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Achtes Kapitel

1

Der Regimentsbefehl des nächsten Tages, 28. September, gab bekannt, 1/96 scheide einstweilen aus dem Verband des Regiments aus und stünde als sogenannte »Fliegende Batterie« zur alleinigen Verfügung des Armee-Ober-Kommandos.

Gleichzeitig wurden der Batterie zwei Geschütze mit Bedienung genommen, zur Verwendung bei der Aufstellung neuer Reserveregimenter.

Der Befehl kam überraschend. So etwas war selbst den »alten Kriegern« bisher nicht passiert. Der Klatsch begann, die Latrinengerüchte wurden ganz groß.

Schließlich verdichtete sich alles, kurze Zeit nach der Bekanntgabe des Befehls: Eine schöne Schweinerei! Denn »zur besonderen Verfügung« wird ja bestimmt nicht heißen, daß 1/96 grundsätzlich da herausgezogen wird, wo es brenzlich ist; im Gegenteil! Die Klugen erläuterten es ausführlich: wo also in den nächsten Wochen ein Schlamassel ist, sollen wir die Karre aus der Scheiße holen.

Richtig: genau so wurde es.

Der Hauptmann war stolz auf diese Berufung.

Nach der Postverteilung hielt er eine ungewohnt lange Rede: Der Regimentskommandeur habe 1/96 ja bereits nach den Maitagen 15 »die Eiserne Batterie« genannt. Hier sei ein neuer Beweis für die Wertschätzung, die 1/96 genieße. Darauf müßten alle stolz sein und ihr Letztes dafür hergeben, um sich diesen ruhmvollen Titel stets zu erhalten. – »Ihr wißt, daß hier immer noch einer der lebhaftesten Punkte der Westfront ist. Um so mehr bitte ich mir aus, daß ihr euch anständig benehmt. Das seid ihr euch schuldig und den Kameraden, die wir da vorn gelassen haben. – Die Batterie rückt noch heute abend in ihre neue Stellung vor Souchez ein. – Stillgestanden, wegtreten.«

Souchez? Reisiger dachte an seinen Traum. Souchez, Carency, Givenchy – es stand oft genug in den letzten Wochen im Heeresbericht. Hm.

Der Nachmittag verging ruhig. Die Mannschaft war mit Spannungen geladen, gereizt, gedrückt.

Erst als die Protzen kamen, brachte das Rattern der Geschütze, das Schnauben der Pferde wieder Gleichgewicht in die Stimmung.

Die Batterie fuhr ab. Kein langer Marsch; nach einer Stunde war die neue Stellung erreicht. Ein Kirchhof.

Greifbar davor kochte in einem Kessel ein brodelndes Feuer. Da irgendwo lag Souchez.

Man ging an den Ausbau der Geschützstände. So gut es im Dunkeln möglich war, grub man rechts und links Löcher an die Geschütze. Für die Munition, die angefahren wurde.

Grabsteine, die man aus der Erde riß, bildeten, mit Grasnarbe bedeckt, gute Wälle vor den Flinten.

Wohnunterstände gab es nicht.

Man schlief unter freiem Himmel. Mosel und Steuwer blieben die Nacht über bei der Batterie. Fricke bekam den Befehl, sofort in der Infanteriestellung eine Beobachtung zu suchen und telephonische Verbindung aufzunehmen. Telephonist: Reisiger.

2

Hier blieb 1/96 zehn Tage.

Reisiger führte Tagebuch. Ein kleines Wachstuchheft mit kariertem grauen Papier. Es war zwar verboten, Aufzeichnungen zu machen. Aber Reisiger half sich damit, daß er jede acht Tage die beschriebenen Blätter in die Heimat schickte. So konnten sie auch bei Gefangennahme nicht an den Feind fallen.

Seine letzten Notizen:

Ich komme aus dem Graben überhaupt nicht mehr heraus. Eigentlich sollen wir Fernsprecher spätestens jede 24 Stunden abgelöst werden, aber Fricke hält sich ja an keine Bestimmungen. Ich glaube manchmal, er ist nicht ganz richtig. Er macht Dinge, die schon nichts mehr mit der sogenannten Tapferkeit zu tun haben, sondern die ich einfach sündhaften Leichtsinn nenne.

Heute früh behauptete er plötzlich, er könne sich über das Gelände hier im Graben niemals ein richtiges Bild machen, er müsse (am hellerlichten Tage) herausklettern. Erst dann würde er sehen, was eigentlich los ist.

Dagegen kann man nichts sagen, wenn man nur Gefreiter ist. Ich hatte eine Stinkwut. Ich glaube, die Infanterie hat uns beide für wahnsinnig gehalten. Er ist wirklich gegen 9 Uhr vormittag über die Grabenwand geklettert. Ich versuchte ihn zurückzuhalten, oder zum mindesten ihm klarzumachen, daß ich am Telephon bleiben müßte, aber es half nichts. Ich mußte mit. Ich habe noch nicht begriffen, wozu das nötig war. Gottseidank, der Feind auch nicht. Es ist für ihn sicherlich ein eigenartiges Bild gewesen, als da plötzlich vor dem ersten Graben in Lebensgröße zwei Mann spazierengingen. Und nicht nur sekundenlang, sondern selbst dann noch, als uns bereits einige Gewehrschüsse um die Ohren flogen und als ein Kompagnieführer unserer Infanterie Fricke flehentlich beschwor, wieder in Deckung zu kommen, weil sonst unweigerlich die feindliche Artillerie aufmerksam gemacht würde. – Nichts zu machen. Fricke stellte sich breitbeinig hin, glotzte durch das Fernglas. Ich blieb hinter ihm, weil ich dachte: Wenn der Feind schießt, dann soll er gefälligst erst den dicken Fricke wegputzen, ich habs ja schließlich nicht gewollt.

Und natürlich schoß der Feind wirklich. Ein M.G. Es keifte so unangenehm, als ob es direkt neben meinen Ohren aufgestellt sei. Da endlich bequemte sich der Herr Leutnant dazu, leicht anzutraben. Dann sprang er in den Graben. Als ich hinterherspringen wollte, fegte ein Schrapnell wenige Schritte vor mir in die Erde. Ich fiel direkt zwischen zwei Tote, die von der Nacht her noch in einer alten Sappe lagen.

Ich bin wütend mit Fricke in den Unterstand zurückgekehrt. Ich glaube, er hats gemerkt. Er machte dauernd Witze, aber ich konnte nicht darüber lachen.

Am Nachmittag schoß er unsere Batterie ganz unmotiviert ein. Gottseidank ohne Zwischenfälle, der Feind antwortete nicht. Die Infanterie winselte natürlich, daß wir immer mit unserem verfluchten Einschießen die feindliche Artillerie auf sie zögen. Sie hat ja recht.

Ich hörte eine typische Bemerkung: »Das ist immer so, da kommt irgendein Artilleriefritze und schießt sich großpratschig ein und geht dann friedlich nach Hause. Und zehn Minuten später haben wir es auszubaden.«

 

Etwas sehr Unheimliches sind hier im Graben die Minen. Sie sehen aus wie die Fledermäuse. Manchmal wie Riesenfledermäuse; heute zum Beispiel hat der Franzose einige Dinger rübergeschickt, die gut ein Meter lang waren. Man muß es lernen, ihnen auszuweichen. Man kann sie nämlich kommen sehen. Ein Infanterist sagte mir: »Du mußt hier immer ein Auge in der Luft und das andere im nächsten Unterstand haben.« Davon habe ich sehr profitiert. Fricke war in der Batterie. Ich war allein und schlenderte durch den Graben. Schön Wetter. Die Infanterie spielte Frieden. Es stand nur jede 10 Meter ein Posten. Die anderen saßen an der Grabenwand, hatten das Hemd ausgezogen und knackten Läuse. Plötzlich fing der Feind mit seinen Minen an. Schwere Brocken, gleich der erste Schuß saß. Der Graben wurde fast eingeebnet, Gottseidank ohne Verluste. Ich wollte mich drücken, da hörte ich schon wieder den kurzen Abschuß und sah, wie das Biest direkt auf mich loskam. Ich rollte in den nächsten Unterstand. Ich hatte nicht darauf aufgepaßt, daß er viele Stufen hatte, und sauste wie ein Sack in die Tiefe. Unten wurde ich furchtbar angeschrien. Ich war ausgerechnet einem Leutnant gegen seinen Tisch gefallen und hatte seinen Kaffeetopf umgekippt. Als ich wieder rauskam, standen mehrere Infanteristen im Halbkreis an einer Brustwehr. Vor ihnen lag ein Kamerad, dem ein fingerdicker Blutstrahl aus dem Hals fuhr. Wir haben ihn verbunden, aber dabei starb er schon.

 

Ich glaube, ich habe gestern die schlimmste Nacht hier im Felde erlebt. Gegen 9 Uhr abends, als ich mit Rabs in unserem Telephonloch saß, kam ein Infanterieoffizier und verlangte Verbindung mit Mosel. Der Feind sei sehr unruhig. Er bäte unbedingt darum, daß ein Artilleriebeobachter mit Fernsprecher eine vorgeschobene Sappe bezöge. Die Infanterie wolle Patrouillen bis an den feindlichen Graben schicken.

Befehl von Mosel: »Rabs bleibt im bisherigen Unterstand. Reisiger steht zur Verfügung der Infanterie. Zwischen ihm und Rabs muß Verbindung aufrechterhalten bleiben.« Ich kam mir vor, als sei ich von der Batterie ausgestoßen. Natürlich, auch die Infanteristen sind ja unsere Kameraden, aber es herrscht stets so etwas wie Feindschaft. Also ich gehörte jetzt dem »Feinde«, der über mich »verfügte«.

Der erste französische Graben liegt von unserer Linie etwa 80 Meter entfernt. Wir haben hier 3 Sappen vorgeschoben. Ebenso der Feind. Die Sappenenden von Freund und Feind liegen nur 3 Meter auseinander.

Ich nahm Drahtrolle, Fernsprechgerät, Leuchtpistole, eine Decke, Zigaretten und schob ab. Ein Infanterist führte mich. Zuerst war die Sappe gut mannshoch. Wir gingen unter unserem breiten Drahtverhau hindurch. Dann wurde die Annäherung schwieriger. Wir mußten ziemlich auf dem Bauch kriechen. Endlich war der Sappenkopf erreicht. Das war offenbar ein alter Granattrichter. Zum Feind hin mit einer kleinen Barrikade aus Sandsäcken. Davor standen einige spanische Reiter. »Hier mußt du natürlich die Schnauze halten«, flüsterte mir der Infanterist kaum hörbar ins Ohr. »Der Franzmann gegenüber hört jedes Wort, jedes Husten und Niesen. Im allgemeinen tun wir uns ja nichts. Aber wenn da drüben irgendein verrücktes Aas sitzt, schmeißt er eine Handgranate über den Balkon und dann ist Schluß.« Der Infanterist verschwand. Ich saß da. Meine erste Aufgabe mußte sein, festzustellen, ob der Fernsprecher funktioniert. Das war ein Kunststück. Wenn der Feind das Husten hört, dachte ich mir, hört er auch den Telephonsummer und mein Sprechen. Was tun? Ich kroch mich wie ein Igel zusammen, nahm den Kopf zwischen die Beine, zog meine Decke über mich und rief an. Rabs meldete sich. »Verbindung hergestellt. – Mein lieber Rabs, wer weiß, ob wir uns wiedersehn.« Rabs lachte. Ich wollte meinen Pessimismus erklären, da hörte ich ein lautes Husten, warf den Apparat hin und riß die Decke vom Kopf. Ja, es hustete. Mein Herz klopfte. Das war der Posten, der französische Posten, der Feind vor mir.

Ich legte mich in den Trichter zurück und stierte vor mich hin. Es ist schon ein Wahnsinn, daß sich zwei Menschen in der Nacht auf drei Meter Entfernung gegenüberliegen und, wenn sie anständige Soldaten sein wollen, dürfen sie eigentlich keine andere Sorge haben, als das Gegenüber auf jede nur mögliche Weise und so schnell wie möglich zu töten. Ich hatte das oft überlegt, immer mit dem gleichen verzweifelten Resultat: Wenn du nicht tötest, wirst du getötet. Oder: Wenn du ihn nicht tötest, kann er einen deiner Kameraden töten.

Hier vorn, mutterseelenallein, deprimierte mich dieser Gedanke ganz besonders. Mir wurde beschämend klar, daß ich kein guter Soldat bin. Ich spielte sogar mit dem Gedanken: Wie einfach wäre es, jetzt aufzustehen und »Monsieur« zu rufen. Und dann ginge jeder von uns einundeinenhalben Meter und wir schüttelten uns die Hand.

Krach, flog seitwärts von mir eine Handgranate gegen unsere Drahtverhaue. Alle Gedanken waren verscheucht. Gewehrfeuer aus unserem Graben. Ach ja, wir haben ja Patrouillen vorgeschickt. Vielleicht hat der Feind sie bemerkt und schießt sie ab. Es ist ja Krieg.

Da hustete der Franzose wieder. Eine Leuchtkugel ging hoch. Ob sie von ihm kam? Sie schwebte gerade über meinem Loch an einem Fallschirm. Es war eine ekelhafte Helle. Ich sah meinen Schatten tiefschwarz mit dunkelrotem Rand an der Wand des Lochs. Die Leuchtkugel schwebte immer niedriger. Als sie mannshoch über der Erde war, spürte ich, daß ich schmerzhaft beide Lider aufriß. Greifbar vor mir lag ein Mensch. Ganz deutlich sah ich seine Augen, die ziemlich starr auf mich gerichtet waren, dann sah ich einen Stahlhelm. Die Leuchtkugel erlosch. Ich war geblendet und die Dunkelheit war infolgedessen noch undurchdringlicher, aber ich wußte es ganz genau, vor mir lag ein Mensch. Was tun? Ich kann doch nicht die Batterie anrufen oder Rabs. Ich kann doch aber auch nicht meine Pistole abschießen; denn dann wirft der Sappenposten da gegenüber doch bestimmt mit einer Handgranate.

Soll ich ausrücken? Ausrücken kann ich nicht. Soll ich meine Decke über mich ziehen? Vielleicht, daß der lauernde Mensch mich bei der nächsten Leuchtkugel dann nicht erkennt und an mir vorüberschleicht? Aber die Vorstellung, selber nicht sehen zu können, erscheint mir unerträglich. – Soll ich selber eine Leuchtkugel schießen, um Klarheit zu schaffen? Nein, das geht auch nicht, denn ich habe nur zwei rote; sie bedeuten Sperrfeuer. Und da wir Patrouillen im Vorgelände haben, würde unser Sperrfeuer unter den eigenen Leuten Unheil anrichten.

Kreuz und quer schossen mir die Gedanken durch den Schädel. Schließlich, da ich keine Lösung wußte, lähmten sie mich. Ich legte mich hintenüber und dachte, also mit Gott, dann soll er mir die Pistole zwischen die Augen drücken.

Aber diese Vorstellung machte mich wieder wach. Ich ertappte mich dabei, daß ich die Rockärmel bis zum Ellbogen aufkrempelte. Bei der nächsten Leuchtkugel springe ich ihm an den Hals und drücke ihm die Gurgel zu.

Ich konnte nicht. Die nächste Leuchtkugel pfiff hoch. Ja, da lag er. Vielleicht, dachte ich, erschrickt er, wenn er mich bemerkt, und läuft einfach davon. Also will ich versuchen, mich ein wenig über den Trichterrand zu heben und ihn mit einem Ruck ansehen.

Die Leuchtkugel war schon wieder halb zur Erde. Da tat ich es. Ich ruckte hoch und starrte ihn an. So nahe, daß ich glaubte, unsere Köpfe müßten gleich zusammenschlagen.

Er rührte sich nicht. Die Leuchtkugel war aus. Mir wurde entsetzlich übel. Ich kroch ins Loch zurück, wußte: der ist tot.

Ich habe nun inzwischen viele Tote gesehen, auch viele Kameraden. Aber dies hier war unerträglich grauenhaft. Immer wieder Leuchtkugeln und immer wieder das Gesicht. Und jedesmal wurde es mir bekannter und jedesmal hafteten mehr Einzelheiten. Schließlich kam ich auf den irrsinnigen Gedanken: Der Tote da neben mir sieht ja genau so aus wie ich.

Jetzt war ich so weit am Ende meiner Nerven, daß ich aufspringen und einfach losbrüllen und zurücklaufen wollte.

Gottseidank rief in diesem Augenblick das Telephon. Rabs: er verbände mit der Batterie. Dort war Leutnant Fricke am Apparat. Besoffen. Er hatte eine ölige Stimme und war voll von einem schmierigen Wohlwollen. »Na, Reisiger, wie geht es denn? Sie sind wohl stolz, da oben an der Spitze der Batterie unter dem schönen Sternenhimmel zu wachen. Was gibts denn Neues? Gar nichts. Na, denn ist gut. Bei Morgengrauen gehen Sie in den Fernsprechunterstand zurück. Tüchtiger Kerl, was?« Er hängte ab.

Tüchtiger Kerl. Bestimmt kein tüchtiger Kerl. Aber ich war etwas gefaßter. Schließlich zwang ich mich dazu, das Gesicht des Toten ganz ruhig zu betrachten. Ja, er sah wirklich aus wie ich. Ich hatte mich gestern rasiert und mir war aufgefallen, wie hart ein Gesicht im Krieg allmählich wird. Große Flächen um die Backenknochen, tiefliegende Augen und die merkwürdigen Falten, die von der Nase an den zugekniffenen Mund führen. Da, finde ich, hört eigentlich der Krieg auf, wo es so eindeutig klar wird, daß der Mensch, der einzelne Mensch den einzelnen Menschen tötet. Denn er konnte ich sein, ich konnte er sein, gibt es da noch irgendeinen Sinn und irgendeine »Feindschaft«?

Immerhin, ich war ruhig jetzt, es kamen die üblichen Gedanken: Vielleicht hat ers besser als ich, jedenfalls wird Er sich heute nacht vor mir nicht gefürchtet haben und er wird sich auch die nächsten Nächte nicht vor denen fürchten, die nach mir hier sitzen.

Eine neue Leuchtkugel. Hinter mir höre ich einen Schritt. Oder vielleicht keinen Schritt, vielleicht klirrt das Drahtverhau? Trotzdem rucke ich zur Seite. Da sehe ich, wie ein schwarzer Schatten auf die Erde gleitet. Ist das wieder ein Toter?

Die Leuchtkugel geht tiefer, geht noch tiefer, fällt direkt auf den schwarzen Schatten, will eben erlöschen –: der Schatten bewegt sich, schlägt mit der Hand auf die glühenden Reste der Leuchtkugel. Das ist nun aber . . . ohne Zweifel ein Mensch!

Ich vergesse, daß drei Meter vor mir der Sappenposten steht, daß greifbar neben mir der Tote liegt, springe auf. Ich weiß, daß ich auf einer Kiste sitze, in der Handgranaten sind. Ich reiße im Hochspringen den Deckel ab und habe eine Granate in der Hand. Zum erstenmal in meinem Leben. Eine kleine Keule, unten am Stiel hat sie einen Faden mit einer dicken Glasperle. Was man damit tut, weiß ich nur vom Hörensagen.

Meine Augen brennen sich gegen den schwarzen Schatten. Freund oder Feind? Was tun? Wenn ich ihn anrufe, kann es zu spät sein, dann sitzt mir sein Bajonett oder sein Messer im Hals. Wenn ich ihn nicht anrufe? Das Losungswort, weiß ich, heißt heute nacht: »Henthen«. Zufällig nach dem Namen meiner Vaterstadt, weil in unserem Abschnitt Landsleute liegen. Ich packe die Handgranate fester in der rechten Hand. Die Perle zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken. Ich richte mich auf, sage leise fragend »Henthen«. Da hebt sich der Schatten in die Knie, und ich sehe deutlich, daß er eine Wendung zum feindlichen Drahtverhau hin macht. Ich reiße die Perle aus dem Stiel, werfe sie ihm hinterher. Zwei, drei. Es gibt einen breiten Krach, ein blaues Feuer, ich höre so etwas wie einen Schrei, nehme Telephon und Decke unter den Arm, Leuchtsignalpistole in die Hand und gehe mit langen Sprüngen auf den Graben zurück. Hinter mir kracht es. Aus dem Loch, in dem ich eben saß, schießt ein blauer Blitz. Infanteriegewehrfeuer auf beiden Seiten. Vor mir spritzt alles in den Boden. Ich springe weiter, zwanzig Schritt, zehn Schritt, bin im Graben. Ein Kompagnieführer stürzt auf mich los. Ich erzähle wirr, was sich ereignet hat. Er schreit »Sperrfeuer«. Ich jage zwei rote Leuchtkugeln aus meiner Pistole gegen den Himmel. Unsere Batterie beginnt. Ich springe zu Rabs in den Bunker. Telephonsummen: Meldung an Hauptmann Mosel. Um uns ist die Hölle los. Ich höre trotzdem Mosels ruhige Stimme: »Anständig benommen«.

Die Infanterie hatte ganz wenig Verluste. Morgens gegen ½ 5 Uhr wurden Rabs und ich abgelöst. Ich mußte dem Hauptmann noch einmal alles erzählen, dann durfte ich mich ausruhen. Sie hatten vor der Feuerstellung aus Denksteinen, unter dem Dach eines Familiengrabes, einen anständigen Unterschlupf gebaut. Ich habe herrlich geschlafen.

 

Zwei Tage später: Der Hauptmann läßt in der Feuerstellung die Batterie zusammentreten. Er schmunzelt mich an und holt aus seiner Rocktasche einen Gegenstand in blauem Packpapier. Er wickelt ihn aus: Das E.K. II. Er zieht es mir an einem viel zu langen Bändchen durch das Knopfloch. Dann sagt er ein paar freundliche Worte, von feindlicher Patrouille abgewiesen, oder so ähnlichen Zinnober. Ich bin ganz vergnügt. Vater wird stolz sein. Am Abend übrigens dieses Tages werde ich auch noch Unteroffizier. Das ist schon sympathischer. Ich denke, daß nun doch manche körperliche Schinderei aufhören wird. Wachtmeister Burghardt holt aus seiner Tasche eine schmierige gelbe Litze, die wie ein Zigarrenband aussieht. Ich nähe sie mir höchst eigenhändig an die Kragenecken. Zu mehr langt es nicht. »Sie sehen richtig neugemacht aus«, sagt Burghardt. Aber dann schlägt er mir auf die Schulter und sagt sogar »Kamerad« zu mir. Gott, bin ich stolz.

3

Die Kämpfe um Souchez waren schwer. Es vergingen niemals vierundzwanzig Stunden, ohne daß der Feind mit starker Übermacht den Durchbruch versuchte. Es glückte nicht. Aber die Abwehr riß die Adern der Verteidiger auf; der Abschnitt ersoff unter Blut.

Neben dem Überfall von Graben zu Graben, die Hand an der Gurgel des Gegners, neben dem Wüten der Artillerie, Batterie auf Batterie, kam ein neuer Schrecken: der Schwarm der Flieger. Sechs Franzosen gegen einen Deutschen. Bisher hatte man gelacht, gespöttelt über jedes Flugzeug. Jetzt wurde es Verhängnis.

Wie Aasgeier hielten die grauen Vögel Ausschau nach Opfern. Arme Artillerie. Es wurde schwer, verborgen zu bleiben, leicht, zertrommelt zu werden.

1/96. – Die Batterie hatte täglich Verluste durch Zufallstreffer. Nun, als sie eines Nachts Sperrfeuer schießen mußte, weil der Infanterie das Bajonett des Gegenübers am Halse saß, wurde aus Zufall korrekteste Berechnung. Ein Flieger leitete das unsichtbare Kommando. Und zwei schwere französische Batterien deckten 1/96 zu.

Mosel war in der Stellung. Er versuchte zu antworten.

Es lagen bereits sieben Tote und vier Verwundete zwischen seinen Geschützen. Er kam nicht zum Schuß.

Die Bedienungsmannschaften gingen an der Kirchhofsmauer in Deckung. Da hockten sie, an die Wand gepreßt, das Gesicht blaß gegen die brennende Nacht gedreht.

Der Feind pflügte die Gräber. Sie taten sich auf. Tote erwachten zum Leben, Skelette sprangen empor, mußten Verzerrungen machen und Verrenkungen unter dem Druck der Geschosse. Furchtbare Stunde!

Mosel versuchte eine Verbindung zum A.O.K. zu bekommen: hier weiter bleiben ist Unsinn. Die Leitungen waren zerschossen.

Verbindung mit Fricke, der sich vorn im Graben aufhielt. Die Leitungen waren zerschossen.

Warten also, bis zum Morgen.

Und dann: Befehl: Die Batterie bleibt unter allen Umständen am Platz!

Täglich dasselbe. Täglich Tote.

Einmal Materialschaden: zwei Geschütze durch Volltreffer unbrauchbar.

A.O.K.: Batterie bleibt am Platz. Es sind sogleich zwei neue Lafetten in Empfang zu nehmen.

Immer wieder, immer wieder Mosels Abendmeldung: »Tödliche Verluste.«

A.O.K.: Schade um jeden Mann. Aber da kann man nichts machen. Guten Abend.

Endlich, eines Morgens, im Dämmern, ein Meldereiter: »Stellungswechsel. Zurück Gegend Loos.«

Wie die Batterie durch Lens fährt, durch rauchende, zertrümmerte Straßen, vorbei an der schiefliegenden, aufgerissenen Kathedrale, muß Reisiger wieder an seinen Traum denken: Stoß: Souchez! Stoß: Loos. »Ich will dir diese Namen einbläuen, daß du sie dein Leben lang nicht wieder vergißt. Das wäre ja noch schöner!«

Und die glühenden Pfeile wandern wieder über die Landkarte.

4

Wenn es nur nicht immer das gleiche wäre –! Souchez oder Loos – der Krieg ist zur Maschine geworden, zur automatischen Maschine. Infanterieangriff: Sperrfeuer. Artilleriekampf: Antwort.

Und Antwort heißt: Verluste. (Und noch das Schweigen heißt: Verluste.) Bei allen Kanonieren gibt es nur noch einen Gedanken: Wann kommen wir endlich aus dieser Hölle heraus.

Aus dem Kanonier Reisiger ist der Unteroffizier Reisiger geworden. Es war das gleiche: Fernsprecher im Graben. Oder Fernsprecher in der Batterie.

Und der Heeresbericht, je mehr es dem Winter zuging und je mehr es kalt wurde und regnete: »Starker Nebel behinderte die Operationen« oder »Im allgemeinen muß das merkliche Nachlassen, das man hinsichtlich der Aktivität unserer Offensive feststellen kann, den unaufhörlichen Regengüssen zugeschrieben werden, die alles aufweichen und Operationen fast unmöglich machen.«

Man las das, man hörte das täglich, wenn es abends von Stellung zu Stellung durch Fernsprecher weitergegeben wurde. Das Lachen darüber wurde immer härter, immer bitterer, schließlich selbstverständlich: Aber ja, es gibt ja auch wirklich keine ‚Operationen‘ von Belang. Daß allein unsere Batterie jeden Abend mit dem Essenwagen drei oder vier Tote nach hinten schickt, ist in der Tat ohne Belang. Daß die Infanterie Tag und Nacht jede Stunde zwei bis drei Menschen im Abschnitt verliert, ist auch keine Neuigkeit für den Heeresbericht. Wir habens ja dazu, wir haben ja genügend Menschenmaterial.

Nur Ein Gedanke bot Halt: Weihnachten kommt.

Und es gibt so viele kindliche Gemüter und so viel Glauben an Weihnachten, daß plötzlich das Gerücht aufgeht und weitergeraunt wird, von den Sappen vor der Infanteriestellung durch alles Gewirr der Gräben, durch alle Annäherungswege bis zu den Feldartilleriebatterien, bis zu den schweren Geschützen dahinter – vielleicht sogar bis zu den Stäben: Paßt auf, Weihnachten ist Frieden!

5

In den letzten Monaten machen sich in Deutschland mehrfach weltbrüderliche Friedensbestrebungen bemerkbar, die scharfe Überwachung erfordern. Die Träger und Förderer dieser Bewegung sind zwar meist Persönlichkeiten von geringem politischen Einfluß. Sie bleiben im allgemeinen auf die Kreise von »Pazifisten« beschränkt, die schon vor dem Kriege einem verschwommenen Weltbürgertum nachgingen. – Bei der entschlossenen, vaterländischen Haltung des deutschen Volkes ist kaum zu erwarten, daß die Bewegung in breite Schichten eindringen und zu ausschlaggebender Bedeutung gelangen wird. Ihre Duldung in jetziger Zeit muß aber mit Recht in weiten Kreisen Mißstimmung und Widerspruch hervorrufen und kann schließlich den festen, unbeirrten Willen zum Durchhalten beeinträchtigen. Es wird nicht verstanden, daß die Erörterung praktischer, vaterländischer Kriegsziele verboten ist, während eine Stimmungsmache für theoretisch unklare weltbürgerliche Friedensgedanken erlaubt sein soll. Besonders unseren kämpfenden Truppen müssen alle Gedankengänge und Bestrebungen solcher Art ferngehalten werden . . . Besonders gefährlich muß es erscheinen, daß die anfangs mehr wissenschaftlich auftretende Bewegung neuerdings mit scharf international gerichteten Sozialistengruppen aller Länder Fühlung zu nehmen sucht. Schließlich ist ein derartiges Auftreten von Leuten, die sich als Vertreter der deutschen Intelligenz im Auslande aufspielen, geeignet, die Achtung vor deutschem Wesen und deutscher Tüchtigkeit, die uns das Volk in Waffen errungen hat, zu beeinträchtigen. (Kriegsministerium, 7. 11. 15. Nr. 3740/15 geheim.)

6

. . . Im Westen haben die mit größter Todesverachtung unternommenen Angriffe der Franzosen und Engländer zwar unsere Front an einzelnen Stellen eingedrückt, aber der Durchbruch, der unter allen Umständen erzwungen werden sollte, ist wie alle früheren Versuche mißglückt. Von dem Umfang des gewaltigen Ringens, meine Herren, gewinnt man eine Vorstellung, wenn man bedenkt, daß Frankreich allein in der Champagne nicht sehr viel weniger Truppen eingesetzt hat, als die waren, mit denen Deutschland in den Krieg von 1870 gezogen ist. Es gibt kein Wort, meine Herren, das tief genug empfunden wäre, um die Dankesschuld des Vaterlands gegen unsere Krieger abzutragen, gegen unsere Krieger, die trotz eines unerhörten feindlichen Trommelfeuers, trotz einer vielfachen zahlenmäßigen Unterlegenheit mit ihren Leibern dem Feind einen Wall entgegengesetzt haben, den er nicht hat durchbrechen können. Unvergängliche Ehre dem Andenken aller, die dort ihr Leben für ihre Freunde gelassen haben . . . Das deutsche Volk, unerschütterlich im Vertrauen auf seine Kraft, ist unbesiegbar. Es heißt, uns beleidigen, wenn man glauben machen will, daß wir, die wir von Sieg zu Sieg geschritten sind, weit in Feindesland stehen, unseren Feinden, die noch vom Siege träumen, an Ausdauer, an Zähigkeit, an innerer moralischer Kraft, nachstehen sollten. Nein, meine Herren, wir lassen uns durch Worte nicht beugen. Wir kämpfen den von unseren Feinden gewollten Kampf entschlossen weiter, um zu vollenden, was Deutschlands Zukunft von uns fordert. (Rede des Reichskanzlers, 9. 12. 1915.)

7

Einfaches Abwarten in der Defensive, das an sich wohl denkbar wäre, entspricht dem Zweck auf die Dauer nicht. Den Gegnern strömen aus ihrer Überlegenheit an Menschen und Material erheblich mehr Kräfte zu als uns. Es müßte bei diesem Verfahren einmal der Augenblick eintreten, wo das rohe Stärkeverhältnis Deutschland nicht viel Hoffnung mehr ließe. Das Vermögen zum Durchhalten ist bei unseren Verbündeten begrenzt, das unsrige immerhin nicht unbeschränkt. . . . In Flandern, nördlich des Lorettorückens, verhindert die Bodenbeschaffenheit bis in das mittlere Frühjahr hinein weitzielende Unternehmungen. Südlich davon sollen für sie nach Meinung der örtlichen Führer etwa 30 Divisionen erforderlich sein. Der gleichen Zahl würde auch eine Offensive im Nordabschnitt bedürfen. Es ist uns aber unmöglich, diese Stärke an einer Stelle unserer Front zu vereinigen. (General v. Falkenhayn, Vortrag vor Kaiser Wilhelm, Weihnachten 1915.)

8

Kanzler:

. . . es heißt, uns beleidigen, wenn man glauben machen will, daß wir . . . an Ausdauer, an Zähigkeit, an innerer moralischer Kraft, nachstehen sollten.

General:

. . . einmal der Augenblick eintreten, wo . . . nicht viel Hoffnung mehr ließe.

Kanzler:

. . . deutsche Volk unbesiegbar.

General:

. . . Vermögen zum Durchhalten . . . immerhin nicht unbeschränkt.

9

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10

An das deutsche Heer, die Marine und die Schutztruppen:

Kameraden! Ein Jahr schweren Ringens ist abgelaufen. Wo immer die Überzahl der Feinde gegen unsere Linien anstürmte, ist sie an Eurer Treue und Tapferkeit zerschellt. Überall, wo Ich Euch zum Schlagen ansetzte, habt Ihr den Sieg glorreich errungen.

Dankbar erinnern wir uns heute vor allem der Brüder, die ihr Blut freudig dahingaben, um Sicherheit für unsere Lieben in der Heimat und unvergänglichen Ruhm für das Vaterland zu erstreiten.

Was sie begonnen, werden wir mit Gottes gnädiger Hilfe vollenden.

Noch strecken die Feinde von West und Ost, von Nord und Süd in ohnmächtiger Wut ihre Hände nach allem aus, was uns das Leben lebenswert macht. Die Hoffnung, uns im ehrlichen Kampf überwinden zu können, haben sie längst begraben müssen. Nur auf das Gewicht ihrer Masse, auf die Aushungerung unseres ganzen Volkes und auf die Wirkungen ihres ebenso frevelhaften wie heimtückischen Verleumdungsfeldzuges auf die Welt glauben sie noch bauen zu dürfen.

Ihre Pläne werden ihnen nicht gelingen. An dem Geist und dem Willen, der Heer und Heimat unerschütterlich eint, werden sie elend zuschanden werden: Dem Geist der Pflichterfüllung für das Vaterland bis zum letzten Atemzug und dem Willen zum Siege.

So schreiten wir denn in das Neue Jahr. Vorwärts mit Gott zum Schutz der Heimat und für Deutschlands Größe!

Großes Hauptquartier, den 31. Dezember 1915.

Wilhelm

11

Auf bevorstehende Erfolge nicht zu sehr hinweisen, da die Freude über unsere Siege dadurch herabgesetzt oder bei ihrem Ausbleiben Enttäuschung erregt wird. (Presse-Besprechung der Oberzensurstelle des Kriegspresseamts, 20. 8. 15.)

12

Tagebuchaufzeichnung des Unteroffiziers Reisiger:

In der Nacht vom 31. 12. zum 1. 1. 16 feuerten Punkt 12 Uhr sämtliche deutschen Batterien, soweit ich hören konnte, drei Salven gegen den Feind. – Der Feind antwortete nicht.

Ich möchte wissen, wer den Befehl dazu gegeben hat. In der Batterie herrscht eine Wut gegen diesen Hund, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Das ist eine glatte Schweinerei. Uns haben die Tränen in den Augen gestanden. Wir sind ja allmählich alle keine Kinder mehr und Schießen ist ganz gewiß unser Beruf, wenn wir im Krieg sind. Aber daß wir das Neue Jahr so anfangen mußten, ist gemein. Warum haben wir gefeuert? Gegen wen um Gottes willen? Wenn das so weiter geht, daß aus purer Lust am Knallen, ohne Zweck, ohne »Feind«, ohne (soll ich mich schämen »Berechtigung« zu sagen?) . . . einfach geballert wird, weil irgendein Etappenhengst sich das als Neujahrsgruß besonders apart ausgedacht hat – dann wird die Sache über kurz oder lang ein Ende nehmen, das uns allen keinen Spaß macht. – Aber ich bin ja Soldat und muß die Schnauze halten.


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