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Viertes Kapitel

1

Großes Hauptquartier

3. 12. 1917

Östlicher Kriegsschauplatz.

In zahlreichen Abschnitten der russischen Front ist von Division zu Division örtliche Waffenruhe vereinbart worden.

2

Brief des Leutnants Reisiger an seine Eltern:

Feuerstellung 9/253, 6. 12. 1917.

Liebe Eltern!

Wenn Ihr diesen Brief erhaltet, werdet Ihr inzwischen erfahren haben, daß hier jetzt der Waffenstillstand »ausgebrochen« ist. Wir haben vorhin eine telephonische Meldung erhalten, nach der wir verpflichtet sind, keinen Schuß mehr abzugeben. Das war ja seit Tagen zu erwarten, aber es hat bis zum letzten Augenblick doch kein Mensch glauben wollen.

Es ist jetzt drei Uhr nachmittags, eine irrsinnige Kälte. Ich sitze mit meinem Unteroffizier und einem Telephonisten auf der Beobachtung dicht hinter unserem ersten Graben. Wenn ich durch das Scherenfernrohr sehe, begreife ich erst, was Waffenstillstand heißt. Die Gräben der Deutschen und der Russen liegen etwa 200 Meter auseinander. Aus allen Stellungen sind die Soldaten herausgekrochen. Wohin man auch blickt, stehen die deutschen Infanteristen mit den russischen Soldaten zusammen auf freiem Feld. Kein Mensch hat mehr Waffen bei sich. Ich hörte vorhin, daß statt dessen ein lebhafter Tauschhandel eingesetzt hat. Unsere Infanteristen geben Zigaretten gegen Seife und russischen Tee ab.

Ich bin fast neidisch, wenn ich das sehe. Am liebsten würde ich hier aus der Beobachtung auskratzen und selber versuchen, mit einem Russen zu sprechen. Das Gefühl, daß die »Feinde« nun plötzlich Menschen geworden sind, weil es irgendeiner der hohen Herren so gewünscht hat, ist herrlich.

Ich muß nun heute nacht noch hier oben bleiben, weiß zwar nicht wozu. Morgen früh werde ich aber bestimmt mit den Infanteristen zwischen den Gräben herumstrolchen. Es ist ein unvorstellbarer Gedanke, daß man richtig auf zwei Beinen aufrecht und hoch auf der blanken Erde spazieren gehen kann, ohne das Gefühl, daß der Feind einem zwischen die Augen schießt.

Lebt wohl.

Gestern vor einem Vierteljahr bin ich Offizier geworden. Ein wichtiger Tag; ob Mutter daran denkt? (Es war übrigens doch schöner: richtiggehender »gemeiner« Soldat zu sein. Weniger wegen Skatspielen, als weil man so furchtbar fein sein muß. Ich sch . . . . auf die Feinheit.) Und was macht Frankreich? Ach du lieber Gott! Ich habe es verflucht dicke, aber ein Offizier darf so was nicht sagen.

Die Postsperre, die irgendein freundlicher Herr über mich verhängt hatte (vermutlich wegen meiner Kriegsgedichte), scheint huldvollst aufgehoben zu sein. Ich erhielt gestern einen Brief von Mutter, der nicht »behördlicherseits geöffnet« war. Ihr habt also doch einen braven Sohn.

Euer Adolf

3

Zwischen Russen und Deutschen bilden sich feste »Besuchszeiten« heraus, zu denen die Soldaten einander vor den Gräben begegnen. Wie schnell man sich daran gewöhnt, im »Feind« keinen Feind mehr zu sehen! Der Tauschhandel blüht; aber auch ohne Waren stehen die Männer zusammen, radebrechen freundliche Worte und versuchen, den Krieg zu vergessen, zu negieren. Und noch Nachts, wenn alle wieder in ihren Löchern sind, werden Lieder gesungen, die bei aller Sentimentalität etwas wie Glück über die begrabenen Feindseligkeiten aussagen.

Bis kurz vor Weihnachten in die deutschen Stellungen ein Divisionsbefehl gelangt, daß für die Zukunft alle Unterhaltungen und jedes Zusammentreffen mit den Russen auf das Strengste verboten sind.

Reisiger erfährt davon auf der Beobachtungsstelle, die immer noch ordnungsgemäß Tag um Tag mit einem Offizier, einem Unteroffizier und einem Telephonisten besetzt sein muß.

Er sitzt am Scherenfernrohr, es ist beinahe Mittag. Über dem Gelände liegt ein leiser Nebel, gegen den die Sonne nicht ankann. Es sind 27° Kälte.

Die Fernsicht ist schlecht. Aber das Scherenfernrohr ist seit Tagen auf eine Baumgruppe etwa in der Mitte zwischen den Stellungen eingerichtet. Hier finden die Augen trotz der diesigen Luft das, was sie suchen: Die Russen, die zur gewohnten Zeit sich einstellen. Es kommen erst vier bärtige Männer in grünen Kitteln, ohne Kopfbedeckung, mit langem zottigem Haar. Sie sehen sich um, reden miteinander, hocken sich schließlich trotz der Kälte zwischen die Baumstämme. Warten.

Nach einer Weile kommen mehr; große, junge Menschen, mit breiten Ledergürteln, weichen Stiefeln, die beinahe bis an den Bauch gehen, grauen Mützen oder hohen Helmen aus Pelz. Auch sie sehen gegen den deutschen Graben. Warten.

Warten, wie man wohl nur in Rußland warten kann. Treten von einem aufs andere Bein, hocken sich hin, stehen auf, sprechen erst. Dann verstummen sie.

Das Scherenfernrohr gibt ihre Gesichter fast in natürlicher Größe.

Reisiger sieht, wie die Bärtigen und die Glatten mehr und mehr unbeweglich werden.

Dann vergehen viele Minuten, in denen sich kein Mund mehr öffnet. Die Gesichter sehen auch einander nicht mehr an, stieren auf den Boden.

Um zwölf Uhr mittags war bisher die übliche Treffzeit, jetzt ist es beinahe drei.

Reisiger vergißt, daß er im Beobachtungsstand seiner Batterie am Scherenfernrohr sitzt. Er fühlt sich dort unter der Gruppe. Das ist auch alles so greifbar nahe. Das verführt fast dazu, irgendein Wort zu sagen oder aufzuklären, zu entschuldigen, sich überhaupt verständlich zu machen. Den Russen klarzumachen: nicht die Soldaten sind schuldig. Der Befehl –

Es fängt zu schneien an. Noch immer saßen die Bärtigen auf der Erde, die Hände über den Knien gefaltet, stierten.

Endlich beginnt wieder Bewegung. Die Bärtigen stehen auf, sprechen mit den jüngeren Kameraden. Einer deutet mit der Hand, ein anderer legt beide Hände an den Mund und ruft gegen die deutsche Stellung. Niemand meldet sich. Es beginnt erneut ein Gespräch unter der Gruppe. Dann gehen zwei von den Jüngeren weiter nach vorn, zögernd, gegen den deutschen Graben zu.

Reisiger bekommt Herzklopfen. Was wird geschehen? Jede Annäherung, jeder Verkehr mit den Russen ist auf das Strengste verboten.

Was kann geschehen? Im deutschen Graben stehen wie bisher die Posten, liegt wie bisher das Gewehr in der Schießscharte. Ob es geladen ist?

Das Herzklopfen wächst. Eine kindische Vorstellung steigt in Reisiger hoch: Es könne jetzt mit Einem irrsinnigen Gewehrschuß der Waffenstillstand zerrissen werden.

Die beiden Russen kommen näher und näher. Reisiger folgt ihnen. Noch zehn Schritt, acht Schritt, fünf Schritt vor der deutschen Stellung.

Das Scherenfernrohr zurück auf die große Gruppe: da stehen sie, die Bärtigen und die Jungen, die Augen auf die beiden Kameraden gebannt.

Und wieder zu denen, fünf Schritt vor der deutschen Stellung: Nichts rührt sich. Das Schneetreiben wird stärker, die Dämmerung dunkler. Man sieht, wie der eine der beiden seine hohe Pelzmütze abnimmt, sie in den Händen dreht. Man sieht, wie er ruft. Es bleibt alles ruhig, unbeweglich.

Die beiden Russen drehen langsam um, gehen zur Gruppe zurück.

Die Gruppe entfernt sich. Geordnet zwei und zwei, merkwürdig feierlich, wie hinter einem Begräbnis. Die Gruppe verschwindet.

Reisigers Herz jagt durch den Hals. Er dreht das Fernrohr auf die deutsche Stellung. Und? Da stehen im Schneetreiben die Posten, haben die Ellbogen auf die Brustwehr gestützt, bohren die Augen den abziehenden Russen nach.

Reisiger steigt eine Wut in den Kopf. Spürt man nicht aus der Haltung der Infanteristen die ganze Trostlosigkeit? Wie geduckt sie sind! Wie gelähmt sie sind! Wie sie den Russen nachsehen. Als ob eine Hoffnung von ihnen ginge. Aber sie dürfen sie ja nicht halten. Divisionsbefehl. Waffenstillstand mit Divisionsbefehl: Sprechen mit dem Feind ist verboten.

Er dreht das Scherenfernrohr mit den Gläsern in den Beobachtungsstand. Er sieht noch einmal hindurch: alles ist schwarz.

Und zurück: Kein Russe mehr zu sehen.

4

Aus Bayreuth wird uns gemeldet: Der Kohlenmangel übt auch in der Villa Wahnfried seine Wirkungen aus. Frau Cosima Wagner, die sich übrigens einer erstaunlichen Rüstigkeit erfreut, und die man auch bei schlechtestem Wetter täglich ihre Spaziergänge machen sehen kann, feiert am 2. Weihnachtsfeiertage ihren 80. Geburtstag. In der letzten Nummer der »Oberfränkischen Zeitung« veröffentlicht nun Siegfried Wagner folgende Bitte: »Da wegen Kohlenmangels die Empfangsräume in Wahnfried nicht geheizt werden können, müssen wir zu unserem lebhaften Bedauern die Freunde unseres Hauses bitten, von persönlichen Glückwünschen zum 80. Geburtstage unserer Mutter gütigst absehen zu wollen. Siegfried Wagner und Familie.« (Vossische Zeitung, Berlin, 21. 12. 1917)

5

Der Waffenstillstand ist schnell alltäglich geworden.

Wenn man abends durch die Quartiere geht, gewiß, ab und zu fällt das Wort »Waffenstillstand«. Aber es scheint, als ob seine Leuchtkraft nicht mehr lebt. Man stößt es durch die Zähne, wütend, spöttisch. Man winkt mit der Hand ab: »Genau son Dreck wie der Krieg. – Aber mit uns können sies ja machen.«

Am Heiligabend versammelt Leutnant Römer die Batterie mit dem Eintritt der Dunkelheit und hält eine Ansprache: »Es hilft nichts, wir müssen aushalten. Ich gebe zu, daß das hier langsam zum Wahnsinn führt. Ihr wißt, Jungens, ich bin kein Redner, aber wenn wir hier im Felde schon Weihnachten feiern, dann laßt mich eins sagen: Der anständige Soldat tut überall da seine Pflicht, wo er hingestellt wird. Wir werden den Waffenstillstand schon überstehen und dann – Friede auf Erden.« – Man trinkt Glühwein.

Es gibt aus einer Liebesgabensendung des Roten Kreuzes pro Kopf fünf Zigarren, zehn Zigaretten, Schokolade.

Es gibt pro Geschütz ein großes Stück Schweinefleisch. In allen Blockhäusern brennen an kleinen Tannenbäumen die Kerzen.

In der Offizierwohnung sitzen Römer, Sauer, Reisiger und Wachtmeister Spilcker. Schweinebraten, Glühwein, eine Flasche Sekt. Dann wird Skat gespielt. Ein Festskat, der bis gegen vier Uhr morgens dauert.

Am ersten Weihnachtstag früh kommt der telephonische Regimentsbefehl: Leutnant Reisiger wird als Ordonnanzoffizier zum Stab der Dritten Abteilung versetzt. Meldung 1 Uhr mittags.

6

Der Führer der Dritten Abteilung war der gefürchtetste Offizier des Regiments. Hauptmann Brett, Reserveoffizier. So grob, daß selbst der Regimentskommandeur nur in den notwendigsten Fällen persönlich mit ihm sprach. Aber wohl auch der beste Offizier des Regiments. Zuverlässigster Fachmann in allen schießtechnischen Angelegenheiten, taktisch gescheit, organisatorisch ein Muster.

Es war Reisiger völlig unerfindlich, warum man gerade ihn als Ordonnanzoffizier ausgewählt hatte. Ihm war nicht sehr wohl zu Mute, als er sich am ersten Feiertag 1 Uhr mittags im Stabsquartier meldete. Die Herren vom Stab waren beim Essen. Sehr fein: als Reisiger ins Zimmer trat, stand ein Gänsebraten auf dem Tisch. Hauptmann Brett hörte ihm seine Meldung ab, erhob sich dann sogar, eine riesige Serviette um den Hals, schüttelte ihm die Hand, stellte vor: »Hier der Adjutant Leutnant Weller, hier der Abteilungsarzt Feldunterarzt Winkel. Schon gegessen? Also nehmen Sie Platz.«

Dann schwiegen alle.

Der Hauptmann aß unendliche Portionen, stützte die eine Hand dabei auf den Tisch, blätterte mit der anderen ab und zu in einem Buch, das neben ihm lag.

Adjutant und Arzt, die sich gegenüber saßen, grinsten sich zuweilen lautlos an. Seltsame Gesellschaft.

Als der Hauptmann den letzten Bissen in den Mund gestopft hatte, stand er, noch kauend, auf, machte so etwas wie eine Verbeugung, verschwand, knallte die Tür hinter sich zu.

Adjutant und Arzt seufzten laut. Dann besannen sie sich, daß Reisiger bei ihnen saß, lachten, klärten auf. Der Adjutant, wohl nur wenig älter als Reisiger, bot ihm eine Zigarette an: »Sie brauchen nicht zu erschrecken, Herr Kamerad. An diesen Ton müssen Sie sich gewöhnen. Er ist übrigens halb so schlimm. Brett ist ein feiner Kerl –«

Der Arzt fiel ein: »Nur schade, daß er es sich so selten merken läßt.«

Was soll man darauf antworten. Reisiger lächelte. Dann sagte er: »Ich bin übrigens in meinem Leben noch nicht Ordonnanzoffizier gewesen. Vielleicht haben Sie die Güte, mir ein bißchen zu zeigen, was ich zu tun habe.«

Der Adjutant: »Sehr gern. Das heißt, es läßt sich nicht ganz leicht alles aufzählen. Der Tageslauf wird ungefähr folgendermaßen sein: 8 Uhr morgens Wetterberichte für sämtliche Batterien durchgehen. 9,15 Uhr Befehlsausgabe für sämtliche Batterien. 10–2 Uhr Ritt durch die Stellungen mit dem Hauptmann. 2,30 Uhr Meldung über Mannschaftsbestand. 2,40 Uhr Meldung über Pferdebestand. 3,10 Uhr Weitergabe aller Nachrichten vom Feind. 4 Uhr telephonische Rücksprache mit sämtlichen Batterieführern über ihre Wünsche. 5–7 Uhr Arbeiten mit dem Hauptmann, neue Schießvorschrift und sonstige technischen Fragen. Gegen 8 Uhr abends Materialbeschaffung für den Ausbau der Batterien. Gegen 9 Uhr Befehlsausgabe. Gegen 10 Uhr Entgegennahme der Divisions- und Regimentsbefehle. – Ja – und dann pflegt der Hauptmann meistens bis 12 oder 1 Uhr entweder Karten zu spielen oder mit einem von uns ins nächste Kasino zu fahren und dort zu saufen. – Außerdem müssen Sie sich darauf gefaßt machen, daß mindestens zwanzigmal in der Nacht irgend jemand von Ihnen etwas am Telephon will« – Er lachte: »Na, Sie werdens schon sehen. Auf alle Fälle ist mehr zu tun, als uns allen lieb ist.«

»Warum«, fragte Reisiger, »ist der Hauptmann eigentlich auf mich verfallen?«

Der Adjutant schien sich etwas zu winden. Schließlich sagte er: »Also, Herr Kamerad, wenn ich ganz ehrlich sein soll, deshalb, weil Sie beim Regiment keine gute Nummer haben. Der Hauptmann kann zahme Offiziere nicht leiden. Er muß, wenn ich das sagen darf, immer Herren haben, bei denen irgend etwas nicht stimmt.«

Eine merkwürdige Begründung. Reisiger war bekniffen. Er wußte nicht recht, ob er nun deprimiert oder stolz auf seine Ernennung sein sollte. Schließlich entschied er sich doch lieber für Stolz. Meinetwegen, dachte er; ich weiß zwar nicht, wie ich das verdient habe. Aber wenn man mich für einen Schwerverbrecher hält, läßt sich das hier beim Stab wohl am besten ertragen.

7

Reisiger verstand sich gut mit dem Hauptmann. Er wurde von ihm an jedem Tag rund zwei dutzendmal so angebrüllt, wie man heutzutage sicherlich keinen Rekruten mehr anbrüllen darf, aber das trübte das gute Einvernehmen durchaus nicht, im Gegenteil, auf Regen folgt Sonnenschein, nach jedem Krach war Brett von bestrickender Liebenswürdigkeit. Ja, es geschah sogar mehrmals ein Wunder, das Weller bisher für unmöglich hielt: Brett bekam fast täglich aus der Heimat Schmalz oder Butter, und es war bereits zweimal passiert, daß er aus freien Stücken beim Morgenkaffee seinem Ordonnanzoffizier mit der abgebrochenen Spitze seines Taschenmessers einen Fingerhut voll Fett auf die Untertasse schmierte.

Gut, sehr gut war das Verhältnis von Reisiger und Weller. Zuweilen des nachts nach der Arbeit, wenn ausnahmsweise der Hauptmann sie beide vom Saufen im Kasino verschont hatte, saßen sie zusammen, vergaßen Krieg und Uniform, diskutierten, lasen einander vor. Oder machten Unfug. Weller hatte ein Grammophon. Dessen Feder hatte Reisiger aus dem Gehäuse genommen und sie umgedreht wieder eingesetzt. Ein herrliches Vergnügen: Manche einsame Stunde wurde dazu benutzt, um die fünf verfügbaren Platten, vom »Lieben Augustin« bis zum»Tannhäuser« von hinten nach vorn zu spielen. Dazu immer Alkohol, reichlich Kirschwasser aus Wellers Heimat. Es war erträglich. Und kam schließlich der Arzt hinzu, auch Student wie die beiden andern so wurden Orgien des Unfugs gefeiert.

Jetzt war Februar. Februar? Fasching! Und mehrmals machten die Drei ein reguläres Maskenfest. Sie erschienen in Pyjama, mit umgekrempelten Uniformröcken, Papiermützen auf dem Kopf, mit Tinte bemalt, grölten und tanzten.

Herrlicher Unfug, der ein wenig die Trostlosigkeit vergessen machte, in die Reisiger zuweilen versank.

Und war diese Trostlosigkeit nicht begründet?

Unsinnige Arbeit! Telephongespräch nach Telephongespräch. Meldung nach Meldung. Listen schreiben, Akten füllen, Berichte, Urlaubsgenehmigungen. Akten, Akten, Papier, Papier.

Nichts vom Krieg, nichts vom Militär (außer auf Papier).

Nichts von Kameraden und Soldaten (außer auf Papier).

Das wurde schlimmer und schlimmer. Das wurde verdächtig schlimm: »Es ist sofort zu melden, wieviel Pferde . . .« »Es ist sofort zu melden, wieviel Offiziere und Mannschaften . . .« »Es ist sofort zu melden, wieviel Munition . . .«

Munition?

Es ist doch Waffenstillstand.

»Sofort zu melden, wieviel Munition, getrennt nach Granaten und Schrapnells . . .«

Und neuer Fernspruch vom Regiment: »Sämtliche Batterien der Dritten Abteilung empfangen heute nacht pro Geschütz 300 Schrapnells.«

Heute nacht? Es ist bereits 2 Uhr. Bis jetzt hat Reisiger Pferdebestandslisten schreiben müssen. Totmüde. Er läßt die Batterieführer wecken, an den Apparat rufen, gibt jedem einzelnen den Befehl persönlich durch. Hört manche Verwunderung, manches Oho, manches Warum.

Er sinkt gegen drei Uhr ins Bett.

Nach kurzer Zeit schlägt jemand gegen seine Zimmertür, brüllt dazu. Reisiger macht Licht. Da fliegt ihm die Tür vor die Füße. Vor ihm steht schwankend, ohne Mütze, der Hauptmann, in jeder Hand eine Flasche Sekt. Lacht, schreit ihn an: »Los, los aufstehen, Reisiger. Oberleutnant Karl von der 8. Batterie ist auch hier. Den Weller lassen wir schlafen. Sie sind unser dritter Mann beim Skat!« Dann wird sein Lachen ganz roh und ganz laut. »Los Reisiger, ich habe auch was mitgebracht. Hier – Heeresbericht. Hier ist er. Also kommen Sie schon.«

Und als Reisiger verstört, bebend vor Wut, halb angezogen erscheint, legt sich der Hauptmann über den Tisch und liest von einem Meldeblock grölend: »Hier – östlicher Kriegsschauplatz – also das sind wir, verstanden Reisiger – sehen Sie mich gefälligst nicht so dumm an – was steht hier – also passen Sie mal auf – na, das Aas liegt ja auf dem Kopf – so, also hier: ‚Der Waffenstillstand läuft am 18. Februar 12 Uhr mittags ab.‘ – Unterschrift – na, wer wohl – Reisiger Sie sind zu dumm – da steht deutlich, und das sage ich Ihnen, das ist mein Mann, verstanden: Ludendorff.«

. . . Waffenstillstand läuft ab? Soso, läuft ab. – Null ouvert – Waffenstillstand läuft ab – aha, also die Russen dürfen nicht mehr zu unseren Gräben – danke, ich passe – läuft ab, ist aus, ist zu Ende. Ja, Herr Hauptmann geben – ja, danke – Waffenstillstand – also beginnt der Mord wieder – herrlichen Zeiten werden wir wieder entgegengeführt – Ludendorff – Nein, Herr Hauptmann, ich habe nichts – ich passe – läuft ab – Coeur ist Trumpf – Waffenstillstand läuft ab, ist aus.

Reisiger darf um halb sieben morgens auf eine kurze Stunde ins Bett gehen. »Haushoch verloren, Reisiger«, lallt der Hauptmann.

8

Am 18. Februar 1918 10 Uhr vormittags erhalten die Abteilungen des Feldartillerie-Regiments 253 den Befehl, dafür zu sorgen, daß sämtliche Batterien feuerbereit gemacht werden, sämtliche Protzen alarmbereit. Es kann noch heute der Befehl zum Vormarsch kommen.

Am Apparat der Regimentsadjutant: »Herr Leutnant Reisiger? – Bitte vergleichen sie genaue Uhrzeit: Es ist 10 Uhr 7 Minuten. – Sie erhalten noch schriftlichen Befehl durch Meldereiter – wollen Sie bitte dafür sorgen, daß sämtliche Batterien Ihrer Abteilung Punkt 12 Uhr mittag das Feuer auf die russischen Stellungen eröffnen. – Der Regimentskommandeur legt Wert darauf, daß der Feuerüberfall nicht nur eine Demonstration ist, sondern er bittet, darauf zu achten, daß der feindliche Graben unbedingt unter Wirkungsfeuer genommen wird. Es stehen jeder Batterie achtzig Schuß zur Verfügung.«

Reisiger läutet die Telephonzentrale an: »Ich bitte, sämtliche Batterieführer an den Apparat.«

Nach einer Weile: »Hier Batterieführer 7., 8., 9. Batterie 253.«

»Guten Tag, meine Herren – bitte vergleichen Sie – genaue Uhrzeit – alle Batterien schießen Punkt 12 Uhr.«

Wenige Minuten vor zwölf steht Hauptmann Brett mit Adjutant und Ordonnanzoffizier auf der Dorfstraße vor dem Stabsquartier. Vor allen Häusern haben sich Soldaten versammelt.

Kein Mensch redet.

12 Uhr. Ein Donnern an der Front, soweit man hören kann. Der Hauptmann schlägt mit der Reitpeitsche gegen die Gamaschen: »Na, Gott sei Dank, jetzt ist endlich wieder Krieg. Wir haben unsere Ehre wieder. Meine Herren, ich spendiere eine Flasche Sekt.«

Wie Reisiger ins Haus geht, spürt er, daß er an Tränen schluckt. Ja, ja, jetzt haben wir unsere Ehre wieder. – Er setzt sich stumm an den Tisch. Er sieht Weller an, der stumm mit einem Bleistift spielt. Er versucht, sich auszumalen, wie ihm zumute wäre, wenn er vorhin Richtkanonier hätte sein müssen. – Ich glaube, denkt er, ich hätte gestreikt. – Er zerbeißt sich die Unterlippe: was heißt streiken? – Die Mannschaften fühlen sicher so wie ich. Daß es gemein ist, plötzlich wieder zu schießen. Und sie müssen es doch tun. Wir alle müssen ja doch tun, was befohlen wird.

Er redet plötzlich Weller scharf an: »Sagen Sie mal, wer befiehlt eigentlich so etwas?«

Weller zuckt die Achseln, spielt weiter.

Reisiger denkt an Silvester 15. Wie da aus heiterem Himmel plötzlich ohne jede Veranlassung in die Nacht hineingeknallt werden mußte. – Er sieht gegen die Wand –: Wir werden uns noch totsiegen mit unserer Schneidigkeit.

Da kommt Brett, schwingt die Sektflaschen: »Urban, schnell die Gläser: Meine Herren, es lebe Seine Majestät und der Krieg!«

9

Das Regiment 253 war wenige Tage nach Ablauf des Waffenstillstandes vorgerückt. Schußbereit gegen einen Feind, der nicht da war. Was war der Krieg geworden? Hier im Osten? Anrücken gegen einen Feind, den es nicht mehr gab, der es vorgezogen hatte, nicht mehr Feind zu sein, der jetzt ohne Uniform in den Dörfern lag, bis zur Erschöpfung ermüdet, wehrlos. Die Deutschen? Nun gut: Sie sollen kommen. Rußland ist groß. Sie sollen marschieren. Feind? Wir sind kein Feind. Sie werden keinen Feind finden.

So geht das Regiment 253 in einem großen Detachement weiter und weiter, Tag und Tag, nach Rußland hinein.

Was nützen Kanonen, was nützen Offiziere, was nützen Soldaten, wenn kein Feind da ist?

Die ersten Tage nimmt man das alles mit geheimnisvoller Wichtigkeit. Die Ohren sind gespitzt, die Sinne sind angespannt: Da ist ein Wald: Ob da der Feind ist? Geschütze laden und sichern, vor jeder Batterie ein gespannter Spitzentrupp, hinein in das Gestrüpp. Tagemärsche ohne Wege, noch tief im Schnee, noch unter großer Kälte, hindurch durch den Wald. Biwack des Nachts mit kleinen Feuern. Patrouillen, Schutzposten: Wenn uns nur kein Feind überrumpelt.

Rußland ist groß. Es gibt keinen Feind.

Die Stimmung wird gefährlich. Herrgott, was sollen wir hier, Soldaten, Offiziere, Kanonen ohne Feind.

Weiter nach Rußland hinein. Es gibt ungeheuer viel zu essen, weil man in jedem Dorf, das man nach vielstündigem Marsche erreicht, Hammel oder fette Schweine schießen kann. Aber ist der Beruf des Soldaten: Hammel und fette Schweine schießen?

Die Mannschaften werden müde. Die Pferde können kaum noch ziehen. Das Wetter ist so schlecht, daß die Geschütze einzurosten drohen. Vorwärts, vorwärts! Und unter den Offizieren die Unruhe: Wenn doch bloß so etwas wie Feind käme!

Endlich einmal, Gott sei Dank, stößt der Stab, der vor der Abteilung reitet, in einem Dorf auf ein verbranntes, zerstörtes Schloß. Der Himmel sei gepriesen: Hier muß der Feind sein.

Dolmetscher heran! Der Feind? Die Dorfbewohner lachen beruhigt und vergnügt: Ja, gewiß, das waren die Bolschewiki.

Da endlich hat der Vormarsch der Deutschen eine hinreichende Parole: Achtung, wir stoßen bald auf die Rote Armee. Kein Mensch, weiß, was das ist. Aber es klingt gut, geheimnisvoll, erwünscht. Es macht die Soldaten wieder kampfbereit, nimmt den Kanonen den Rost, gibt den Offizieren ein schneidiges Rückgrat. Ha, Rote Armee!

Nach 48 Stunden abermals ein verbranntes Schloß, nach zwei Tagemärschen noch eine Brandruine. Man schießt immer wieder auf Hammel und fette Schweine, frißt, und hört mit Gier Gerüchte, die über das weite Rußland kommen: Einmal hat ein Trupp der Roten Armee eine deutsche Abteilung niedergemacht. Einmal hat eine deutsche Abteilung einige Bolschewiken kurzerhand an die Wand gestellt.

Es gibt fast wieder so etwas wie Begeisterung: Hurra, es lebe der Krieg.

Aber diese Begeisterung hält nicht, da es immer bei den Hammeln und fetten Schweinen bleibt. Wieder sind die Soldaten müde, rosten die Geschütze, langweilen sich die Offiziere.

Es geht durch das weite Rußland ein seltsames Sprüchlein!

»Im Westen kämpft ein tapferes Heer.

Im Osten kämpft die Feuerwehr.«

Der Soldatenmund bringt grinsend diese schönen Verse in Töne. Tag und Nacht singt man das Lied.

Das Detachement mit III/253 steht eines Morgens am Ufer der Düna. Kampflos erobert. Die Offiziere schimpfen, die Mannschaften schimpfen, die Geschütze schweigen, Hammel und fette Schweine scheinen hier ausgestorben zu sein. Es hilft nur noch eins. Das trifft ein! Ein Befehl: Das Reserve-Feld-Artillerie-Regiment 253 wird nach dem Westen verladen.

10

Meine Herren, als ich zum erstenmal an dieser Stelle zum Reichstag zu sprechen die Ehre hatte, am 29. November vorigen Jahres, konnte ich dem Hause die Mitteilung machen, daß die russische Regierung an sämtliche kriegführenden Mächte den Vorschlag habe gelangen lassen, in Verhandlungen wegen eines Waffenstillstandes und eines allgemeinen Friedens einzutreten. Wir und unsere Verbündeten sind auf den Vorschlag eingegangen und haben alsbald Delegierte nach Brest-Litowsk abgesandt. Die bis dahin mit Rußland verbündeten Mächte sind der Einladung nicht gefolgt.

Der Gang der Verhandlungen ist den Herren bekannt. . . . Sie erinnern sich der wiederholten Unterbrechungen, des Abbruches und der Wiederaufnahme der Verhandlungen. Man war an einem Punkt angelangt, wo ein Entweder – Oder gesprochen werden mußte. Am 3. März ist in Brest-Litowsk der Friede unterzeichnet worden, am 16. dieses Monats ist in Moskau von der zuständigen Versammlung der Friede ratifiziert worden . . . Aber, meine Herren, wir dürfen uns keinen Täuschungen hingeben: Der Weltfriede ist noch nicht da! Noch zeigt sich leider in den Staaten der Entente nicht die geringste Neigung, von dem furchtbaren Kriegshandwerk abzustehen, noch immer scheinen sie den Willen zu verfolgen, den Krieg bis aufs Äußerste fortzusetzen, bis zu unserer Vernichtung. Wir werden darüber den Mut nicht verlieren. Wir sind auf alles gefaßt. Wir sind bereit, weitere schwere Opfer zu bringen. Gott, der uns bisher geholfen hat, wird uns auch weiter helfen. Wir vertrauen auf unsere gerechte Sache, wir vertrauen auf unser unvergleichliches Heer, seine herrlichen Führer, seine heldenmütigen Kämpfer, wir vertrauen auf unser tapferes, standhaftes Volk. Die Verantwortung aber, meine Herren, für all das Blutvergießen wird auf die Häupter derer fallen, die in frivoler Verstocktheit der Stimme des Friedens nicht Gehör geben. (Dr. Graf v. Hertling, Reichstag, 18. 3. 1918)


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