor mir, Joseph?«

»Weißt du nicht, daß ich unter dem Banne bin? Sieh, steht dort drüben nicht ein Jude, der uns beobachtet?«

»Ich mache mir nichts daraus. Ich habe dir etwas zu sagen.«

»Doch du wirst verflucht werden.«

»Ich muß dir etwas sagen.«

Seine Augen flammten auf. »Ach, auch du bist gläubig geworden!« rief er frohlockend. »Du hast das Heil gefunden.«

»Nein, Joseph, das wird nie geschehen. Ich liebe den Glauben unserer Väter. Es dünkt mich, ich habe ihn besser verstanden als du, trotzdem ich nicht die heilige Wissenschaft erforscht habe wie du. Mit dem Herzen allein verstand ich ihn.«

»Warum kommst du dann? Wir wollen hinab zum Kolosseum gehen; dort ist es ruhiger, auch ist es weniger von unseren Brüdern besucht.«

Sie verließen die Geschäftsstraße mit ihrem lärmenden Getriebe, den Fuhrwerken, den Wasserträgern mit ihren Eseln, den Lastträgern, den Edelleuten zu Pferde mit ihrem Gefolge und den rauflustigen Kriegern, deren Beschimpfung Miriam ausgesetzt war; denn sie fiel auf durch ihre Schönheit und durch das Viereck aus gelbem Tuch, das anderthalb Handbreit über ihrem Scheitel saß.

Schweigend schritten sie weiter, bis sie zum Titusbogen kamen. Unwillkürlich blieben beide stehen, denn da seine Reliefs auch einen Tempelleuchter als Beute zeigten, durfte kein Jude durch den Triumphbogen des Titus schreiten. Titus und sein Reich waren dahin, aber der Jude hegte noch seine Erinnerungen und Träume.

Schwefelgelb ging die Sonne unter mit grünlichen Lichtern. So hing sie über den Tempelruinen der alten Gottheiten und über dem mit Gras bewucherten Forum Romanum. Wie mit Blut übergoß die scheidende Sonne die oberen Bruchstücke der Kolosseumsmauern, hinter denen Tiere und Menschen den Beherrschern der Welt zur Belustigung gedient hatten. Der Rest der riesenhaften Ruine lag im Schatten.

»Geht es meinen Eltern gut?« fragte Joseph endlich.

»Hast du die Stirn danach zu fragen? Deine Mutter weint den ganzen Tag, außer wenn dein Vater zu Hause ist. Dann scheint sie, gleich ihm, hart wie Stein, Er – ein Synagogenältester! – du wirst seine grauen Haare mit Leid in die Grube bringen.«

Ein Seufzer entrang sich ihm. Dann sagte er mit einer Härte, die fast der seines Vaters glich: »Dulden läutert, Miriam. Es ist Gottes Waffe.«

»Zeihe nicht Gott deiner Grausamkeit. Ich verabscheue dich.« Schnell fuhr sie fort: »Im Ghetto geht das Gerücht, daß du Dominikanermönch werden willst. Schlaume, der Spaßvogel, brachte die Nachricht.«

»So ist es, Miriam. Bald werde ich das Gelübde ablegen.«

»Doch wie kannst du Priester werden. Du liebst ja ein Weib.«

Bestürzt blieb er stehen.

»Was sagst du, Miriam?«

»Nein, jetzt ist nicht die Zeit zu leugnen. Ich kenne sie. Ich weiß von deiner Liebe zu ihr. Helena de Franchi ist es.«

Weiß wurde sein Antlitz in tiefer Erschütterung.

»Nein, ich liebe kein Weib.«

»Du liebst Helena.«

»Woher weißt du das!«

»Weil ich selbst ein Weib bin.«

Schweigend schritten sie weiter.

»Du kommst mir das zu sagen?«

»Nein! Das, daß du sie heiraten und glücklich werden sollst.«

»Ich – ich kann nicht, Miriam. Du verstehst das nicht.«

»Nicht verstehen! Ich kann dich lesen, wie du das Gesetz liest – ohne Vokale. Du denkst, wir Juden werden voll Verachtung mit dem Finger auf dich weisen, wir werden sagen, daß es Helena war, die du liebtest, nicht der Gekreuzigte. Du fürchtest, wir könnten nicht auf dein Evangelium hören.« »Ist dem nicht so?«

»So ist es.«

»Dann...«

»Doch es wird so sein, was du auch tun magst. Schneide dich in kleine Stücke, und wir werden nicht an dich und dein Evangelium glauben. Ich allein glaube an deine Wahrhaftigkeit, für mich bist du ein Mensch, der vom vielen Studieren wahnwitzig geworden. Joseph, dein Traum ist eitel. Die Juden hassen dich. Haman nennen sie dich. Gern würden sie dich am höchsten Baume hängen sehen. Dein Andenken wird ein Fluch sein bis zur dritten und vierten Generation. Du wirst sie nicht mehr aufrühren können wie die sieben Hügel Roms. Sie haben zu lange fest gestanden.«

»Ja, fest wie ein Stein standen sie. Ich will sie schmelzen, sie retten.«

»Du wirst sie zerstören. Rette dich lieber selbst – heirate diese Frau und werde glücklich.«

Er blickte sie an.

»Werde glücklich«, wiederholte sie. »Wirf nicht dein Leben weg für einen leeren Wahn. Werde glücklich. Das ist mein letztes Wort für dich. Von nun an achte ich den Bann als treue Tochter Judas, und wäre ich eine Mutter in Israel, so würde ich meine Kinder lehren, dich ebenso zu hassen, wie ich es tue. Friede sei mit dir.«

Er hielt sie an ihrem Gewand fest. »Gehe nicht ohne meinen Dank, obschon ich deinen Rat von mir weisen muß. Morgen werde ich in die Brüderschaft der Gerechtigkeit aufgenommen.« In dem bleichenden Licht schien sein Antlitz überirdisch und geisterhaft, umwallt von dem schwarzen Haar. »Doch warum wagst du deinen guten Namen, um mir zu sagen, du hassest mich?«

»Weil ich dich liebe. Lebe wohl!«

Sie eilte fort.

Er breitete seine Arme nach ihr aus. Seine Augen waren verhüllt wie von Nebel. »Miriam, Miriam!« rief er. Komme zurück, auch du bist eine Christin! Komm zurück, meine süße Schwester in Christo!«

Ein trunkener Dominikaner wankte in seine offenen Arme.

VI.

Die Juden wollten nicht kommen, Fra Guiseppe zu hören. Seine ganze leidenschaftliche Begeisterung wurde an eine Zuhörerschaft verschwendet, die sich aus Christen und längst überzeugten Neubekehrten zusammensetzte. Enttäuscht fiel er auf scholastische Beweisführungen, doch vergeblich wandte er die Waffen talmudistischer Dialektik gegen die Talmudisten selbst. Auch seine Entdeckung durch kabbalistische Berechnungen, daß der Name und das Amt des Papstes im Alten Testament vorausgesagt waren, vermochten nicht die Juden heranzuziehen, und nur auf den Straßen stieß er auf die scheelen Gesichter seiner Brüder. Monatelang predigte er mit geduldigem Wohlwollen, dann suchte er eines Tages verzweifelt und erschöpft eine Unterredung mit dem Papst nach, um zu bitten, den Juden sollte befohlen werden, seine Predigten zu besuchen. Er fand den Pontifex im Bett, unpäßlich, aber in fröhlichem Geplauder mit dem Bischof von Salamanca und dem Prokurator der Schatzkammer; augenscheinlich besprachen sie einen spaßigen Unfall, der dem französischen Legaten begegnet war. Sein blasses, schülerhaftes Gesicht lag auf den weißen Kissen zurückgelehnt unter der purpurnen Nachtmütze, aber dieses Antlitz wies auch Linien auf, die von energischem Handeln zeugten. Guiseppe blieb schüchtern an der Tür stehen, bis der Kleiderbewahrer, ein vornehmer Herr aus adligem Hause, ihn aufforderte, näherzutreten. Ehrfürchtig trat er heran, kniete nieder und küßte den Fuß des Papstes. Dann stand er auf und trug seine Bitte vor. Aber der Beherrscher der Christenheit runzelte die Stirn. Er war ein Gelehrter und von vornehmer Gesinnung, ein großer Beschützer der Wissenschaften und Künste. Seine Politik war für das Judentum stets verhältnismäßig milde gewesen, weiser als die der weltlichen Könige. Die auswärtige Politik nahm seine ganze Kraft in Anspruch, sehr zum Nachteil seiner Beliebtheit in Rom. Während Guiseppe de Franchi einem gelangweilten Prälaten verzweifelt seine Angelegenheit vortrug und ihm auseinandersetzte, wie er die jüdische Frage lösen könnte, wie er seinen Brüdern aufspielen könnte, wie David auf der Harfe, wenn er sie nur erst in dem Zauberbann seiner Stimme hätte, brachte ein Kammerherr eine Erfrischung auf silbernem Teebrett herein. Der Vorkoster schmeckte die Speise, um zu versichern, daß kein Gift darin sei, obgleich sie aus der päpstlichen Küche kam; und auf ein Zeichen Seiner Heiligkeit mußte Guiseppe beiseite treten. Ehe noch der Papst sein Mahl beendet, gab es andere Unterbrechungen. Der Leiter seiner Musikkapelle holte sich Unterweisungen für das Konzert für den Serragosto am ersten August, und zwei Goldschmiede kamen mit ihrer Arbeit und den Konkurrenzmodellen für einen Knopf zum päpstlichen Chorrock. In Guiseppe tobte und gärte es, während der heilige Vater seine Brille aufsetzte, um das große silberne Prachtgefäß zu prüfen, das sein Tafelgetränk aufnehmen sollte, mit den Henkeln aus reicher getriebener Arbeit, den Gewinden aus Akanthusblättern und den sinnreichen Masken. Dann prüfte er das Seitenstück dazu, das auf der Kredenz Platz finden sollte und für Wasser bestimmt war. Die schöne Darstellung darauf zeigte den heiligen Ambrosius zu Pferde, wie er die Arianer in die Flucht schlug. Als der eine der Goldschmiede entlassen war, vom päpstlichen Kanzler reich mit Dukaten bedacht, blieb der andere noch eine unerträglich lange Zeit, denn Seine Heiligkeit schien an seinem Wachsmodell sehr viel Freude zu haben und bewunderte, wie fein der Künstler Gottvater in dem Flachrelief dargestellt habe, wie ungezwungen die Haltung sei und wie trefflich er gerade den schönsten Schliff des größten Diamanten in die Mitte gebracht. »Beeile dich mit deiner Arbeit, mein Sohn,« sagte Seine Heiligkeit, als er ihn endlich entließ, »denn ich möchte den Knopf noch gern tragen, bevor ich sterbe.« Dann richtete er sein freudiges Gesicht auf Joseph: »Willst du irgend etwas von mir, Fra Guiseppe? Ach, ich erinnere mich! Du willst gern deinen halsstarrigen Verwandten predigen. E bene, ein schöner Ehrgeiz! Luigi, erinnere mich, daß ich morgen eine Bulle erlasse.«

Mit überströmenden Augen fiel der Mönch wieder dem Pontifex zu Füßen, küßte sie und murmelte unzusammenhängende Dankesworte. Dann ging er unter Verneigungen hinaus und eilte voller Freude ins Kloster zurück.

Pünktlich kam die Bulle heraus. Die Juden hätten der nächsten Predigt Fra Guiseppes beizuwohnen. Er sah dem Sabbatnachmittage in fast wahnsinniger Begeisterung entgegen. Eine wundervolle Predigt bereitete er vor. Die Juden würden es nicht wagen, das Edikt zu mißachten. Es war zu bestimmt, es konnte nicht übergangen werden. Stets kam ihr passiver Widerstand später, erst nachdem sie Gehorsam geleistet. Die Tage verstrichen. Die Bulle war nicht widerrufen worden, trotzdem er sich darüber klar war, daß Hintertreppeneinflüsse von den Bankiers der Gemeinde nicht unversucht geblieben waren. Die Bulle war nicht einmal eingeschränkt worden unter dem Vorwande, sie genauer zu erklären, wie es sonst die Art der Päpste bei zu rigorosen Erlassen war. Nein, nichts konnte die Juden vor dieser Predigt bewahren.

An dem Donnerstage brach eine Pest im Ghetto aus; am Freitag war ein Zehntel der Bevölkerung gestorben. Ein Übertreten des Tibers hatte die Fieberausdünstungen noch gesteigert in jenen zusammengedrängten Gassen, jenen dichtstehenden Häusern, die so recht zu Seuchenbrutstätten geschaffen waren. An dem Sonnabend wurden die Tore des Ghetto amtlich geschlossen. Die Seuche wurde eingesperrt. Drei Monate lang wurden die Ausgestoßenen der Menschheit in ihr verpestetes Gefängnis eingeschlossen, Tag und Nacht, für Leben und Sterben, wie es gerade kam. Als schließlich das Ghetto gesund war und wieder geöffnet wurde, waren es die Toten, nicht die Lebenden, die sich zusammengedrängt fanden.

VII.

Joseph, der Träumer, war halb betäubt durch diesen zweiten Stoß, der seine Träume vernichtete. Eine irdische Angst, die er sich nicht eingestehen wollte, verzehrte ihn, während die Seuche um sich griff und trotz aller Bemühungen über das Ghetto hinausging, als wollte sie die bestrafen, die solche Lebensbedingungen geschaffen hatten. Aber nicht für sich fürchtete er – sondern für Vater und Mutter und für die edle Miriam. Wenn er sich nicht gerade furchtlos der Pflege pestkranker Christen hingab, ging er in der Nähe der Totenstadt umher, von der keine Nachrichten kommen konnten. Als er endlich erfuhr, daß seine Teuren am Leben seien, traf ihn ein anderer Schlag. Die Bulle sollte doch durchgesetzt werden, aber das Ohr des Papstes war gegen die Überlebenden nicht so streng verschlossen. Er trug ihrem Haß für Fra Guiseppe Rechnung und achtete ihren Einwand, daß sie lieber jeden anderen Prediger hören wollten. Guiseppes Dominikanerbrüder sollten nun abwechselnd diese Pflicht ausüben, nur ihm wurde es untersagt zu predigen. Vergeblich versuchte er von neuem Einlaß bei Seiner Heiligkeit, ihm wurde der Zutritt verweigert. Damit begann jene seltsame Einrichtung, die Predica Coattiva, die aufgezwungene Predigt.

An jedem Sabbat hatte sich nach ihrem Synagogengottesdienst ein Drittel der Ghettobevölkerung (einschließlich aller Kinder über zwölf Jahren) abwechselnd einzufinden, um in der Kirche San Benedetto alla Regola das Gegengift zu empfangen. Die Kirche wurde nur für sie bereit gehalten, und dort gab ihnen ein Mönch die rechte Auslegung der Kapitel aus dem Alten Testament, die von ihrem eigenen Kantor vorgelesen wurden. Seine Heiligkeit, die einsichtsvoller war als ihre Untergebenen, hatte den Priestern eingeschärft, die Namen Jesu und der heiligen Jungfrau, die für jüdische Ohren so verletzend sind, zu vermeiden oder sie ganz leise auszusprechen. Allein der milde Geist dieser Anordnungen war von den Kanzelinhabern vergessen, einer Gemeinde gegenüber, die ihrer Gewalt ausgeliefert, die sie angreifen und auf die sie lostoben durften mit der ganzen grausamen Macht ihrer Rednergabe. Viele Juden, die sich widersetzten, wurden mit Gewalt in die Kirche befördert. Ein Polizeiaufgebot trieb sie mit Peitschen in die heilige Hürde. Diese neue Kirchenprozession von Männern, Frauen und Kindern sollte zu einem Schauspiel für Rom werden. Für den Mob war ein neues Vergnügen erfunden worden. Diese erzwungenen Andachten waren mit nicht geringen Kosten verknüpft. Noch zum Hohn hatten die Juden selbst die Kosten für ihre Bekehrung zu tragen. Sich der Predigt zu entziehen, war unmöglich; ein Register, das an der Kirchentür befestigt war, verzeichnete die Abwesenden, denen Geldstrafe und Gefängnis drohte. Um dieses Verzeichnis zu führen, bedurfte es eines Neubekehrten, dem jeder einzelne bekannt war, und der die, die in Stellvertretung kamen, preisgeben konnte. Wer wäre dazu geeigneter gewesen als der neue Ordensbruder? Vergeblich protestierte Joseph. Der Prior schenkte ihm kein Gehör. So, statt das erhabene Schauspiel eines Apostels zu geben, der keinen Lohn sucht, stand dieser machtlose Anstifter allen Unheils über sein Pult gebeugt und stellte durch scheue Seitenblicke die Identität der unwillig Kommenden fest. Wohl empfand er, daß er zu all den Leiden seiner Brüder noch den Schmerz zufügte, mit einem ausgestoßenen Juden in Berührung zu kommen, dessen Feder für ihren Sabbat schamlos Verachtung ausdrückte. An so manchem Sabbat sah er, wie sein Vater, ein trauriges, weißhaariges Wrack, mutwillig mit der Peitsche angetrieben wurde, um ihn schneller in die Kirchentür zu treiben. Am meisten trafen Joseph diese Peitschenhiebe. Wenn der Kirchendiener, der darauf aufzupassen hatte, daß die Gemeinde aufmerksam zuhörte und besonders darauf, daß sie sich die Predigt nicht durch Schlaf entgehen ließ, Rahel mit einem Eisenstab aufmunterte, überlief kalter Schweiß ihren unglücklichen Sohn. Wenn an jedem dritten Sabbat Miriam an seinem Pult vorüberging und ihre Augen fest, voll Verachtung, auf ihn richtete, so wurde er von Fieber geschüttelt, und kalt und heiß rann es durch seine Adern. Sein einziger Trost war, Reihen andächtiger Gesichter zu sehen, die zum ersten Male in ihrem Leben dem Evangelium lauschten. So hatte er wenigstens etwas zustande gebracht. Selbst Schlaume, der Spaßvogel, schien umgewandelt, mit ernster Ehrfurcht lauschte er den Priestern.

Joseph, der Träumer, wußte nicht, daß alle diese andächtigen Juden den launigen Rat, den Schlaume ersonnen, befolgt und sich die Ohren tief mit Watte verstopft hatten.

Inzwischen erntete jedoch Fra Guiseppe auf anderen Kanzeln großen Ruhm. Von nah und fern strömten die Christen herbei, ihn zu hören. Er ging unter das Volk, und das lernte ihn lieben. Er predigte bei Hinrichtungen, sein schwarzer Mantel und sein weißes Skapulier wurden gern gesehen in den abscheulichen Kerkern – er erteilte dem Sterbenden Absolution, bannte die bösen Geister. Doch da war ein Sünder, dem konnte er nicht Absolution erteilen, weder durch Abscheren des Haares noch durch Geißelung – dieser Sünder war er selbst. Und einen Dämon gab es, den konnte er nicht bannen – den in seiner eigenen Brust, Eins konnte er nicht stillen – das Leid seiner eigenen Seele, denn beständig verwundete sie sich an den Wirklichkeiten des Lebens und wurde nun von den Mängeln des Christentums ebenso zerrissen wie vorher von denen des Ghetto.

VIII.

Wieder war es Karneval – die tolle Lästerwoche in Saus und Braus. Die Straßen leuchteten in allen Regenbogenfarben von buntem Tand und hallten wider von dem Geschrei und Gelächter der Menge, die durch einen riesigen Fremdenzuzug noch vollzähliger war. Aus den Fenstern und von den Dächern, die schwarz waren von dem Menschengewimmel, warfen ausgelassene Hände Honig und faule Eier und gossen Schmutzwasser und sogar siedendes Öl auf die Fußgänger und Reiter herab. Blutige Tumulte entstanden, kirchenräuberische Maskenzüge fielen in die Kirchen ein. Sie trieben ihren Spott mit menschlichen und mit göttlichen Dingen. Peitsche und Galgen, von denen reichlich Gebrauch gemacht wurde, vermochten nicht der Zügellosigkeit des Volkes Einhalt zu tun. Jeder Verbotserlaß wurde zum toten Buchstaben. In solcher Zeit mochten die Juden wohl Grund haben zu zittern, waren sie doch den Christen ausgeliefert, die toll waren vor Lust. Immer schon die Prellsteine des Witzes, dienten sie zu Karnevalszeiten noch besonders der Spottlust. Am ersten Tage führte eine Abordnung der angesehensten Juden, einschließlich der drei Gonfalonieri und der Rabbiner, den Zug vor die Senatoren, und in einem Kostüm, das halb rot, halb gelb gefärbt war, durchschritten sie die ganze Stadt, von der Piazza del Popolo bis zum Kapitol durch ein Kreuzfeuer von Scherz und Spott. Am Kapitol angelangt, schritt die Prozession in die Thronhalle, wo die drei Konservatoren und der Prior der Caporioni auf hochroten Samtsesseln saßen neben dem Verwalter des kapitolinischen Staatsschatzes, in seiner schwarzen Toga und Samtkappe. Der Oberrabbi kniete auf der ersten Thronstufe nieder, und indem er sein ehrwürdiges Haupt zu Boden neigte, sprach er die übliche Formel: »voll Ehrerbietung und Ergebenheit für das römische Volk stellen wir, die Häupter und Rabbiner der untertänigen jüdischen Gemeinde, uns vor den erhabenen Thron Eurer Eminenzen, um ehrerbietig Treue und Huldigung im Namen unserer Glaubensbrüder zu entbieten und wohlwollendes Erbarmen anzurufen. Was uns betrifft, so wollen wir nicht verfehlen, den Allerhöchsten anzuflehen, Friede und eine lange, ruhige Herrschaft zu gewähren dem päpstlichen Herrn, der zu unser aller Glück regiert, ebenso dem apostolischen heiligen Stuhl und Euern Eminenzen, sowie dem erlauchtesten Senat und dem römischen Volke.«

Worauf der erste der Konservatoren erwiderte: »Wir nehmen mit Freude die Huldigung der Treue, der Unterwürfigkeit und der Hochachtung entgegen, der ihr heute im Namen der gesamten jüdischen Gemeinde von neuem Ausdruck gebt. Ihr versichert, daß ihr die Gesetze und Befehle des Senats achten und daß ihr, wie stets, den Tribut und die Abgaben, die euch obliegen, zahlen wollt. Wir bewilligen euch unseren Schutz in der Hoffnung, daß ihr euch dessen würdig zeigen werdet.« Dann rief er, seinen Fuß auf des Rabbiners Nacken stellend: »Andate!« (Geht weg!) Sich erhebend, reichte der Rabbi den Konservatoren mit einem Blumenstrauß einen Becher, der zwanzig Kronen enthielt, und erbat, die Plattform des Senators auf der Piazza del Popolo ausschmücken zu dürfen. Dann zog die Prozession in ihrem bunten Aufzug wieder durch die von Hanswürsten wimmelnden Straßen durch die Lästerallee, um ihre heuchlerischen Beteuerungen vor dem Thron des Senators zu erneuern.

Spottzüge parodierten diesen Zug der Juden. Die Fischhändler, die durch ihre Nachbarschaft mit dem Ghetto dessen Gebräuche kannten, bereicherten den Karneval mit verschiedenen anderen Parodien. Da gab es eine Travestie auf das Begräbnis eines Rabbiners, dort eine lange Kavalkade von Juden, die auf Eseln galoppierten, angeführt von der Spottfigur eines Rabbiners zu Pferde. Er ritt, den Kopf dem Schweif des Hengstes zugekehrt, den er mit der einen Hand hielt, während er mit der anderen, zum Ergötzen des Mob, eine nachgemachte Gesetzesrolle darhielt. Wahrlich, das Quälen der Juden diente der Karnevalsausgelassenheit zur besonderen Würze. Man riß ihnen die Hüte ab und warf ihnen Kot ins Gesicht. In diesem Jahr hatte der Gouverneur Roms Einspruch erhoben und verboten, daß etwas auf sie geworfen wurde, außer Früchten. Ein edler Marquis erwarb sich Ruhm durch den lustigen Einfall, sie mit Tannzapfen werfen zu lassen. Doch erst am dritten Tage, nach dem Wettrennen der Esel und Büffel, sollte den Juden die schlimmste Erniedrigung zuteil werden, denn das war der Tag der Judenrennen.

Der Morgen dämmerte herauf, klar und kalt, aber bald ballten sich Wolken zusammen, und die sich drängende, jubelnde Menge begrüßte mit Freuden die Aussicht auf Regen. An dem Bogen von San Lorenzo in Lucina, in der langen, engen Straße Via Corso, wo von den Torwegen, den Fenstern, Dächern und dem Pflaster Tausende von Gesichtern in neugieriger Spannung herabschauten, war auch etwa ein halbes Dutzend Juden unter der Menge. Eben war ihnen ein gutes Mahl verabreicht worden, aber sie blickten nicht gerade dankbar. Fast nackt, nur mit einem weißen Mantel bekleidet, was unschicklich und komisch zugleich aussah, geschmückt mit Flitter und Lorbeer, standen sie zitternd da und harrten des Kommandos: »Lauft!«, um Spießruten durch diese übelwollende Menge zu laufen, die sie mit dem lange aufgespeicherten Gift bespritzte, in der es gärte von Hohn und Roheit. Endlich gab ein Hauptmann zu Pferde das Zeichen, und unter dem lebhaften Freudengeschrei des Mob begannen die halbnackten, grotesken Gestalten mit den fremdartig orientalischen, kummervollen Gesichtern den wilden wettlauf den Korso hinab. Die Engelsburg war das Ziel. Ursprünglich endete der Wettlauf unten am Korso, aber das Ziel war beträchtlich weiter gesteckt worden, auf Wunsch eines früheren Papstes, der das Ende des Wettlaufes von seinen Fenstern mitanzusehen wünschte, wenn er dasaß in seinem halbverborgenen Schloßzimmer, dessen Fresken die Nacktheiten Giulio Romanos zeigten. Schnell, schnell rannten die Läufer, denn je früher das Ziel erreicht war, um so eher waren sie ja von diesem Hagel von Spottreden, mit dem sich der schwerer Steine mischte, befreit, und erlöst von den Stacheln, mit denen oft die Stöcke der Zuschauer besetzt waren, und die diese lebhaft gebrauchten, erlöst von der Beobachtung der feinen Leute, die dem Rennen trotz des Verbots von ihren Kutschen aus zuschauten. Um ihren Lauf noch anzutreiben, galoppierte der Hauptmann zu Pferde mit einem Trupp von Kopf bis Fuß bewaffneter Soldaten hinter ihren Fersen her, so daß sie Gefahr liefen, niedergeritten zu werden. Und sie liefen und liefen, pustend, mit Herzklopfen, in Schweiß gebadet, als könnte sie jeden Augenblick der Schlag rühren, denn zu dem Zwecke, daß sie beständig vor Seitenstichen zusammenzubrechen drohten, hatte sie der vorzügliche Festordner vorher mit Essen vollgestopft. Ach, wie komisch! wie köstlich! vortrefflich beim heiligen Antonius! Jetzt errang ein junger Mann, der durch sein abgezehrtes Gesicht und seine vorzeitige Kahlheit auffiel, den Vortritt unter dem Gejohle der Menge, waren die grotesken Läufer vorübergelaufen, so entfalteten die edlen Kavaliere ihre ganze Gewandtheit an dem Rennpfahl. Sie sandten ein keckes Lächeln zu den Balkonen der schönen Damen hinauf, die es ihnen mit seiner Tändelei erwiderten. Diese Schönen waren nicht maskiert, wie es in Frankreich Sitte, sondern unverhüllt in glänzendem Aufzuge. Da plötzlich brach das Unwetter los – herrliche Zugabe für das Fest – und ergoß sich lustig auf die halbnackten Läufer, vorwärts, vorwärts eilten sie, atemlos, wie blind, keuchend, mit Schmutz bespritzt, von den würfen der Menge getroffen, hinter sich die Hufe der Pferde, die ihre Fersen streiften. Vorwärts, vorwärts stürmten sie die tausend Meter der endlosen Rennbahn; vorwärts, vorwärts, wie gesotten, schweißtriefend und strauchelnd. Sie näherten sich dem Ziel. An San Marco, dem ehemaligen Ziel, waren sie schon vorbei. Noch lief der junge Jude voran, aber ein dicker, alter Jude war dicht hinter ihm. Die Erregung der Menge verdoppelte sich. Tausend spöttische Stimmen feuerten die Rivalen an. Sie waren auf der Brücke. Die Engelsburg, deren Bastionen nach den Aposteln benannt sind, war in Sicht. Der dicke, alte Jude lief zu, in Angst, jetzt, wo er schon so weit gekommen, sich nur ja die sechsunddreißig Kronen zu sichern, für die man den Preis verkaufen konnte. Da spornte sich der Nebenbuhler mächtig an. Er passierte des Papstes Fenster – und sein war der Tag. Das Firmament hallte wider von dem schallenden Gelächter, als die anderen Wettläufer ankeuchten. Mit großem Geschrei wurde das Niederfallen des dicken, alten Mannes auf der Heerstraße begrüßt, wo er nun hingestreckt lag.

Der Amtsdiener überreichte dem Gewinner das Pallium, den Preis – ein Stück roten venetianischen Tuches. Der junge Jude nahm und besah es mit seltsamem, unergründlichem Blick, aber der Richter trat dazwischen.

»Der Anführer der Soldaten sagt mir, daß sie an dem Bogen nicht richtig starteten. Sie müssen morgen noch einmal rennen.« Das war ein beliebter Kunstgriff, den Spaß zu verlängern. Doch unheilverkündend flammte es in des Gewinners Augen.

»Nein, wir starteten wie Kugeln, die aus einem Falkonett geschossen sind.«

»Ruhe, Ruhe, gib ihm das Pallium zurück«, flüsterte ein Läufer hinter ihm und zog ihn besorgt an seinem dürftigen Gewände. »Sie erkennen es immer wieder dem ersten Gewinner zu.« Doch der junge Mann blieb unbekümmert.

»Warum hielt uns der Hauptmann dann nicht an?« fragte er.

»Halte deine Zunge im Zaum«, entgegnete der Richter. »In jedem Falle wird der Wettlauf noch einmal stattfinden, denn das Gesetz befiehlt acht Läufer als Mindestzahl.«

»Wir sind acht«, erwiderte der junge Jude.

Ein durchbohrender Blick des Richters traf den Rebellen, dann zählte er, indem er jede dieser Jammergestalten mit dem Stock berührte: »Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs – sieben!«

»Acht«, beharrte der junge Mann, der jetzt erst den achten Juden hinter sich auf der Erde liegen sah und bückte sich, ihn aufzuheben.

»Dieser Mensch da zählt nicht mit, damit basta! Er ist betrunken.«

»Du, Höllenhund du!« Und sich plötzlich gerade aufrichtend, zog der junge Jude ein Kruzifix aus seinem Mantel. »Du hast recht!« rief er mit Donnerstimme. »Es sind nur sieben Juden, denn ich – ich bin kein Jude. Ich bin Fra Guiseppe!« Nach allen Seiten schwenkte er das Kruzifix, und heilige Scheu breitete sich um ihn.

Der Richter prallte zurück vor Überraschung und Schrecken. Die Soldaten saßen auf ihren Pferden wie versteinert vor Bestürzung. Die erregte Menge war für einen Augenblick still und verharrte in atemlosem Schweigen. Der Regenschauer war vorüber und ein matter Sonnenstrahl schien auf das Kruzifix.

»In Christi Namen verklage ich dieses teuflische Possenspiel, das Gottes auserwähltes Volk höhnt«, rief mit Donnerstimme der Dominikaner. »Tretet zurück, will keiner diesem armen, alten Mann einen Trunk kalten Wassers bringen!«

»Hat ihm der Himmel nicht genug kaltes Wasser beschert?« fragte ein Spaßvogel aus der Menge. Und niemand rührte sich.

»So sollt ihr ewig im Fegfeuer brennen«, sagte der Mönch. Wieder beugte er sich hinab und hob sanft den Kopf des alten Mannes. Dann wurde sein Gesicht noch düsterer und bleicher, »Er ist tot«, sagte er. »Möge ihn Christus, den er nicht anerkannt, zu sich nehmen in seiner Barmherzigkeit.« Sanft legte er den Leichnam zurück und drückte ihm die gebrochenen Augen zu. Ein jäher Schreck packte die Umstehenden. Der Tod vermag selbst einem alten Juden würde zu verleihen. Er lag da, vom Schlage getroffen, der durch die schwere Mahlzeit, die ihnen aufgezwungen, herbeigeführt war. Grotesk funkelte der Flitterschmuck auf seinem weißen, durchnäßten Mantel; seine nackten Beine waren steif und kalt. Von fernher das Jubelgeschrei, das Brouhaha der tollen Bevölkerung und die ferne Musik von Lauten und Geigen boten seinen tauben Obren den Scheidegruß. Den Hauptmann der Soldaten überlief es heiß und kalt. Er hatte den fettleibigen Läufer aus besonderem Vergnügen angespornt, aber Mord hatte er nicht beabsichtigt. Reue überkam die Zuschauer. Doch der Richter faßte sich bald.

»Ergreift den treulosen Priester!« schrie er. »Ein Abtrünniger ist er. Zu seinem Volke ist er zurückgegangen. Er ist wieder Jude geworden – er soll lebendig geschunden werden.«

»Zurück, im Namen der heiligen Kirche!« schrie Fra Guiseppe, wandte sich um und sah dem Hauptmann fest ins Gesicht, der trotz des Befehls auf seinem Pferde sitzen geblieben war, ohne sich zu regen. »Ich bin kein Jude. Ich bin ein ebenso guter Christ wie Seine Heiligkeit, die jetzt hinter dem Vorhang sitzt und ihre Augen an dieser heidnischen Saturnalie ergötzt.«

»Weshalb ranntest du denn mit den Juden? Du hast dich besudelt. Dein Priestergewand hast du befleckt.«

»Nein, ich trage nicht mein Priesterkleid. Bin ich nicht halbnackt? Ist das ein Gewand, dem ich Achtung schulde – dieser lächerliche Trödel, den eure Bürger zur Zielscheibe des Schimpfes und des Beschmutzens gemacht haben!«

»Du hast es dir selbst angezogen«, warf der Hauptmann begütigend dazwischen, »weshalb liefst du mit diesem verpesteten Volke?«

Der Dominikaner beugte sein Haupt herab. »Es ist meine Buße«, sagte er mit bebender Stimme. »Ich habe gesündigt gegen meine Brüder. Ich habe ihren Kummer noch vermehrt. Deshalb wollte ich im Augenblick ihrer größten Demütigung mit ihnen sein; um ihr Martyrium zu teilen, bat ich einen Läufer um seinen Platz. Doch Buße ist nicht mein einziger Beweggrund.« Er schlug seine Augen auf, schrecklich flammten sie, und seine Stimme war wie ein Donner, der durch die Menge rollte und weit über die Brücke schallte. »Ihr, die ihr mich kennt, gläubige Söhne und Töchter der heiligen Kirche, ihr, die ihr so oft meiner Stimme gelauscht, ihr, in deren Häuser ich den Trost des Gotteswortes gebracht, vereinigt euch jetzt mit mir, das lange Martyrium der Juden, eurer Brüder, zu beenden. Durch die Liebe allein, nicht durch Haß regiert Christus die Welt. Ich glaubte, es würde eure Herzen rühren, wenn ihr mich sehen würdet, mich, den ihr liebet (das weiß ich), mit Schmutz bedeckt, den ihr nicht geworfen, wenn ihr mich in diesem seltsamen Aufzuge vermutet hättet. Doch sehet! Dieser arme, alte Mann spricht beredter zu euch als ich. Seine toten Lippen erschüttern eure Seelen. Gehet heim, gehet heim von dieser heidnischen Lustbarkeit, sitzet in Sack und Asche auf dem Boden und bittet Gott, daß er euch zu besseren Christen machen möge.«

Eine unbehagliche Bewegung bemächtigte sich der Menge. Der kotbespritzte, phantastisch beflitterte Mantel, die nackten Beine des Sprechers vermehrten noch den Eindruck seiner Persönlichkeit; er schien ein seltsamer Prophet der alten Zeit, der aus fernen Enden der Welten und Zeiten erstanden.

»Schweige, Gotteslästerer«, sagte der Richter. »Die Sportbelustigungen werden vom heiligen Vater begünstigt. Der Himmel selbst hat diese stinkenden Ketzer verflucht. Pah!« Er stieß den toten Juden mit dem Fuße. In der Brust des Mönches wallte es auf. Heiß stieg ihm das Blut zu Kopfe.

»Nicht der Himmel, sondern der Papst hat sie verflucht«, erwiderte er heftig, »warum verbannt er sie nicht aus seinem Gebiet! Nein, er weiß zu gut, wie dienlich sie dem Staate sind. Als er sie von überall mit Ausnahme der drei Schutzstädte verbannte und die jüdischen Kaufleute der östlichen Seehäfen unseren Hafen von Ancona in den Bann taten, so daß wir keine Lebensmittel erhielten, rief da nicht Seine Heiligkeit die Juden schleunigst zurück und gab damit ihren Wert zu? Da dem so ist, sollten wir ihnen Liebe bieten, nicht Haß und Hunderte erniedrigender Erlasse.«

»Für dieses Wort sollst du auf dem Forum verbrannt werden«, drohte der Richter, »wer bist du, daß du dich gegen Gottes Stellvertreter auflehnst?«

»Er, der Stellvertreter Gottes! Nein, eher bin ich es! Gott spricht durch mich.«

Sein bleiches, abgezehrtes Gesicht leuchtete in überirdischer Entrückung; dem ehrfürchtigen Volke erschien er wie ein Riese.

»Das ist Verrat und Gotteslästerung, verhaftet ihn?« schrie der Richter.

Fest und ohne zu weichen, blickte der Mönch den Soldaten ins Gesicht, obgleich nur der Leichnam des alten Juden ihn von ihren sich wildbäumenden Pferden trennte.

»Nein«, sagte er sanft, und ein mildes Lächeln umspielte sein Antlitz, während aus seinen Augen ein seltsames Mysterium blickte. »Gott ist mit mir. Er hat dieses Bollwerk, den Tod, aufgerichtet zwischen euch und meinem Leben. Ihr sollt nicht kämpfen unter dem Banner des Antichristen.«

»Tod dem Abtrünnigen!« rief eine Stimme aus der Menge. »Er nennt den Papst Antichrist.«

»Ja, der nicht für uns ist, ist wider uns. Er beherrscht wohl Rom im Sinne Christi? Quält er nur die Juden? Hat nicht seine Sucht nach Macht den Feind an die Tore Roms gebracht! Haben nicht seine Banden fremder Hilfstruppen unsere Bürger gehöhnt? Ihr wißt, wie Rom unter den Ränken seines Bastardsohnes gelitten hat mit seiner wüsten Schar von Mordgesellen. Um Christi willen hat er wohl diesen Schrecken unserer Straßen gezeugt!«

»Nieder mit Baccio Valori!« schrie eine Stentorstimme, und aus einem Dutzend enthusiastischer Kehlen schallte das Echo.

»Ja, nieder mit Baccio Valori!« rief der Dominikaner.

»Nieder mit Baccio Valori!« wiederholte die leicht zu beeinflussende Menge, deren Feststimmung schnell in eine andere Art von Zügellosigkeit überging. Einige, die den Mönch liebten, waren ehrlich empört, andere, die ihrer Tollheit und Verderbtheit so recht die Zügel schießen ließen, waren zu jeder Art von Zeitvertreib bereit. Manche, und zwar die lautesten, waren Raufbolde und Beutelschneider.

»Ja, aber nicht nieder mit Baccio Valori allein!« schrie Fra Guiseppe mit Donnerstimme. »Nieder mit all dem Bastardgezücht, das in dieser Hauptstadt des Christentums sein Wesen treibt. Nieder mit dieser Höllenbrut, die Christus verleugnet; nieder mit dem Ablaßkrämer! Gott ist kein Handelsmann, der um die Vergebung der Sünden schachert – noch viel weniger – oh, diese Lästerung! – um nicht begangene Sünden. Unsere heilige Jungfrau braucht nicht eure Wachskerzen. Ein reines Herz, das Leuchten einer unbefleckten Seele verlangt die Gottesmutter. Fort mit eueren Rosenkränzen und euerem Mummenschanz, euerem Paternosterbeten und dem Auf-den-Knien-liegen! Fort mit euerem Karneval euerem gottlosen Entsagen des Fleisches! Unrein seid ihr! Das ist keine Stadt Gottes, sondern eine gedungener Banditen, ehebrecherischer Greuel und schwelgerischer Gastmähler, eine Stätte sinnlicher Begier und Fleischeslust. Nieder mit dem schändlichen Kardinal, der am Altar Reden hält und von den geschmähten Juden Geld borgt, um seine geheimen Laster zu befriedigen! Nieder mit dem Mönch, dessen Meßbuch Boccaccio ist! Nieder mit dem Statthalter Gottes, der mit Kardinalshüten Handel treibt, der nicht ohne Vorkoster das heilige Abendmahl zu nehmen wagt, der ganz und gar in profane griechische Texte vertieft ist, in kunstreiche Juwelenarbeit, in politische Manöver und häusliche Intrigen. Er, der in Scharlach und Samt gekleidet auf seinem stolzen neapolitanischen Rosse dahertrabt, gefolgt von seinen barhäuptigen Kardinälen und seinen Hunderten glänzender Reiter. Er soll der Stellvertreter des schlichten Herrn Christus sein, der auf einem Esel ritt und sagte: ›Verkaufe, was du hast und gib es den Armen; komm und folge mir nach!' Nein!‹ Die Leidenschaft der Gerechtigkeit durchbebte seine Gestalt und fesselte seine Hörer. – »Obschon er den Vatikan bewohnt, obschon Hunderte prächtiger Bischöfe sich neigen, seinen Fuß zu küssen, so erkläre ich hier, daß er eine Lüge, ein Fallstrick, ein übertünchtes Grab ist – kein Beschützer der Armen, kein liebender Vater der Vaterlosen, kein geistlicher Herrscher, kein Stellvertreter Christi, sondern selber der Antichrist.«

»Nieder mit dem Antichristen!« brüllte die Menge. Der langunterdrückte Haß gegen die herrschende Macht schaffte sich endlich in einem Überschwang hysterischer Erregung Luft.

»Hauptmann, tue deine Pflicht!« schrie der Richter.

»Nein, der Mönch spricht die Wahrheit. Trage den alten Mann fort, Alessandro!«

»Ist Rom wahnsinnig geworden? Eile nach der Stadtwache, Jacopo!«

Schnell band Fra Guiseppe das Pallium an das Kruzifix, und indem er das rote Gewand durch die Luft flattern ließ, rief er: »Das ist das wahre Banner Christi! Das, ein Symbol des Martyriums unserer Brüder! Sehet, es ist die Farbe des Blutes, das er für uns vergossen. Wer für Jesus ist, folge mir!«

»Für Christus, für Jesus! Viva Gesù!« wie von fern heranrollender Donner brach dieser Schrei aus tausend Kehlen. Sein Feuer entzündete sich noch heftiger an dem ihrigen.

»Folget mir! Dieser Tag soll für Christus Zeugnis ablegen; laßt uns sein Königreich in Rom aufrichten.«

Ein wilder Tumult entstand. Die Soldaten spornten ihre Pferde an, Leute gerieten unter ihre Hufe und wurden niedergetrampelt. Ein Moment der Raserei entstand. Der Dominikaner eilte weiter, immer das rote Pallium schwingend; seine Anhängerschar wuchs beständig, denn aus jeder Seitenstraße strömten sie ihm zu. Ungehindert erreichte er die große Piazza, auf der eine neue Papststatue weiß und majestätisch glänzte.

»Nieder mit dem Antichrist!« schrie ein Beutelschneider.

»Nieder mit dem Antichrist!« echote der Mob.

Der Mönch breitete seine Hand aus und Schweigen entstand. Ein gelber Hut auf dem Kopfe eines Juden schimmerte durch die Menge; Fra Guiseppe rief dem Juden zu, ihm seinen Hut zuzuwerfen. Er wurde von Hand zu Hand weitergereicht. Fra Guiseppe hielt ihn hoch empor. »Männer Roms, Söhne der heiligen Kirche, sehet das schmähliche Merkzeichen, das wir unseren Mitbrüdern aufsetzen, so daß jeder Wüstling sie anspeien darf. Sehet das Gelb – die Farbe der Schande, das Brandmal der Weiber, die mit ihrem Weibertum Handel treiben – und damit brandmarken wir die ehrwürdigen Stirnen der Rabbiner, die Häupter ehrenhafter Kaufleute. Sehet! Ich setze den Hut auf das Haupt dieses Antichristen, als Symbol unseres Hasses gegen alles, was nicht Liebe ist.« Und indem er sich auf des Hauptmanns Steigbügel schwang, krönte er die Statue mit dem gelben Schandmal.

Ein wildes Geschrei der Verachtung durchtobte die Luft. Es gab ein wüstes Durcheinander wilder Stimmen.

»Nieder mit dem Antichrist! Nieder mit dem Papst! Nieder mit Baccio Valori! Nieder mit der Prinzessin Teresa!«

Doch im nächsten Augenblick war alles ein wüstes Durcheinander. Ein Trupp der Stadtwachen – Pikenträger, Musketiere und Reiter mit zweihändigen Schwertern stürmte aus einer Straße auf die Piazza, die Papsttruppen aus der anderen. Sie stürzten sich auf die Menge. Die Soldaten des sich entgegenstellenden Hauptmanns revoltierten ihrerseits, schwenkten herum und trieben die Anhängerschaft zurück. Ein Babel entstand, Ächzen, Stöhnen und Angstgeschrei, Musketen in wildem Getöse, Dolche blitzten, Schwert und Pike prallten am Harnisch ab, Funken stoben, Rauch wallte auf. Der Mob zerstreute sich und eilte die Straßen hinab, fort von diesem Boden, der blutgetränkt und mit Leichen bedeckt war.

Lange, ehe noch die erregten Leidenschaften des Gesindels sich beruhigt hatten und sich durch Plündern und Gewalttätigkeit in den entlegeneren Straßen Genüge getan, lag Joseph, der Träumer, in dem dunkelsten Kerker des »Nonaturmes« hingestreckt. Er lag auf einem Stück vermoderter Matratze, in seinen triefenden, beflitterten Mantel gehüllt, blutend aus zahlreichen Wunden. Zu erschöpft war er von dem wilden Kampfe mit seinen Angreifern, um an den Marterpfahl zu denken, der ihn erwartete.

IX.

Er hatte nicht lange zu warten. Die Krone des Karnevals war es, dem Pöbel das Schauspiel einer Einrichtung zu gewähren. Verurteilte Verbrecher wurden oft bis zum Fastnachtsdienstag aufbewahrt, und die Enttäuschung war groß, wenn es nur das Peitschen von Buhlerinnen zu sehen gab, die maskiert aufgegriffen waren. Das Peitschen eines Juden, der kein Merkzeichen getragen, war das nächstbeste und wurde nach der Hinrichtung eines Christen am liebsten gesehen, denn, der die Geißelung vollzog, wurde (auf Kosten des Angeklagten) doppelt bezahlt und verfehlte natürlich nicht, auch seinen Eifer zu verdoppeln. Aber das schönste von allem war doch die Hinrichtung eines Juden. Daß Fra Guiseppe Jude war, daran konnte kein Zweifel sein. Die einzige Frage war die, ob er ein Abtrünniger oder ein Spion sei. In jedem Falle gebührte ihm der Tod. Er hatte noch dazu den Papst geschmäht – schon an sich eine unverzeihliche Sünde. Der unbeliebte Pontifex verschonte wohlweislich die anderen vor Strafe – nur der Jude sollte sterben.

Die Bevölkerung war früh auf den Beinen. Auf der Piazza del Popolo – dem Mittelpunkte des Karnevals – wo der Pfahl errichtet war, riß sich eine große Menge um die besten Plätze – ein fröhlicher, amüsanter Kampf. Der große Springbrunnen sandte seine munteren, silbernen Wasserstrahlen zum blauen Himmel. Als die Totenkarre auf die Piazza holperte, trafen wüste Gesänge des Pöbels die Ohren des Verbrechers, und seine wilden, verzweifelten Augen blickten auf manches fröhliche Gesicht, das noch vor wenigen Stunden ihm gefolgt war, um für Gerechtigkeit zu zeugen. Zwischen diesen Gesichtern gewahrte er die seiner früheren Glaubensgenossen, verdüstert und in hämischer Freude. Kein Mönchsbruder sprach ihm Trost zu oder hielt ihm das Kreuz vor Augen – war er nicht ein verdammter Ungläubiger, ein Ausgestoßener beider Welten! Der Hauptmann der Caporioni war anwesend. Truppen umstanden den Pfahl, denn der Wahnwitzige könnte ja vielleicht doch Anhänger haben, die eine gewaltsame Befreiung versuchen könnten. Aber die Vorsicht war überflüssig. Nicht ein Gesicht, das Sympathie bekundete. Die Leute, die der Mönch fortgerissen hatte, die dem Kreuz und dem Pallium gefolgt waren, übertrieben jetzt ihre Freude, damit man sie nicht wiedererkenne. Die Juden ihrerseits freuten sich über die himmlische Vergeltung, die den Abtrünnigen ereilt hatte.

Der Dominikanerjude ward an den Pfahl gebunden. Sie hatten ihm eine Gabardine angezogen und den gelben Hut auf das abgeschorene Haupt gesetzt. Und darunter war sein Antlitz ganz ruhig, aber tieftraurig. Er begann zu sprechen.

»Knebelt ihn!« schrie der Richter. »Er will lästern.«

»Bitte nicht«, wandte ein roher Prahler aus der Menge ein. »Sonst würde uns ja des Schurken Geschrei verloren gehen.«

»Nein, fürchtet nicht. Ich will nicht lästern«, sagte Joseph und lächelte voll Trauer. »Ich will nur meine Sünde bekennen und meine verdiente Strafe. Ich ging aus, in den Fußstapfen des Herrn zu wandeln – durch Liebe zu gewinnen und dem Übel nicht zu widerstreben. Doch sehet, ich habe Gewalt gebraucht gegen meine ehemaligen Brüder, die Juden, Gewalt gegen meine jetzigen Brüder, die Christen. Ich habe den Papst gegen die Juden aufgebracht und die Christen gegen den Papst. Ich habe Blutvergießen und Gewalttätigkeit verursacht. Es wäre besser gewesen, ich wäre nie geboren. Christus, nimm mich auf in deiner unendlichen Gnade. Möge er mir vergeben, wie ich euch vergebe!« Er biß die Zähne zusammen und sagte nichts mehr, ein Bild unendlicher Verzweiflung.

Die Flammen loderten auf. Sie fingen an, seine Glieder zu erfassen, aber kein Schmerzenslaut suchte ihr Knistern zu übertönen. Doch unter der Menge hörte man weinen. Da plötzlich zuckte aus dem dichtbewölkten Himmel ein Blitzstrahl, dann ein Donnerschlag, dem ein heftiger Regenschauer folgte. Die Flammen erloschen. Der Frühlingsschauer war kurz, aber heftig gewesen, aber das Holz wollte nicht wieder anbrennen.

Doch so ließ sich der Volkshaufe nicht abspeisen. Auf des Richters Befehl stieß der Henker ein Schwert in des Verbrechers Eingeweide, dann band er den Leib los und ließ ihn mit dumpfem Schall zu Boden fallen. Er rollte auf den Rücken und lag für einen Augenblick still, das weiße, abgezehrte Gesicht starr gen Himmel gerichtet. Dann ergriff der Henker ein Beil und vierteilte den Leichnam. Einigen wurde schlecht, und sie wandten sich weg, aber die Menge glotzte unentwegt.

Nun sprang ein Franziskaner auf den Karren, und zu dem blutigen, verhängnisvollen Text, der offen vor aller Augen lag, predigte er eifrig Christus. Der Mob zerfloß in Tränen.

X.

In dem Hause Manasses, des Vaters Josephs, war große Lustbarkeit. Musikanten waren gemietet, den Tod des Renegaten zu feiern, wie es die Tradition vorschrieb. Alles, was nur die Pragmatika an Luxus zuließ, war vorhanden. Sie tanzten. Männer mit Männern und Weiber mit Weibern. Manasse bot seinen Gästen feierlich Früchte und Wein an, und die alte Mutter tanzte wie rasend, ein starres Lächeln auf dem runzligen Gesicht. Alle Augenblicke wurde ihre ganze Gestalt von schrecklichen Lachausbrüchen geschüttelt.

Miriam floh aus dem Hause, um diesem Gelächter zu entgehen. Sie wanderte hinaus aus dem Ghetto und fand den Flecken ungeweihter Erde, wo die verstümmelten Überreste Josephs, des Träumers, hastig eingescharrt worden waren. Ein Haufen Steine, die von den Händen frommer Juden geworfen waren (als Symbol, daß nach dem Gesetze der Abtrünnige hätte gesteinigt werden müssen), bezeichnete sein Grab. Wildes Schluchzen entrang sich Miriams Brust. Ihre Augen waren geblendet von Tränen, die ihr die Schönheit der Welt verhüllten. Plötzlich gewahrte sie neben sich eine andere gebeugte Gestalt, fast ohne hinzublicken wußte sie: es war Helena de Franchi.

»Auch ich liebte ihn, Signora de Franchi«, sagte sie einfach.

»Bist du Miriam! Er hat von dir gesprochen.« Helenas Silberstimme klang leise und bebend.

»Ja, Signora.«

Unaufhaltsam flossen Helenas Tränen. »Wehe! wehe! über den Träumer. Er hätte glücklich werden können – glücklich mit mir, glücklich im Vollbesitz menschlicher Liebe, im Lichte der Sonne, in der Schönheit der prächtigen Welt, in der Freude an der Kunst, der Lieblichkeit der Musik.«

»Nein, Signora, er war ein Jude. Er hätte glücklich werden können mit mir, im Lichte des Gesetzes, im ruhigen häuslichen Leben, das dem Gebet geweiht ist, dem Studium, der Barmherzigkeit, dem Mitleid und allen guten Taten. Ich würde für ihn die Sabbatkerzen angezündet und unsere Kinder auf seine Knie gesetzt haben, daß er sie segne. Wehe! wehe! über den Träumer!«

»Keines dieser Geschicke sollte ihm werden, Miriam. Küsse mich, wir wollen einander trösten.«

Ihre Lippen trafen sich und ihre Tränen flossen zusammen.

»Von nun an sind wir Schwestern, Miriam.«

»Schwestern«, schluchzte Miriam.

Sie klammerten sich aneinander – die edle Seele der Heidin und das warme Herz der Jüdin, vereint über des Christen Grab.

Plötzlich begannen in der Stadt Glocken zu läuten. Miriam fuhr auf und riß sich los.

»Ich muß gehen«, sagte sie hastig.

»Es ist nur das Ave Maria«, sagte Helena. »Du brauchst keine Vesper zu singen.«

Miriam berührte das gelbe Abzeichen auf ihrem Kopf. »Nein, aber die Tore werden jetzt geschlossen, Schwester.«

»Ach, ich vergaß. Ich habe gedacht, wir dürften von nun an immer zusammen bleiben. Ich will dich begleiten, so weit ich kann, Schwester.«

Sie gingen eilig fort von dem einsamen, ungeweihten Grabe und hielten einander an der Hand.

Schatten senkten sich herab. Als sie das Ghetto erreichten, war es fast dunkel.

Kaum war Miriam hineingeschlüpft, als die Tore mit schrillem Klang geschlossen wurden – dunkle Nacht trennte die beiden.


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