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Das Ghettobuch
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F. Brodowski.

Simches Kind.

Übersetzt von A. Scherlag.

Es war eine kleine stille Station, – ein Winkel, der trotz Nähe einer großen Stadt wie mit Brettern vernagelt war, – ein Loch, in das selten nur ein Fremder kam.

Schon allein die Häuser, hier eigentlich hölzerne Hütten, sahen außen und innen unwohnlich aus. Die nackten Wände und die komischen Möbel starrten einem so gleichgültig, ja unfreundlich entgegen, daß einem die Lust verging, sich auch nur einige Tage hier aufzuhalten. Ich weiß nicht, ob die Hütte unweit von dem Dörfchen N., wo ich mich im Sommer einige Zeit aufgehalten hatte, ihr damaliges Aussehen beibehalten hat, denn sie war schon damals ganz baufällig. Vor dem Häuschen befand sich ein kleiner Garten, ohne Blumen, ja sogar ohne Rasen, ohne Unkraut, ein großes, kaum von den vorjährigen Blättern gereinigtes Stück Erde.

Die Bäume wuchsen schief, trugen höchstens einige Blätter, so daß sie wie Strohwische aussahen, wie die Bäume, so die Menschen.

In den einen und den anderen wurzelte eine tiefe Trauer der unbewußten Gefangenschaft. Weder von den einen noch von den anderen war ein Wort, das mit dem Inhalt ihres Schmerzes zusammenhing, herauszubringen, aber sie sprachen es unbewußt aus – die ersten mit den unwillkürlich angenommenen Formen und erstarrten Gebärden, die anderen mit den umschatteten Augen, der Schwerfälligkeit des Ganges und dem Ton der Sprache. Doch die Natur, die große, allumfassende Mutter, vermag auch aus den Herzen der betrübten Wesen einen Teil der Traurigkeit hervorzuzaubern. Das wiederholte ich mir vor einigen Jahren in N. beim Anblick eines jungen Mädchens, dessen Leben jeglicher Freude zu entraten schien.

Das war eine Jüdin von sechzehn oder achtzehn Jahren, gemeinsam mit ihrer Mutter beschäftigte sie sich mit Gebäckaustragen in N. und einigen umliegenden Dörfern, wo außer Landbauern Arbeiter aus der benachbarten Ziegelei und einer Vorstadtfabrik wohnten. Eines jener göttlichen Geschöpfe, die man täglich sehen kann, ohne sie dennoch zu bemerken. Ich bin überzeugt, daß viele Leute, die täglich Semmeln aus ihrem Körbchen entnahmen, weder den Klang ihrer Stimme, noch ihre Gesichtszüge kannten. Waren sie ihr begegnet ohne Körbchen, anders gekleidet, nicht in dem alltäglichen, verblichenen, unten ausgefransten Rocke und zumal ohne das schwarze wollene Tuch, das sie sonst um den Kopf gebunden trug, so hätten viele nicht gewußt, daß sie an ihrer Brotausträgerin vorübergehen. Man kannte sie, wie man eine Sache kennt. Jeder begreift wohl, daß der Korb mit Semmeln allein von Haus zu Haus nicht fliegen kann. Selbstverständlich muß ihn jemand tragen. Aber aufrichtig gesagt, interessierte die Leute nur der Inhalt des Korbes. Es gab ständige Gebäckabnehmer, die nicht einmal wußten, wie Mutter und Tochter hießen. Jüdinnen. Die alte und die junge Jüdin. »Ich habe gestern kein Brot gebacken, ich muß es bei der Jüdin nehmen«, sagte man, oder: »Habt Ihr nicht wo die Jüdinnen mit dem Brot gesehen?«

Gingen sie einmal nicht zusammen durchs Dorf, so fragte man sich: »Bei welcher Jüdin habt Ihr heut Brot genommen?«

»Bei der jungen, nein, bei der alten. Doch nein, gewiß bei der jungen. Übrigens weiß ich's nicht bestimmt.«

Zwar waren sie gleich gekleidet, aber, freilich bei einer etwas gespannten Aufmerksamkeit wäre dieser Zweifel unmöglich. Wenn er also vorkam, so beweist es, wie sehr die Personen der Austrägerinnen den Leuten gleichgültig waren. Da mich jedoch weder die Form der Brotlaibe, noch deren Gewicht angingen, so konnte ich mit um so größerer Aufmerksamkeit die Austrägerinnen beachten.

»Gebäck aus der Stadt – Semmeln, Brot! – nehmen Sie!«

Vor dem Fenster standen zwei Frauen, jede mit einem großen Korb in der Hand. Obwohl es ein warmer Junitag war, waren ihre Köpfe mit dicken wollenen Tüchern umgewickelt, wie bei Menschen, die hochgradig an Zahnschmerzen leiden. Aus den unverhüllten Öffnungen blickten nur die Augen mit einem Teil der Stirn und der Nase hervor. Ein Paar hatte das Weiße von einem Adernnetz gerötet, etwas Trübes in der braunen Irisfarbe und im Blick, einen tiefgegrabenen Ring unter jedem Auge und schwere welke Lider, die unablässig zwinkerten. Das zweite Augenpaar hatte Anmut. Diese Anmut war sehr weich, sehr zart von einer Zartheit, darin etwas vom Weibe und etwas vom Kinde war, seine ganze Schüchternheit und keusche, scheue Lust, zu gefallen. Ein gutes und schüchternes Kind war in diesen Augen, das eben hatte ich zunächst bemerkt, und dann erst das herrliche Schwarz der großen Iris, das von bläulichen Schatten gesättigte Weiße und die Schönheit der langen Wimpern.

Einige Dorfweiber traten an die Körbe heran.

»Frisches Brot, frische Semmeln!« pries das Mädchen an.

Nach beendetem Feilschen entfernten sich die Jüdinnen. Ich blickte ihnen nach. Trübselige Silhouetten! Graue, elende Röcke; schwarz umwundene Köpfe; schier gebrochene Gestalten. Des Korbes Last an der Rechten zwingt sie, den Rumpf nach links zu biegen und die Linke auszustrecken. Barfuß schritten sie mühsam, mit den Fersen den Sand aufwirbelnd. So sah ich sie täglich, und zuweilen begann ich mit ihnen ein Gespräch.

»Aber mir tun ja die Zähne überhaupt nicht weh!«

Meine Zumutung, daß sie eine Geschwulst habe, hatte sie belustigt.

Indem sie das Tüchlein unter das Kinn hinabschob, enthüllte sie ihre zarten Wangen, das Gesicht war das eines schmächtigen Mädchens, anmutig, aber ohne die kernige Frische der Gesundheit. Auch die Lippen sprachen deutlich von Blutmangel.

»Häßlich bin ich in diesem Tuch«, fuhr sie in lieblicher Beschämung fort, »und immer kommen mir die Leute mit einem Mittel gegen Zahnweh.«

»Warum entstellst du dich also zum Fleiß?«

»So, aus Gewohnheit. Weiß ich's denn übrigens? Die Mutter könnt' es Ihnen erklären.«

Ich wandte mich fragend an die Alte, doch die begann, statt zu antworten, schneller zu blinzeln, in den Augen den Ausdruck der Verlegenheit verbergend. Ich drang nicht in sie. Später kam es von selbst, daß mir Frau Simche bisweilen ziemlich willig, ohne Fragen, von sich, ihrer Tochter und ihrer Not erzählte.

Diese ihre Not hatte sich empfindlicher eingestellt in dem Augenblick, als Simche in einem schwarzen Wagen auf den Friedhof überführt worden ist. Er war ein von Mißerfolg im Handel und durch eine lange Krankheit sehr abgeplagter Mann gewesen, so zart und schwächlich, daß er nur ganz behutsam aufzutreten pflegte, als trüge er in sich ein überaus zerbrechliches und kostbares Gefäß. Endlich mußte es trotz aller Fürsorge brechen, was Simche derart kränkte, daß er starb. Nach dem Tode des Mannes verblieb der Frau ihr eigener Krug der Gesundheit, ganz und unangegriffen. Was wahr ist, für das ganze Vermögen, wie sie hinzufügte. In ihrem Töchterchen aber steckte ein sehr zartes Gefäßchen, sehr zerbrechlich, vielleicht aus Glas, vielleicht aus Kristall, das außerordentliche Sorge und Obhut erforderte, damit es nicht zerbreche. Bis zum elften Lebensjahre durfte Estherchen gar keine Arbeit anrühren. Aber bald begann sie sich dagegen aufzulehnen.

»Wie sieht das nur aus, wenn so ein großes Mädchen wie ich, der Mutter nicht aushilft? Ich wachse zum Gespött der Leute heran, und wird dann einer mich heiraten mögen, wenn man erfährt, daß ich zu nichts bin! Ich werde dich überzeugen, daß ich einen Korb voll Brot von unserer Wohnung bis zur Ziegelei tragen werde, und nichts wird mir geschehen.«

»Tu' das nicht, Esther, ich bitt' dich sehr.«

»Just tu' ich's«, versetzte sie mit einem zornigen Blick auf die Mutter und ergriff den Korb. Bis zur Ziegelei war es nicht sehr weit. Das Mädchen trug bis dorthin die Last, der Mutter zuvorkommend, und verbarg sehr geschickt ihre große Erschöpfung.

»Auch nur eine Kunst!« rief sie, die Tränen zurückhaltend. »Wenn du willst, trag' ich's noch weiter.«

Die Mutter wollte natürlich davon nichts wissen. Später aber kaufte sie selbst ein kleines Körbchen für Esther, und nahm sie im Bereich des Städtchens mit sich, schickte sie jedoch heim, sobald sie weiter in die umliegenden Dörfer gehen sollte. Freilich drückte auch dieses Körbchen die Kleine zuweilen so sehr, daß sie weinte, aber niemand sah es.

Einige Jahre verstrichen. Simches Tochter hatte sich vollends emanzipiert, das heißt, daß sie überallhin mitging mit ihrer Mutter, auch bis ins letzte Dörfchen, wenn Aussicht bestand, daß man ihr etwas abkaufte, daß ihr Körbchen nicht kleiner war als der Korb ihrer Mutter und daß sie jetzt verstohlen aus dem Korb der Mutter einige Laibe in den ihren herübernahm, um der Alten die Last zu erleichtern.

Zuviel lichte Seiten hatte diese neue Lage der Dinge, als daß Simches Witwe zu klagen Grund gehabt hätte. Vornehmlich freute sie der Anblick des Kindes, das nun der Last des Brotkorbes gewachsen war. Und war doch einmal ein so schwächliches Ding ... seht nur, was für starke Aushilfskraft aus ihr geworden. Ferner erfüllte die ständige Gegenwart der Tochter auf diesen Wanderungen die Mutter mit einem angenehmen Gefühl einer stillen innerlichen Freude.

Wenn in der bleichen Abenddämmerung Esther als erste aufstand und an der Bettkante ein Weilchen bloß im Hemdchen saß, fühlte die Mutter, wie von ihrem Kinde eine duftige Frische ausströmte, die Frische der jungen Jahre und des jungfräulichen Körpers. Schön ist mein Kind, dachte sie dabei. Aber schon flüsterte die giftige Sorge: was soll die Schönheit einem Mädchen, das der Tagesanbruch hinaustreibt auf Waldpfade, auf Wege durch stumme Felder, die öde und, was schlimmer, von verdächtigen Menschen aus der Vorstadt heimgesucht sind! Der Vorstadtvagabund, der sich jeden Augenblick in einen Räuber verwandeln kann, war stets das Schreckgespenst der Witwe. Vor den Bauern in den Dörfern, vor den Arbeitern aus der Ziegelei hatte sie keine Angst, nur vor den ungewissen Gestalten, die so schwer zu durchschauen waren, wie ihre Beschäftigungen, vor den scheuen Individuen, die von ferne nach Schnaps riechen und zum Anbandeln geneigt sind. Einem solchen auf ödem Felde ein junges hübsches Gesicht zeigen, – war zu gefährlich.

Das war der Grund, daß Mutter und Tochter auf ihrer täglichen Wanderung immer ganz gleich gekleidet, ihre Köpfe ewig in Tücher fest eingemummt waren. Sie trugen sich beide grau und elend, so daß man die junge von der alten kaum unterscheiden konnte.

Am liebsten hätte die Witwe ihre und der Tochter Kleider mit Straßenstaub bestreut, um auf dem grauen Grunde ganz unsichtbar zu werden.

»Ich habe keine so große Angst«, sagte mir einmal Esther. »Manchmal gehe ich allein: Freitag haben wir daheim etwas mehr zu tun, müssen also früher mit dem Brotaustragen fertig werden, darum geht die Mutter in die eine Richtung und ich in die andere.« »Und ist Ihnen da nie etwas passiert?« fragte ich sie.

»Nichts. Nur einmal hat mich ein Betrunkener verfolgt. Es war damals nach einem Regen ein großes Wasser an der Straße, da bin ich hinübergewatet und dort habe ich ein Stück Ziegel gefunden, damit hab' ich dem Kerl gedroht. Da gab er mir Ruh'. Vielleicht ist er mehr vor dem Wasser erschrocken, als vor dem Stein«, meinte sie vergnügt.

»Wenn er aber auch durch die Pfütze hinübergewatet wäre, hätten Sie ihn mit dem Ziegel getroffen, hätten Sie sich zu verteidigen vermocht?«

»Aber wo! Vielleicht wäre ich gar sofort vor Schreck gestorben oder ich hätte gefleht, daß man mich so rasch wie möglich töte.«

»Das ist nicht gut. Man soll nie sofort seine Sache aufgeben; verteidigt man sich, so kann man wenigstens Zeit gewinnen, vielleicht kommt dann wer zu Hilfe.«

Estherchen schwieg eine Weile nachdenklich.

»Gewiß,« sagte sie schließlich, »wenn's schon gar schlecht sein sollte, vielleicht hätte ich da keine Angst mehr, vielleicht würde ich mich wie eine Katze wehren mit Nägeln und Zähnen! Aber Gott sei Dank, niemand überfällt mich, niemand sieht mich auch nur an. Sie denken sich ein altes Weiblein mit umbundenem Kopf!«

»Und doch ist's angenehm, aus sich eine Vogelscheuche zu machen«, bemerkte ich.

Sie lachte lustig auf. »Oh, nicht immer tu' ich's. Samstag kleide ich mich schon anders.«

In der Tat, als ich später einmal an einem Samstag ihr begegnete, hatte ich sie kaum erkannt, so fein war sie angezogen. Es war gerade vor der Ankunft des Zuges. Am Perron und im nahen Wäldchen spazieren vorwiegend Jüdinnen und Kinder. Auch Mädchen waren zu sehen. Darunter Esther in einem schwarzen Rock und einer blaßrosa Bluse, wahrscheinlich aus Seide. Wieviel Anmut war in ihr! Auf einer Bank saß ihre Mutter in einer Feiertagshaube mit Bändern. Wohl mochte sie bei sich denken: Entweder sind meine Augen nichts mehr wert ober mein Kind ist die schönste unter all den Mädchen und Frauen!

Gern gab ich ihr im stillen recht.

Tags darauf früh, als ich Esther in ihrem werktägigen Aufzug in der Gestalt einer dunkelgrauen Raupe traf, konnte ich mich nicht enthalten, ihr zu sagen, wie schön sie gestern ausgesehen und wie vorteilhaft sie sich von den anderen Mädchen abhob.

»Wirklich? Ich danke Ihnen. So. Das hab' ich noch von niemand gehört.«

Die Arme – also das war ihr erstes Kompliment im Leben.

Ich erinnere mich nicht, noch einmal je mit ihr geplaudert zu haben. Nein – gewiß, das war das letztemal gewesen.

Wie ich sie in der Folge sah – war sie nicht mehr die frühere Esther, war sie nicht mehr die schöne Blume, nur ein armseliger lebloser Körper, zusammengeduckt in dem reif- und gelbschimmernden Korn, am schmalen Rain, mit einer Strohmatte zugedeckt.

Auf dem nahen Grenzhügel saß, eine Pfeife rauchend, ein alter Mann, der beauftragt war, die Leiche zu hüten, bis die Behörde und der Arzt kämen. Ich hob die Matte ein wenig; trotz meines großen Schmerzes mußte ich von Simches gutem Kinde Abschied nehmen. – Ah, diese Tränenspur auf der von Erde beschmutzten Wange!

Was war da nur geschehen? Nichts Außerordentliches. Ich entsinne mich genau, daß es mit kleinem Druck in der Zeitung beschrieben war: »Auf den Feldern des Vorstadtdorfes fand man die Leiche eines jungen Mädchens, einer Jüdin, mit Spuren eines gewaltsamen Todes. Nach dem Übeltäter wird gefahndet.«

Man hat ihn auch erwischt. Es war ein Vorstadtvagabund. Auf einem wenig besuchten Seitenpfade im Felde – so lautete sein Geständnis – war er der Jüdin begegnet. Betrunken, riß er ihr das Tuch vom Kopfe und erblickte ein junges Mädchengesicht. Gewehrt hatte sie sich bis aufs Blut – gebissen hat sie ihn und zerkratzt. Nur um sie einzuschüchtern, hat er das Messer gezogen; wie sie sich in die Spitze verrannt hat, er kann's nicht recht begreifen. – Die Untersuchung ergab, daß ein Gewaltakt nicht stattgefunden hatte.

Armes Kind, keine Brillanten dieser Erde wiegen deine letzte Träne auf. Schlafe wohl!


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