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Siebentes Kapitel

1

21. August

Westlicher Kriegsschauplatz

. . . Zwischen Oise und Aisne hat gestern der seit einigen Tagen erwartete, am 18. und 19. August durch starke Angriffe eingeleitete, erneute Durchbruchsversuch des Feindes begonnen. Nach stärkster Feuersteigerung griffen weiße und schwarze Franzosen am frühen Morgen in tiefer Gliederung, unterstützt durch zahlreiche Panzerwagen auf 25 Kilometer breiter Front an. Sie drangen stellenweise in unsere vorderen Linien ein.

2

Eine besondere Bedeutung kommt bei der Sturmabwehr der Bekämpfung der feindlichen Panzerkraftwagen als eines neuen, bislang wenig bekannten Kampfmittels zu. Das auf Mulden, Wegen und auf den feindlichen Stellungen liegende Vernichtungs- und Sperrfeuer wird wahrscheinlich durch die Masse des Feuers vielfach die Panzerkraftwagen zum Halten bringen, so daß nur einzelne an und in unsere Linien gelangen werden. – Gegen diese wird die Bekämpfung durch Geschütze (Infanteriegeschütze oder Feldkanonen), die mit direktem Schuß auf nahe Entfernungen feuern, durchgeführt. Sie werden dazu mit einem Sondergeschoß ausgerüstet. Wichtig ist, daß diese Geschütze nicht vorzeitig ins Feuer treten, damit sie nicht erkannt werden und im Bedarfsfalle noch erhalten sind. – Nur ein derartig straff organisiertes Beschießen von Panzerkraftwagen wird Erfolg haben. Eine allgemeine Bestimmung, daß alle Batterien, die Panzerkraftwagen erkennen, das Feuer dagegen aufzunehmen haben, führt zu Verwirrung und Mißerfolg. (Gefechtsvorschrift für die Artillerie. Berlin 1917, Ziffer 299. Nur für den Dienstgebrauch)

3

Die furchtbare Waffe

Vor ihren Aisne-Karten,
Das Kampfspiel zu erwarten,
Saß Königin France.
Und um sie die Großen der Krone
Englands. »Was wären wir ohne
Unsre gewaltigen Tanks!«

Und wie sie winkt mit dem Finger,
Anrücken putzige Dinger,
Stahlriesen voll Sturms und Drangs.
Eben die Tanks.
»Die werden«, lacht sie mit Schnalzen,
»Deutschland niederwalzen,
Denn überall ist so ein Tank
Mittenmang.
Der Hindenburg gäbe, ich wette,
Viel drum, wenn er sie hätte!
Er neidet uns den Gedanken
Des Tanken.«

Und zu Ritter Hindenburg spottenderweis
Wendet sich Fräulein Mariann:
»Herr Ritter, glaubt Ihr wirklich daran,
Daß Geist die Maschinenkraft aufheben kann,
Ei, so hebt mir die Tanks da auf!«

Und bums! bums! dröhnt seine Kanonenlauf,
Zerschmettert gleich ohne Menkenke
Sechsundzwanzig Tänke.

»Nun hat er die Tanks, unsre Tanks, gekricht,
Nun wird er mit ihnen siegen!«
Doch Hindenburg leistet lächelnd Verzicht:
»Mir g’nügt das Schwert, das für Deutschland ficht,
Den Tank, Dame, begehr’ ich nicht!«

Und läßt ihn im Grabendreck liegen.

(Caliban, Der Tag, 28. 4. 1918)

4

22. August

. . . Zwischen Somme und Oise verlief der Tag ruhig. Südwestlich von Noyon haben wir uns in der Nacht vom 20. zum 21. kampflos vom Gegner etwas abgesetzt . . . . . . Zwischen Blerancourt und der Aisne setzte der Feind seine Angriffe tagsüber fort. Nur bei Blerancourt konnte er Boden gewinnen.

5

Die Tankabwehrgeschütze von Reisiger und Schmidt standen nahe an Blerancourt.

Zum Kommando gehörten außer den beiden Offizieren: Feldunterarzt Winkel, zwei Unteroffiziere, zehn Kanoniere und drei Telephonisten.

Die beiden Geschütze waren in einer ruhigen Nacht ohne Verluste in Stellung gegangen. Sie wurden auf freiem Feld postiert. Ein Dach aus Drahtgeflecht mit aufgeschüttetem Laub schützte vor Fliegersicht.

Einschießen der Geschütze war ausdrücklich verboten. Es sollte ausschließlich Überraschungswirkung gegen Panzerwagen in direktem Beschuß erzielt werden.

Offiziere und Mannschaften lagen in einer geräumigen Kalksteinhöhle in Bereitschaft. Sie teilten das Quartier mit der Reserve eines Infanteriebataillons. Der Führer dieser Reserve, Major Sänger, übernahm als Abschnittkommandeur auch den Befehl über die Geschütze.

Die Höhle war ein Quartier, wie man es seit vielen Wochen nicht mehr gehabt hatte. Sie bestand aus einem großen Raum, der die Ausmaße einer Bahnhofshalle von übergewöhnlichen Dimensionen hatte (er war von der Infanterie belegt), und aus einem kleineren Gewölbe, nicht größer als fünf Zimmer einer bürgerlichen Wohnung. Hier lag das Tankabwehrkommando.

Beide Räume waren durch einen unterirdischen Gang miteinander verbunden. Man hatte es tagelang nicht nötig, ins Freie zu gehen. Man war der Fliegersicht unter Garantie entzogen. Man konnte im Gang sogar kochen.

Die Höhle für die Artilleristen muß schon vor ihrem Einzug bewohnt gewesen sein: man fand einen Tisch, ein paar Kisten, und an der einen Wand übereinandergebaute Gestelle mit Stroh: Betten, wie man sie auch seit langem nicht mehr kannte.

Der einzige Raum gab eine neue Gemeinschaft. So hatten bei der Artillerie selten Offiziere mit den Mannschaften zusammengelebt wie hier. Man kochte gemeinsam, aß gemeinsam. Gegen Abend, wenn man zu der tags ständig brennenden Kerze verschwenderisch eine zweite stellte, saß alles am gleichen Tisch.

Es gab nicht Post, nicht Zeitungen: um so weniger man mit der Außenwelt verbunden war, um so eher löste sich die Zunge.

Was wurde gesprochen?

Nie viel. Aber immer, schon nach einigen Sätzen, war man beim gleichen Thema: Wann ist der Krieg zu Ende?

Reisiger ertappte sich oft dabei, wie es ihn brannte, von den Tischgenossen mehr zu hören; die Antwort auf die Frage: Wie wird der Krieg zu Ende gehen?

Die Antwort kam auch zuweilen. Vom Sieg redete niemand. Von Verhandlungen mit den Gegnern, von Liquidation sprach man schon öfter. Und sonst: nicht viel mehr Gedanken als das primitive: wir haben alle genug. Wir wollen nach Haus . . . Das hatte sich bereits festgesaugt. Das war bereits Gesetz.

Aber: Wie kommen wir nach Haus? Wer bestimmt das? Wer macht das Ende? – Nein, nein, so fragte man nicht.

Und im übrigen: man lebte ja ganz gut. Verpflegung gabs von der Infanterie. Reichlich Dörrgemüse, wenig Brot, wenig Marmelade, sehr wenig Käse. Man erfand einen »Käsekuchen«; Brot in fingerdicken Scheiben wurde mit Marmelade bestrichen, darüber legte man Käsewürfel. Das ganze hielt man auf dem Seitengewehr ins Feuer, bis der Belag zerlief.

6

Französische Flieger warfen kleine weiße Zettel ab. Es war verboten, sie zu lesen, befohlen, sie auf schnellstem Weg dem nächsten Offizier zu übergeben.

Man las sie trotzdem, man gab sie nicht dem nächsten Offizier, sondern dem nächsten Kameraden. Und man las so Tag für Tag:

Deutsche Kameraden! Sagt an, wann wollen wir ein Ende machen mit diesem ewigen Morden im Interesse des Zollerschen Großenwahns und einiger großer Geldsäcke? Denn warum dieser Krieg ist, weiß ein jeder von euch so gut wie ich, er sei auch aus jedem x-beliebigen Staate Deutschlands. Habt doch nicht solche Angst, Kameraden, und denkt daran, daß wir die Macht in Händen haben, daß die Macht unser ist. Hat euch doch der Preuße im Vertrauen auf euren Knechtessinn und eure Feigheit sogar die Flinte sowie 150 Patronen in die Hand gegeben, um unter der Devise: Mit Gott für König und Vaterland dafür zu kämpfen, daß euch und euren Nachkommen die Sklavenketten noch fester angeschmiedet werden, wie sie vorher schon waren. Darum wache auf, deutscher Michel, und zerbrich die Ketten, werde ein Mann und mache dich frei, damit deine Nachkommen dich nicht verachten und verspotten. Auch ich bin verheiratet und habe Kinder, und dennoch habe ich mich frei gemacht, denn welche Frau kann den Mann noch achten, der nach vier Jahren noch für seine Sklavenhalter kämpft, den Tod während eines Angriffs nicht scheut und dennoch nicht den Mut hat, für seine Rechte, seine Freiheit und die Befreiung seiner Angehörigen den Tod zu erleiden? Wenn ihr dazu nicht den Mut habt, Kameraden, so kommt herüber nach dem schönen Frankreich; hier wird man nicht allein satt und hat gut zu essen, sondern hier wirst du auch wie ein Mensch behandelt und nicht wie ein menschähnliches Tier.

Ein sich hier wie ein neugeborener Mensch fühlender Kamerad!

Weitergeben!

Rückseite:

Es scheint überhaupt, als sollte der Weltkrieg als Familienangelegenheit der Hohenzollern betrachtet werden. »Wilhelm hat angegriffen«, lautete vor kurzem ein Heeresbericht. Wilhelm hat nicht angegriffen, aber Tausende Soldaten haben angreifen müssen, während sich Wilhelm 40 oder 60 Kilometer hinter der Front befunden hatte. Lieber den Frieden ohne Monarchie, als den Krieg mit Monarchie. (Abg. Dr. Cohn, U.S., Reichstagssitzung vom 14. 6. 1918)

7

Reisiger und Schmidt meldeten sich jeden Abend nach Dunkelwerden beim Infanteriemajor. Dort lasen sie den Heeresbericht. Unbegreiflich, wie schlimm es überall aussah, wie die Maschinen der Fronten sich ineinanderwühlten. Unbegreiflich: denn hier war absolute Ruhe.

»Am Ende verschlafen wir hier noch den ganzen Krieg.« Der Major knurrte. »Hier verlieren meine Leute jede Kampftüchtigkeit.«

»Aber Herr Major – was nicht ist, kann noch werden.«

»Wenn wir Glück haben – daß unser Gelände den Feind nicht geradezu zum Angriff animiert . . . Sehen Sie doch . . .« Auf der Karte wurde Krieg gespielt. Immer wieder wurden alle Chancen durchdacht. »Ja – und Tanks . . .?« – Tanks kannte niemand. Hier im Abschnitt war so etwas bisher noch nicht aufgetaucht. Nach der Karte läßt es sich auch schwer ausdenken, wo die Biester ihre Ställe haben sollten. Das Gelände ist eben, steigt flach an. Und diesseits der Höhe, 600 Meter davor, liegt in den Trichtern unsere Infanterie. Was heißt da Tanks?

»Vermutlich hat der Feind Artillerie und Panzerwagen südlich von uns massiert. Und wir gucken in den Mond. – Ein Kotzkrieg. Wozu habe ich mein Bataillon? –«

Also – was soll man anders tun – wird Skat gespielt.

Jeden Abend, bis gegen Mitternacht.

8

Reisiger kommt mit Schmidt vom Major.

In der Höhle schläft alles. Am Fernsprecher sitzt Gorgas, Telephonist. Die Leitung zum Regiment ist in Ordnung; es gibt nichts Neues. Reisiger hat noch Hunger. Er kramt aus dem Sandsack neben dem Bettgestell etwas Brot hervor, setzt sich an den Tisch. Dort liegt ein vertrocknetes Stück Wurst, in eine Zeitung gewickelt. Seine Augen lesen in dieser Zeitung.

Zum Sprechen ist er zu faul. Seine Augen kommen auch von der Zeitung nicht los.

Schmidt interessiert sich: »Was lesen Sie denn da so Wichtiges?«

Reisiger brummt verstört: »Ach nichts Besonderes.«

Schmidt merkt, daß es keinen Sinn hat, Reisiger zu einer Unterhaltung zu animieren. »Na denn gute Nacht.« Rock und Stiefel aus, ins Bett.

Reisiger liest immer noch. Er weiß nicht, was er liest. Es kommt nicht ins Bewußtsein. Es wird nur buchstabiert. Was heißt das denn? – »Sagen Sie, Gorgas, gehört Ihnen die Wurst?«

»Jawohl, wenn Herr Leutnant sich bedienen wollen.«

»Nein, danke schön, mich interessiert nur das Papier.« Und schon wickelt er die Wurst aus, legt sie beiseite, glättet den Wisch. Na also, Nachrichten aus der Heimat. Das geht ja noch ganz nett zu. Von Krieg spüren die wirklich nichts. Fettlebe.

Es ist beinahe so, als ob man während der langen Postsperre das Lesen verlernt hat. Jeden Buchstaben muß man einzeln vornehmen, jedes Wort langsam zusammensetzen. Halblaut:

Als der Krieg ausbrach, da dachten wir, es werde ein Krieg auf kurze Zeit sein, aber die Dinge gestalteten sich anders. Auf die Kriegserklärung Rußlands folgte die Frankreichs, und als dann auch noch die Engländer über uns herfielen, da habe ich gesagt, ich freue mich darüber, und ich freue mich deswegen, weil wir jetzt mit unseren Feinden Abrechnung halten können und weil wir jetzt endlich einen direkten Ausgang vom Rhein zum Meere bekommen. Zehn Monate sind seit der Zeit . . .

Und ich freue mich darüber und ich freue mich deswegen und ich freue mich – zehn Monate – zehn . . .

Reisiger will sich zu Gorgas drehen: – Haben Sie schon gehört, daß König Ludwig eine Rede gehalten hat? Aber . . . »zehn Monate« . . . und er sieht sich den Bericht wieder an: 6. Juni 1915.

Ach so? Am 6. Juni 1915 freute sich der König Ludwig über die Feinde. Ach so? »Viel Feind viel Ehr.« Ach so?

Er wickelt die Wurst wieder ein, fest ins zerknitterte Blatt. Er schiebt sie quer über den Tisch, weit von sich.

Ach so – die Zeiten haben sich geändert. Und wo blieb die Freude?

6. Juni 1915. Kann man das eigentlich heute noch denken?

»Herr Leutnant, ich habe eben ein Gespräch von der Infanterie mitangehört, daß der Feind südlich von uns gegen Abend angegriffen hat. Er ist abgeschlagen. Der Telephonist sagte, daß Berge von Leichen vor den Graben lägen. – Das ist schon fast kein Krieg mehr –«

Das ist schon fast kein Krieg mehr? Doch! Das ist ja gerade Krieg! – »Gorgas, wann werden Sie ab gelöst?«

»Um zwei Uhr, Herr Leutnant.«

»Ich lege mich jetzt auch hin. Wenn was los ist, weckt mich.«

Reisiger findet seine Zeltbahn nicht. Er läßt sich vom Telephonisten eine Kerze geben und leuchtet die einzelnen Lager ab. Vielleicht hat irgendjemand geklaut.

Als er an die schlafenden Menschen herantritt, vergißt er das Suchen.

Er erinnert sich an die Nacht damals vor Arras, als er die ersten Toten sah. Diese ausgelöschten weißen Gesichter.

Jetzt ist das wieder hier. Jetzt ist das so stark, daß man nicht entscheiden kann: leben die Leute, die da weitausgestreckt zwischen den verdreckten Zeltbahnen liegen, oder leben sie nicht.

Diese Gesichter. Wie ausgebrannte Krater. Mit ganz scharfen Wänden. Die Nase steil und schmal, die scharfen Backenknochen, die Augenhöhlen tief eingedrückt, der Mund verkniffen, oder etwas geöffnet und schlaff. Und alles weiß, viel weißer als der Kalk.

Das ist nicht zu verstehen.

Warum muß das sein?

Der alte Kanonier Dietrich läßt die eine Hand auf die Erde hängen. Eine dicke, faltige Hand mit kurzen Fingern. An dem einen ein besonders breiter, rötlicher Ehering.

Warum liegt der Kanonier Dietrich hier?

Neben ihm der Arzt, der Doktor Winkel. Der ist noch erschreckender anzusehen. Der ist vollkommen verfallen. Bestimmt schon tot. Warum muß der tot sein?

Warum?

Da liegen die beiden Unteroffiziere nebeneinander. Der eine hat seine Hand unter die Schulter des Nebenmannes geschoben. Jetzt kommt diese Hand hinter dem Hals hervor. Vielleicht legt sie sich gleich um die Gurgel.

Aber nein, die ist ja auch weiß und starr.

Wenn man bloß begreifen könnte, warum?

Reisiger geht langsam wieder zum Tisch. Er weiß, dahinten, noch weiter im Schwarz der Höhle, da liegen noch mehr! Da liegt der Schmidt und da liegen die beiden jungen Kanoniere, die Neunzehnjährigen, die erst vor kurzem kamen. Das will er nicht mehr sehen. Das schreit ja doch alles nur Warum? Warum, warum, warum!!

– Das Telephon summt. Der Telephonist nimmt den Fernsprecher ans Ohr, lauscht einen Augenblick, sagt dann laut: »Warum?«

Was ist denn nun los?!

Es reißt etwas an Reisigers Nerven.

Er läßt die Kerze fallen, tritt schnell neben Gorgas, schreit ihn an: »Warum sagen sie ‚warum‘?«

Gorgas erschrickt. Er steht auf, macht ein erstauntes Gesicht, stammelt: »Warum ich Warum sage? – Das Regiment hat angerufen, ob wir noch Munition brauchen. – Und da habe ich, Herr Leutnant werden verzeihen, Warum gefragt.« Dabei sieht er Reisiger mit hilflosen Augen an. Darf man nicht Warum fragen?

Reisiger zieht aus seiner Rocktasche eine zerdrückte Zigarette. Er bricht sie in zwei Teile, gibt die eine Hälfte Gorgas. Er drückt ihm auf die Schulter: »Setzen Sie sich wieder. Ich wollte ja bloß wissen, was los ist.«

Sie rauchen. Das dauert vier Züge, dann ist die Zigarette zu Ende.

Reisiger dreht sich wieder ab, wieder zu seinem Lager hin.

Aber dann geht er zum Ausgang der Höhle, tritt ins Freie.

Sternenhimmel. Über dem Eingang hocken die beiden Posten, pfeifen. Vorn an der Front blitzt es manchmal auf. Aber im Gelände liegt kein Schuß.

Da ist der Große Bär. Kassiopeia. Das große W.

Das große W.

Reisiger spielt mit dem Laut auf seinen Lippen. Das große – W – das große W – W –. Bricht ab: Reisiger, du bist verrückt.

Ihn friert. Er will wieder in die Höhle gehen. Das große – W, große – W –; er lacht: W heißt? das große W, – große W, – große – das heißt also?

»Gorgas, haben Sie noch eine Zigarette?«

Gorgas kramt in allen Taschen und durchsucht das Futter seiner Mütze. »Nein, Herr Leutnant, es ist alles alle.«

Das große – das große –

Natürlich. Es gibt nur Ein großes W. Dieses unsinnige, dieses unsinnige: Warum. W – arum?

Und es steht hier über uns und über allen Schützengräben und über allen Batteriestellungen und über allen Stabsquartieren und über allen Oberkommandos; da steht das W, steht das W – arum?

Das ist eine Entdeckung, die Reisiger froh macht. Er möchte am liebsten den Doktor wecken und es ihm mitteilen. Schmidt wird nicht soviel Verständnis dafür haben. Der ist ja auch noch zu jung. Was wird der schon Warum fragen?

Aber man soll, das ist eine alte Regel, hier draußen niemanden wecken, wenn es nicht nötig ist. Laß ihn schlafen.

Wo, verflucht, ist die Zeltbahn? Diese ganzen Überlegungen wären bestimmt nicht gekommen, wenn die Zeltbahn im Bett läge.

Aber das ist egal. Den Rock über die Knie gedeckt, Stiefel anbehalten. Reisiger schläft ein.

Er hört noch, wie Gorgas von Trebbin abgelöst wird. Es ist also zwei Uhr.

9

Drei Stunden später. 5 Uhr früh. Die beiden Posten auf dem Eingang der Höhle liegen auf dem Bauch. Sie dämmern. In einer Stunde werden sie eingezogen.

Da bewegt sich, wie sie beide an den Rand des Horizontes gegen den Feind hin sehen, die Erde. Es heben sich gegen das fahle Grau des Himmels an sechs, acht Stellen des Frontabschnittes schwärzliche Blöcke. Oder schwärzliche Berge. Oder Häuser, mit übermannshohem Giebel, der langsam emporsteigt.

Die beiden Posten haben in ihrem Leben keinen Tank gesehen.

Sie wissen: Das sind Tanks.

Da, wo die schwarzen Blöcke jetzt kriechen, wenige Sekunden nach ihrem Auftauchen, da ist unsere vorderste Infanterielinie.

Warum schießt die Infanterie nicht?

Es gibt für die Posten des Tankabwehrzuges eigentlich nur einen Befehl, sobald ein Tank sichtbar wird: »An die Geschütze.«

Die beiden Soldaten greifen in den Erdboden, glotzen nach vorn.

Da einer, ein Tank, da noch einer, fünf, acht, elf, da noch zwei.

Das ist unfaßbar.

Nein, das ist faßbar: Es beginnt ein Feuerüberfall des Feindes. Er muß auf die Sekunde genau von einigen Dutzend Batterien gleichzeitig eröffnet worden sein. Es pfeift, brüllt, klatscht, hagelt.

Einer der ersten schweren Schüsse haut vor den Eingang der Höhle.

Die beiden Posten fliegen im Bogen hoch, liegen platt, springen in den Eingang. Brüllen »An die Geschütze.«

In der Höhle ist alles verwirrt. Die beiden Posten stehen vor Reisiger: »Herr Leutnant, sie sind da.«

Ein Feuerstrahl schlägt in den Eingang. Der Telephonist fliegt mit seinem Gerät beinahe gegen die hintere Wand. Der Tisch bäumt sich.

Da ist alles wach. Aber das Denken setzt noch einen Augenblick aus. »Wer ist da?« Reisiger sieht den Posten an, dreht sich um zu Leutnant Schmidt. »Aha – ein ganz anständiges Trommelfeuer.«

»Herr Leutnant – Tanks!«

Tanks? Ja, ist denn das Wort allein schon lähmend? Reisiger muß sich einen Ruck geben. Aber er sieht, daß alle andern noch erstarrt dastehen.

Er brüllt los: »Was steht ihr denn – ihr hört doch – Tanks – Herr Leutnant Schmidt – schnell an die Geschütze!«

Er nimmt Stahlhelm, Gasmaske, geht an den Eingang.

Die Aussicht ist schwärzer als die Wand der Höhle. Trommelfeuer. Man erkennt nicht mehr einzelne Schüsse. Nur einen schwarzen Vorhang, zuckend, höher, auf einen Augenblick tiefer, dann wieder hoch. Flammen dazwischen.

Alle sind jetzt hinter Reisiger getreten.

Schmidt: »Verfluchtes Caféhaus – wie sollen wir denn an unsere Flinten kommen?«

Reisiger: »Einer nach dem andern – Sprung auf marsch, marsch – wer liegen bleibt, bleibt liegen – Haben wir Verbindung mit dem Regiment?«

Der Summerton krächzt kaum hörbar. »Nein, Herr Leutnant, alles kaputt.«

»Und die Infanterie? Schmidt laufen Sie doch mal durch den Gang – was der Major macht.«

Schmidt ab.

»Unteroffizier Gross – Sie gehen als Erster vor.«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.« – Und etwas lächelnd: »Wenn das man gut geht. – Lehmann, Sie kommen als nächster – so ungefähr zehn Schritt Abstand – und dann die andern.«

Wieder haut ein Schuß ganz dicht gegen die Höhle. Er lag direkt auf dem Dach vor dem Eingang. Eine Wand schlägt nach innen.

Reisiger schiebt den Dreck mit dem Fuß etwas zur Seite: »Um so besser wird die Deckung – also los Gross.«

Schuß, daß das Feuer heiß gegen die Wände spritzt. Gross springt ab. Er ist im schwarzen Rauch verschwunden.

»Zwei – drei – vier –«, Reisiger zählt laut bis zehn: »Der nächste!«

Und der nächste wird von der schwarzen Wand verschluckt.

Wo bleibt Schmidt? Was macht die Infanterie?

Man hört Schritte durch den Verbindungsgang: »Reisiger, die Höhle ist leer. Die Infanterie ist wohl in der rückwärtigen Aufnahmestellung. – Wenigstens den Fußspuren nach. Sie haben nur ein paar Verwundete zurückgelassen.«

Schöne Aussichten. Wenn jetzt die erste Linie überrannt ist, sind wir ohne Deckung.

Plötzlich vorn ein Gebrüll. Aus einer Feuersäule bricht der Kanonier Lehmann hervor. Er geht auf den Knien, ohne Stahlhelm, zerrt etwas hinter sich her. Richtet sich auf, greift mit der andern Hand nach rückwärts. Er legt Reisiger den Unteroffizier Gross vor die Füße. Ein Arm ist ab. Der Uniformrock vom Hals bis zur Hüfte aufgerissen. Keucht: »Herr Leutnant, an Durchkommen ist nicht zu denken.«

Reisiger sieht auf den Unteroffizier. Wie der blutet. Zwei Kanoniere schleppen ihn ab. Kommt der Doktor: »Nichts mehr zu machen. Der war Gott sei Dank sofort tot.«

Wieder ein Schuß auf die Deckung. Der Eingang verengt sich. Alles tritt etwas mehr nach hinten.

»Herr Reisiger – dann will ich es erst versuchen.« Leutnant Schmidt zieht das Sturmband am Helm fester.

»Ich fürchte, lieber Schmidt, wir müssen alle, ob wir wollen oder nicht. Es fehlt bloß, daß der Feind uns den Eingang ganz einschießt. Dann ersticken wir hier. Denn der Ausgang bei der Infanterie liegt ja genau in Schußrichtung. – Also ich gehe zuerst. Mit zehn Schritt Abstand kommen alle nach –; Jungens, sowie wir bei den Geschützen sind, kann uns nichts mehr passieren.«

Reisiger springt ohne ein weiteres Wort ab.

Jetzt zählt Schmidt.

Der erste Kanonier ist weg.

Der zweite Kanonier ist weg.

Jetzt kommt Unteroffizier Dircksen. Geschützführer von Reisigers Geschütz. »Neun, zehn – ab!«

Wie der Unteroffizier gerade verschwinden will, springt er hoch, schlägt nach hinten. Aus.

Nun der nächste. Schmidt ist unsicher: »Nun, wer ist der nächste?« Keine Antwort.

Also dann erst die beiden Jungen. »Ziese – raus mit Ihnen.«

Der Kanonier Ziese schlägt die Hacken zusammen, wie er es auf dem Exerzierplatz gelernt hat.

Dann kniet er sich hin, ein Läufer vor dem Start. Ab! Springt über den toten Unteroffizier, kommt eben außer Sicht.

Da schreit der zweite von den Jungen auf. Ja! – Auch Ziese schlägt nach hinten.

Schmidt ist ratlos.

Die schwarze Wand tanzt auf und nieder. Jetzt, einmal, hebt sich die ganze Höhle. Man spürt deutlich, daß der Boden nach oben stößt.

Himmel Herr Gott Sakrament – wir müssen zu den Geschützen!

Neuer Schuß! Wie der Rauch zur Seite treibt, steht Reisiger da. Er stolpert in den Eingang zurück: »Es hat keinen Sinn, beide Geschütze sind kurz und klein. Karabiner laden, der Feind ist gleich hier.«

Karabiner laden? Artilleristen wissen von Karabinern soviel wie Infanteristen von Kanonen.

Alles läuft verwirrt durcheinander.

Reisiger, sinnlos: »Der Feind ist gleich hier, versteht ihr mich denn nicht?«

»Herr Reisiger, was wollen wir paar Mann eigentlich mit dem Feind?« – Schmidt fragt etwas spöttisch. Reisiger sieht ihn wütend an. Schmidt korrigiert sich: »Natürlich verteidigen wir uns bis zum – der Feind schießt ja gar nicht mehr.«

Sie drängen wieder alle gegen den Eingang. Nein: Die feindliche Artillerie schießt nicht mehr.

Stattdessen rast ein Gewehrfeuer.

Gewehrfeuer macht keinen Eindruck. Bloß Gewehrfeuer. Alle bekommen neuen Mut.

»Vor allen Dingen werden wir feststellen, was los ist« sagt Reisiger. »Kommen Sie, Schmidt.« – Beide nehmen Karabiner und gehen aus der Höhle. Aufrecht. Aber dann fallen sie schnellstens ins Knie, legen sich hin.

»Schmidt – da sind sie –!«

Das Lärmen des Infanteriefeuers geht unter in einem nie gehörten Getöse.

Hundert Meter vor Reisiger kriecht ein Tank heran.

Ein Riese aus der Urwelt.

Ein ungeheurer, schwärzlicher, nackter Rücken, schwerfällig getragen von zwei ungeheuren Tausendfüßen, die schlurrend und schleifend über die Erde scheuern.

Zwei Nüstern am Kopf bellen, unaufhörlich, und fauchen unaufhörlich gelbliche stechende Flammen.

Ein Tank! Und nicht weit davon eine zweite Bestie. Und schon eine dritte, eine vierte.

Und bellen und fauchen und schurren näher heran.

Da steht ein Baum, zerfetzt, armselig, aber den Stamm wenigstens noch gegen den Himmel gereckt. Halt! – Und der Tank geht auf ihn los. Der Stamm bricht in die Knie. Wird zerwalzt.

Da ist ein Buschwerk, Drahtverhaue, tief in die Erde betoniert. Halt! Die Bestie schiebt sich ohne Pause dazwischen hindurch.

– Wo ist unsere Infanterie? Wo ist unsere erste Linie? »Schmidt, wo ist unsere erste Linie? Es müssen doch irgendwo Infanteristen sein!«

Schmidt richtet sich etwas auf, stützt sich mit dem Arm, zeigt: »Da kommen doch –«

Reisiger hört, daß etwas hart aufschlägt, wie Stein auf Stein. – Der Schuß sitzt direkt zwischen Schmidts Augen. Er kippt um. »Schmidt!« Keine Zeit – »Schmidt – da kommen doch«

Reisiger richtet sich höher. Was hat Schmidt gezeigt? Da kommen doch – das sind ja niemals deutsche Truppen! – Er duckt sich tiefer: Das sind Amerikaner.

Maschinengewehrfeuer. Überall. Auch von hinten. Gott sei Dank, das ist die Infanterie in der zweiten Linie.

Reisiger sieht sich um. Vielleicht ist das der Major mit den Reserven.

Aber vor ihm, und das ist wichtiger, und das wird drohend: Die Tanks, immer näher, immer näher. Und halbrechts, ja, man kann es schon deutlich sehen: Amerikanische Infanterie.

Karabiner!

– Schmidt ist tot. Was soll ich einzelner Mensch mit dem Karabiner.

Das werden unsere Leute in der zweiten Linie hoffentlich alleine besorgen.

Zurück zur Höhle: Da werden wir uns verteidigen.

– Zurück zur Höhle. »Winkel, Leutnant Schmidt ist tot. – Jungens, jetzt geht es um das Letzte. Ein Tank wird bald hier sein. Der Feind hat amerikanische Infanterie. – Wir müssen uns nach rückwärts durchschlagen.«

Reisiger sieht die Leute an. Die stehen da, bekniffen. Gewiß, die beiden Unteroffiziere sind tot, Leutnant Schmidt ist tot und die beiden Kriegsfreiwilligen. Aber so etwas ist man doch gewöhnt. »Oder was denkt ihr euch?«

Sie denken sich was. Man sieht an ihren Gesichtern, daß sie irgendetwas überlegt haben. »Also raus mit der Sprache – jede Minute ist wichtig – na, Gorgas, was meint ihr?«

Gorgas tritt von dem einen Bein aufs andere, sieht Reisiger an und den Doktor Winkel und dann die Kameraden: »Herr Leutnant, ich meine – wir hatten bloß gedacht – wir haben vorhin, wie Herr Leutnant draußen waren, hinten von der Infanterie in der großen Höhle die Verwundeten zu uns geholt. Und da meinte Herr Doktor – und da meine ich – die haben wir hierher gelegt, damit sie nicht allein sind. Und ob wir die nicht pflegen dürfen?«

Reisiger versteht nicht recht. Er sieht Winkel an. Der zuckt mit den Achseln. Ist das Zustimmung oder Ablehnung? – »Also, was ist nun los?«

Gorgas fährt fort: »Und da meinte ich – wenn der Feind kommt und wir sagen, daß hier Verwundete liegen und daß wir so etwas wie Sanitäter sind –« Mehr sagt er nicht.

»Also gefangen wollt ihr euch nehmen lassen?«

Schweigen.

»Kerls, Ihr seid wohl vom Lieben Gott verlassen. Ich kann doch nicht euch sieben Mann hier einfach den Amerikanern schenken. Außerdem, ist euch klar, daß die keineswegs warten werden, bis ihr so gut seid und ihnen aus der Höhle entgegengeht? Die schmeißen, das wißt ihr doch, in jedes Loch eine Handgranate. Wollt ihr die lieber in die Fresse haben?«

Da tritt der Landsturmmann Dietrich vor: »Herr Leutnant, wenn wir bitten dürfen: lieber so – und dann ist es ja wirklich wegen der Verwundeten.«

Was tun?

Reisiger geht wieder an den Ausgang. Ja, dieses seltsame Geräusch der anrollenden Tanks ist stärker geworden. Es handelt sich vielleicht wirklich nur noch um Minuten. Wer dann nicht aus der Höhle heraus ist, muß hierbleiben.

Er setzt sich den Stahlhelm fest auf die Stirn: »Doktor, kommen Sie mit?«

Er wollte es als Frage sagen. Und nun ist es wie ein Befehl geworden. Winkel schluckt: »Selbstverständlich.«

»Also, Ihr wollt mich allein lassen?«

Gorgas: »Herr Leutnant, es ist wegen der Verwundeten.«

»Dann steckt gefälligst ein weißes Taschentuch an den Eingang. Und wer gefangen wird, schreibt mir eine Karte. Los Doktor.«

10

Die ersten fünfzig Meter in gebückter Haltung. Winkel hinter Reisiger her. Verflucht, der Feind schießt doch noch mit Artillerie. Der Schuß saß direkt vor der Nase. Also hinlegen. Die Splitter sausen singend hoch. Die tun einem nichts mehr. Umsehen: die armen Kerls in der Höhle! Der eine Tank muß in ein paar Minuten bei ihnen sein.

Weiter. Auf dem Bauch kriechen. Das ist schwierig, weil der Weg zertrommelt ist. Es geht immer auf und nieder, den Kopf in die Höhe, dann wieder auf die Füße. Jetzt noch zwanzig Meter, dann ist eine kleine Deckung da, ein kümmerlicher Hohlweg. Mit einer Wand, schulterhoch nach hinten. Mit einer Deckung, wenig mehr als zwanzig Zentimeter nach vorn. Besser als nichts. Wenn einen nur die Bande nicht entdeckt.

So kriechen sie, kriechen. Artillerieschüsse. Die Maschinengewehre kläffen. Da sie mit der Nase möglichst im Dreck schleppen, sehen sie nicht viel. Reisiger wird leichtsinnig. Ach was, drei Schritt, dann ist der Hohlweg da. Einen Sprung über die zwei Meter. Deckung! Winkel dahinter.

Winkel schiebt sich vor, sie liegen Kopf an Kopf.

»Eine ulkige Sache. Es kommt mir vor, als wenn wir die beiden einzigen Menschen auf der ganzen französischen Erde wären. Außer den Tanks natürlich. Aber die werden uns ja nichts tun. Dabei habe ich vorhin bestimmt Amerikaner gesehen.«

Beide heben den Kopf, behutsam. Jetzt sind sie aus der Deckung heraus. Aber zwischen Stahlhelm und Erdboden ist nur ein schmaler Spalt.

»Sehen Sie etwas, Winkel?«

Und beide gleichzeitig ziehen den Kopf wieder ein. Lieber Himmel, so viel Amerikaner gibt es gar nicht. Es wimmelt vor ihnen. Vielleicht auf zweihundert Meter Entfernung. »Winkel, die gehen ja aufrecht, als ob sie einen Spaziergang machten!«

Winkel antwortet nicht.

Hinter ihnen wütendes Maschinengewehr. Reisiger wälzt sich langsam auf den Rücken, vielleicht kann man sehen, wer da eigentlich schießt. O ja, man kann es sehen.

Man sieht sehr deutlich, daß die schulterhohe Deckung Zentimeter an Zentimeter in kleinen, sprühenden Sandfontänen hochgeht: Die deutschen M.G.s der rückwärtigen Stellung kämmen also ausgerechnet diesen Hang ab.

»Wir müssen auf dem Bauche weiterkriechen.«

»Aber Herr Reisiger, das kann ja stundenlang so weiter schießen.«

»Ja, sollen wir springen?«

Das mag gehen. Reisiger setzt sich in die Hocke. Im selben Augenblick gibt es Feuer von vorn. Wie er wieder auf den Bauch gleitet und hochschielt, hüpfen dieselben kleinen Fontänen, die auf der rückwärtigen Deckung hin und hergeben, nun auch vor ihnen.

Das heißt: sie liegen genau im Strichfeuer der Maschinengewehre von Freund und Feind.

Und das bedeutet: hier sinnlos festgenagelt werden.

Lauter wird der Lärm der Tanks, lebhafter hüpfen die kleinen Fontänen. Wahrscheinlich kommen die Amerikaner Schritt vor Schritt näher. Das Ende wird also sein: Mit einem Kolben eins auf den Schädel zu bekommen. »Ja, lieber Doktor, es gibt gar keine andere Lösung: hier müssen wir fort.«

Winkel, verbissen, lachend: »Das scheint mir in der Tat auch so.«

Wie gut man doch seine Gedanken beisammen hat. Reisiger doziert mit lauter Stimme: »Es handelt sich um einen Schuß in den Kopf oder um einen Schuß in den Bauch. Sie, verehrter Doktor, werden mit mir einer Meinung sein, daß der Kopfschuß das Erfreulichere ist. Also: Wenn wir jetzt aufrecht stehen, versetzt uns unsere eigene Infanterie den Heldentod durch Kopfschuß. Bücken wir uns aber und laufen mit eingezogenen Knien, knallt uns der Tommy in den Wanst. Ergo: wir gehen aufrecht.«

Eins, zwei, drei: Sie stehen. Sie setzen sich in Bewegung, aufrecht, oder so gut wie aufrecht, den Kopf nur vorsichtig auf die Brust geklemmt. Sehen nach rechts: Da ist die hohe Böschung, ja, und da, immer in Scheitelhöhe, schlagen die deutschen Kugeln ein.

Sehen nach links – sehen nach links – und dann vergessen sie jeden Vorsatz und jede Überlegung: da kommen drei oder vier Reihen hintereinander, aufrechter als sie, untergehakt, das Gewehr wie bei einer Treibjagd zwanglos unter dem Arm geklemmt, Amerikaner. So nahe, daß man die Gesichter erkennen kann. So nahe, daß man sieht, wie einzelne Gruppen lachen, hin und her schwanken, als ob sie im Tanzschritt gingen. Dort links treibt eine gesonderte Gruppe einen Fußball vor sich her. – Immer wieder wirft einer und der andere plötzlich die Arme hoch und sinkt zusammen. Die Reihen schließen sich. Die Lebenden gehen weiter.

Von nichts gedeckt als von den Tanks.

Und die Tanks, die schlurfen heran. Ihr Gebrüll wird immer lauter, immer dumpfer, immer unwirklicher.

Ein paar Sekunden diesen Bildern. Dann wieder lostraben!

Da sehen Reisiger und Winkel, daß die Kette der kleinen Fontänen ihnen zu Füßen folgt und immer da, wo sie laufen, folgt, zehn Zentimeter neben ihnen, zwanzig, näher, weiter und immer tänzelnd folgt.

Sie stürzen in Galopp. Den Hohlweg weiter. Durch Granattrichter. Sie versinken bis zu den Schultern, klettern wieder heraus, stürzen kopfüber in neue Krater.

Der Feind kommt näher.

Und die Tanks schießen. Und die Amerikaner schießen vor ihnen und die Deutschen schießen hinter ihnen. Und das Trommelfeuer wird zum Fortissimo.

Laufen, laufen! Es ist eine irrsinnige Hitze. Muß wohl Mittag sein. Die Sonne brennt. – Laufen. – Wie Reisiger sich einmal umsieht, wirft Winkel gerade seinen Rock weg. Rast in Hemdsärmeln weiter.

Die Böschung ist zu Ende. Es hilft nichts: hinauf auf das freie Feld. Nur weg vom Feind!

Reisiger springt zuerst auf das Plateau.

Da sieht er, daß die deutsche Infanterie gerade aus der Reservestellung klettert. »Winkel, die Rettung kommt!«

Aber nein. Aber Wahnsinn! Es gibt keinen Sturmangriff und keine Abwehr. Ein Tank ist bereits bis zur zweiten Stellung durchgestoßen, ach, weit durchgestoßen. Der fährt nun direkt auf der Linie des Grabens entlang und schießt mit zwei M.G.s unmittelbar in die Deckungen hinein. Und die Infanterie reißt aus, reißt aus, läuft, läuft, rette sich wer kann.

Also hinterher!

Einmal den Blick herum. – Überall Tanks. Überall die vierfache Mauer der Amerikaner, Schritt vor Schritt.

Das Gelände erhebt sich. Je höher Reisiger und Winkel kommen, je besser die Fernsicht für sie wird, desto deutlicher sehen sie den Kessel, der sich schließt. – Kolonnen aufrecht, Amerikaner und Engländer und Franzosen. Und davor Tanks. – Und im Kessel Tausende von Menschen, die Deutschen. – Alles rennt, rennt. Eine Stelle in der Klemme ist noch offen: Richtung Deutschland! Zurück!

Und immer wieder, wohin man sieht: diese seltsame Bewegung, der leichte Sprung, fast kerzengerade in die Luft, und hilfeschreiende Arme, und das Zusammensinken.

Laufen, laufen.

Batteriestellungen. Da ist alles tot. Die Geschütze sind durcheinander gefegt, bilden unentwirrbare Schutthaufen.

Maschinengewehrstände. Aber die Mannschaften sind fort.

Und Tote, überall Tote und Verwundete.

Laufen, weiterlaufen!

Der Feind hat inzwischen seine Artillerie vorgezogen. Es beginnt im Hintergelände das Trommelfeuer. Nach zehn Minuten starrt die ganze Gegend von mannsdicken und haushohen Feuersäulen.

Da hinein müssen die Deutschen!

Und die Tanks kommen. Und dahinter Amerikaner und Engländer und Franzosen.

Es liegt da ein Wald. Er brennt. Aber er ist lebendig. Durch die Gassen seiner Stämme wälzt sich nach rückwärts in dicken Kolonnen die Infanterie.

Es liegt da eine Chaussee; Auf ihr wollen Kolonnen mit Wagen und Pferden und Geschützen und Autos nach rückwärts.

Über ihnen verfinstert sich der Himmel. Aus einer Höhe von wenigen Metern stoßen Scharen von Fliegern auf sie herab. Maschinengewehre mähen das Leben zu Boden.

Die Kolonnen kommen ins Stocken, geraten über einander.

Neue Fliegerscharen werfen Kettenbomben ab. Bomben, die eine hundertfache Explosion erzeugen, tausendfach töten und zerreißen und töten.

Laufen, laufen, laufen.

11

7057000 Mann gegen 2500000 Mann.

12

Die nationale Verteidigung, die Erhebung des Volkes muß eingeleitet, ein Verteidigungsamt errichtet werden. Beides tritt nur dann in Kraft, wenn die Not es fordert, wenn man uns zurückstößt; doch darf kein Tag verloren gehen.

Das Amt ist keiner bestehenden Behörde anzugliedern, es besteht aus Bürgern und Soldaten und hat weite Vollmacht.

Seine Aufgabe ist dreifach.

Erstens wendet es sich im Aufruf an das Volk, in einer Sprache der Rückhaltlosigkeit und Wahrheit. Wer sich berufen fühlt, mag sich melden, es gibt ältere Männer genug, die gesund und bereit sind, ermüdeten Brüdern an der Front mit Leib und Seele zu helfen.

Zweitens müssen alle die Feldgrauen zur Front zurück, die man heute in Städten, auf Bahnhöfen und in Eisenbahnen sieht, wenn es auch für manchen hart sein mag, den schwerverdienten Urlaub zu unterbrechen.

Drittens müssen in Ost und West, in Etappen und im Hinterland, aus Kanzleien, Wachtstuben und Truppenplätzen die Waffentragenden ausgesiebt werden. Was nützen uns heute noch Besatzungen und Expeditionen in Rußland? Schwerlich ist in diesem Augenblick mehr als die Hälfte unserer Truppen an der Westfront.

Einer erneuten Front werden andere Bedingungen geboten als einer ermüdeten. (Walter Rathenau, Vossische Zeitung, Berlin, 7. 10. 1918)

13

Unter allen Umständen muß der Eindruck vermieden werden, als gehe unser Friedensschritt von militärischer Seite aus. Reichskanzler und Regierung haben es auf sich genommen, den Schritt von sich aus gehen zu lassen. Diesen Eindruck darf die Presse nicht zerstören. Sie muß immer wieder betonen, daß die Regierung es ist, die getreu ihren wiederholt geäußerten Prinzipien sich zum Friedensschritt entschloß. (Pressekonferenz, 16. 10. 1918)

14

Gen. Ludendorff bat soeben Frhr. v. Grünau und mich in Gegenwart von Oberst Heye, Ew. Exz. seine dringende Bitte zu übermitteln, daß unser Friedensangebot sofort hinausgeht. Heute halte die Truppe, was morgen geschehe, sei nicht vorauszusehen. (v. Lersner, Vertreter d. Auswärtigen Amtes, 1. 10. 1918, 1 Uhr mittags)

15

Da Reisiger, wie man ihn findet und zum Generalkommando führt, erklärt, daß er den Krieg für das größte aller Verbrechen hält, verhaftet man ihn und sperrt ihn ins Irrenhaus.

16

Reisiger liegt in einer Isolierzelle. Das ist ein Grab, düster, kalt, mit einer bläulichen Lampe erhellt. Verschlossen die Tür, vergittert das Fenster mit dem zentimeterdicken Glas.

So, nun bin ich begraben. Nun ist es zu Ende. Jetzt wäre es notwendig, meiner Mutter noch zu schreiben, daß ich hier liege. Aber das erlaubt niemand. Ich bin ja verrückt. Ich bin auf allerhöchsten Befehl eines allerhöchsten Kommandierenden Generals verrückt. Muß ja auch so sein. Ein Offizier, der ausrückt, der nicht mehr mitspielt, ist verrückt. Ausrückt verrückt, ausrückt verrückt rückt – es ist zum lachen, wie ich hier liege. Und dabei habe ich ihm ja gar nicht gesagt, daß ich nicht mehr mitspiele. Herr General, habe ich nur gesagt, erschießen Sie mich bitte, hier, bedienen Sie sich, aber ich gehe nicht Einen Schritt mehr nach vorn. Das größte aller Verbrechen mach ich nicht länger . . . Wo sind denn auch Sie so lange gewesen? Und warum halten Sie denn die Tanks nicht auf, was? – Und, Herr, mäßigen Sie sich, hat er gesagt. Und gebrüllt habe ich, daß der Husar mit den Lackstiefeln blaß geworden ist; ich denke nicht dran, mich zu mäßigen, habe ich gesagt. Ich mäßige mich seit viel zu langer Zeit, und wenn ich mich schon früher nicht gemäßigt hätte, dann lebten sie alle noch, die gefallen sind. Ich behaupte so laut wie Sie es hören wollen, daß wir alle mitschuldig sind an diesem sinnlosen Verbrechen und ich dulde nicht, daß hier jetzt einer lacht, und außerdem, verlassen Sie sich darauf, kommen die Tanks gleich hier ins Dorf. – Und mich gepackt – warum habe ich mich nicht gewehrt – und mich ins Auto gelegt, festgeschnallt auf der Bahre, und unter die Bank geschoben, auf der ein Mensch ohne Beine verblutete, daß ich naß wurde im Gesicht. Und gestern hier Fahrt durch die Stadt, im vergitterten Wagen, und gelacht und gesungen – und erklärt, mit aller Inbrunst, zu allen Ärzten: meine Herren, ich schwöre Ihnen, ich bin nicht verrückt. Ich spiele auch nicht verrückt. – Ich erkläre Ihnen bei meinem Leben: ich weiß, was ich tue und sage: es geht um nichts anderes als darum, zu sagen: ich, ich, ich mache den Krieg nicht mehr mit. Ich mache den Krieg nicht mehr mit. Ich weiß, ich lasse meine Kameraden in Stich, und das ist vielleicht feige. Aber: ja: ich bin feige. Ich will feige sein. Ich lege es Ihnen ja immer wieder nahe: erschießt mich doch. Verhängt doch eure lächerlichen Kriegsgesetze über mich und erschießt mich doch. Aber ich mache nicht mehr mit. Ich will nicht länger mitschuldig sein. Es geht um mehr als um den Sieg, an den ihr ja doch genau so wenig noch glaubt wie ich. Es geht darum, daß jede Sekunde noch Menschen erschossen und erschlagen und verstümmelt werden – und weswegen? Um einer Sinnlosigkeit willen, denn wir können nicht mehr siegen. Wir haben uns da draußen jahrelang geschlagen wie kein Heer der Welt, wir haben allen Glauben gehabt, auch wenn wir Nein sagten. Nun ist es genug. Und ich mache nicht mehr mit. Und ich mache nicht mehr mit. – Aber dann lachen Sie und bedauern mich. Nehmen Sie die Hand von meiner Stirn, habe ich den Arzt angeschrien, ich will nicht getröstet werden. Ich bin nicht zu bedauern, ich bin nicht krank, ich bin nicht verrückt, ich will nicht entschuldigt werden, ich sage Ihnen, ich weiß, was ich tue. Der Krieg ist das größte Verbrechen, das ich kenne. Ich habe schuld an ihm. Ich habe jahrelang schuld an ihm gehabt. Durch mein Kommando sind Menschen getötet worden. Jetzt ist es aus. Laßt es mich doch büßen. Macht mich doch tot, weil ich bewußt, bewußt euch im Stich lasse –

Aber wie ich dann weine, lachen Sie noch mitleidiger, sagen: armer, verrückter Leutnant. Und ich bin so klar wie nie vorher in meinem Leben: es ist Verbrechen, auch nur Eine Sekunde weiter teilzuhaben an dem Mord.

17

Festungslazarett Mainz, Nervenstation. Wochenbericht 6.–13. 9. 18. Krankenwärter: Neuhagen.

Reisiger, Adolf, Ltn. d. R. F.A.R. 253. Befund wie in voriger Woche. Der Kranke schläft nicht, ißt nicht, sieht starr vor sich hin. Wenn man mit ihm redet, hat er ständig nur einen Satz zur Antwort: »Es ist ja immer noch Krieg. Leckt mich am Arsch!«


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