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Fünftes Kapitel

1

Meyers Konversationslexikon 6. Auflage 1909:

Lens: Stadt im franz. Depart. Pas-de-Calais, Arrond. Béthune, an der Deule und dem Kanal von L. (Teil des Laufes der Deule), Knotenpunkt der Nordbahn, hat Steinkohlengruben, Fabrikation von Rübenzucker, Maschinen, Seilerwaren etc. und (1901) 24370 Einw.

Der Kleine Brockhaus 1925:

Lens: im frz. Dpt. Pas-de-Calais, 32000 E., (Steinkohlen), Ind. im Weltkrieg zerstört (wieder aufgebaut).

Der Kleine Brockhaus 1925:

Lorettohöhe, Höhe 165, Anhöhe im nördl. Frankreich, n. v. Arras mit Kapelle. 9. 5. bis 23. 7. 1915 in der Schlacht bei La Bassée und Arras Brennpunkt der Kämpfe.

2

Das Feldartillerieregiment 96 wird in einer schwülen regnerischen Juninacht des Jahres 1915 über drei Chausseen zum Einsatz herangezogen. Um 1 Uhr morgens stehen sechs Batterien mit den Pferden ihrer ersten Geschütze gegen das Massiv einer mächtigen Kirche.

Die Nacht ist schwarz. Alle Stimmen sind ein Flüstern. Man hört nur das Klirren der Geschirre, hier und da einen Ruf und halblaute Kommandos.

Alle Offiziere sind in die Kirche befohlen. Hinter den schweren Türen und am Altar brennen einige Kerzen. Dort gibt der Regimentskommandeur Order für die Stellungen.

Das dauert nicht ganz eine halbe Stunde. Der Regimentskommandeur verschwindet. Die Kirche wird leer.

Die sechs Batterien des F.A.R. 96 stehen bei Morgendämmerung in sechs Vororten der Stadt Lens.

Als es Tag ist, sehen die Kanoniere der sechs Batterien eine steile Höhe und auf ihr eine Kapelle mit leuchtendem Kreuz: Lorettohöhe, Höhe 165, mit der Kapelle »Notre Dame de Lorette«.

3

Die Erste Batterie hat den Hauptrichtungspunkt gegen Loos, eine rechte Viertelwendung ab von Höhe 165.

Die Häuser der Vororte von Lens, rote Backsteinbauten, zweistöckig, in Kolonien nebeneinandergereiht, sind uniform. Alle haben auf der gleichen Seite den breiten Hauseingang mit der grüngestrichenen Tür, daneben zwei Fenster, darüber zwei Fenster. Hinter dem Haus liegt bei allen der gleichgroße Hof, sechs oder acht Schritt im Quadrat. Hinter jedem Hof steht ein kleines Steinhäuschen: die Waschküche.

In einer Straße sind die Türen all dieser Waschküchen gewaltsam verbreitert. In den Waschküchen stehen die Geschütze 1/96. Ihre Mündungen sehen durch breitflügelige Fenster.

Die Kanoniere haben eine kindliche Freude an dieser merkwürdigen Feuerstellung. Alle brennen darauf, recht bald zu schießen. Wie reizvoll muß es sein, vor dem ersten Schuß höflich die Fenster zu öffnen, damit Granate oder Schrapnell um Gotteswillen nicht das Fensterkreuz oder gar die Fensterscheiben beschädigen.

Komfortabel wie die Geschützstände sind auch die Wohnräume für die Batterie.

Es gibt zivile Wohneinrichtungen mit Sofa, Tisch, Stühlen, mit richtigen Betten, mit langersehnter, wenn auch dreckiger Bettwäsche.

Auf Geschützführer und fünf Mann kommt je ein Haus – kann man besser leben?

Die Geschütze sind kaum in den Waschküchen, als man darangeht, die vorgelagerten Gärten zu kontrollieren. Einige Blumen blühen, junge Zwiebeln, und die Obstbäume haben gut angesetzt.

Und dann geht man auf der Straße spazieren. Man bohrt die Hände in die Hosentaschen und schlendert über das Pflaster. Schade, daß Zivilisten fehlen. Frauen. Da wäre es erst gemütlich.

Aber auch so: Kann man besser leben?

Zwar, wenn man zur Seite blickt, liegt da schwarz die Höhe 165, mit weißen Bällen betupft, Schrapnellwölkchen, die nie vergehen. Und von Zeit zu Zeit brüllt der Batterieposten: »Deckung – Flieger.«

Aber was heißt das! Spaß macht der Krieg hier!

Was zurückliegt, ist vorüber!

Es gibt wieder eine komplette Mannschaft, komplette sechs Geschütze!

Zum Dritten Geschütz gehört wieder Adolf Reisiger.

Am Morgen nach seiner Ankunft in Douai war er bereits zur Batterie gewiesen worden.

Es war schwer gewesen, sich daran zu gewöhnen, daß ‚sein‘ Drittes Geschütz nicht mehr existierte. Gewiß, es gab eine funkelnagelneue Lafette, auf die man »3. Gesch.« gemalt hatte. Aber diese Schablone blieb die einzige Erinnerung.

Alles sonst war neu. Der Geschützführer, Unteroffizier Leonhard, war von der dritten Batterie übernommen, die Kanoniere kamen aus der Garnison. Zwei, Aufricht und Heynze, sind Kriegsfreiwillige eines Ersatztransportes aus dem Januar. Rabs und der Gefreite Georgi, Reservisten, kommen vom Rekrutendepot.

Reisiger hatte in den ersten Tagen Mühe, sich mit den neuen Menschen zurecht zu finden. Es ist ja nichts damit getan, daß man Tag und Nacht, Tisch und Bett, Lafette und Protze, Himmel, Wolken und Erde miteinander teilt. Man muß Berührungen außerhalb der Äußerlichkeiten finden.

Aufricht ist Theologiestudent, Heynze Bankbeamter, Georgi Zimmermann, Rabs Zahntechniker.

Allmählich, auf den Märschen der vergangenen Nächte, fand Reisiger, der abwechselnd auf Protze und Lafette saß, in kurzen Gesprächen, in einem Scherz, im Schweigen, Zugang zu den neuen Kameraden.

Und jetzt schon war eine gute Einheit.

Sympathisch ist vor allem Rabs. Ein verschlossener Mensch, wenig älter als Reisiger, mit klugen, klaren Augen. Es ergab sich wie von selbst, daß die beiden hier im Haus im gleichen Bett schlafen, daß sie versuchen, sich bei allen Dienstleistungen möglichst aneinander zu halten.

Und abends, wenn man nach dem Essen gemeinsam um den Tisch saß, der in den Hof gestellt war, wurde Unsinn getrieben, an dem sich einschließlich Leonhard alle begeistert beteiligten.

Man spielte Karten, man würfelte. Und, Spezialität, man spielte »Zeichenstunde«.

Aufricht war nämlich Zeichenkünstler. Er kopierte mit Geschick die Aquarelle von Wennerberg, die überall in Unterständen und Gräben den Hauptschmuck bildeten, Mädchen, Mädchen, stehend, sitzend, liegend. Mit wehendem Rock, mit langen Armen, mit überlangen Beinen. Sehnsucht so vieler Soldaten.

Das zeichnete also Aufricht. Und wenn man ihn bat, tat er mehr: er entkleidete jede der Vorlagen. Man konnte auf Wunsch, innerhalb weniger Minuten, die Dame, die da vor einem an der Wand hing, nackt bekommen. Ein toller Spaß, der heftigst betrieben wurde.

Wer sich gut mit Aufricht stand, dem schenkte er solch ein Blatt. Oder wer ihm einen Briefbogen gab, durfte ihn samt nacktem Mädchen für eine Zigarette wieder abholen.

Ach, fast jede Nacht ging mit diesem Spiel vorüber. Und je später die Stunde, desto nackter wurden die Damen. Bis sie schließlich, gegen Mitternacht, auf allen Zeichnungen dasselbe taten, eindeutig, klar: auf dem Rücken lagen, die Arme ausgebreitet, die Beine in den Knien gebogen, die Schenkel weit gespreizt, die Schenkel weit gespreizt. Auf jeder Zeichnung.

Ein solches Blatt kostete dann drei Zigaretten.

4

In den Nächten war es so warm, daß man schwer schlafen konnte. Man lag wach, oft bis es wieder hell wurde, wälzte sich, die Schwüle bedrückte. Die Gedanken krochen, klebrige Schnecken: was – sollen – wir – denn – hier – langweilig – das – ist – doch – gar – kein – Krieg – hier –

Man kam sich so überflüssig vor. Der Feind schoß nicht, die Batterie schoß nicht – also wozu das alles?

Und wenn man so wach lag, in der fetten massiven Luft, die auch nachts nicht wich, dann trieben zuweilen Fetzen von Musik heran, Leierkasten wohl, Orchestrion, Klavier.

Donnerwetter, das muß aus Lens kommen. »Du Kamerad, hörst du, in Lens ist Musik. Ob die da tanzen?« – »Na, Mensch, das ist ja ein Walzer, verflucht nochmal!« – »Das hat uns noch gefehlt. Und uns halten sie alle Weiber vom Leibe.« – »Na dir hat doch Aufricht eine gemalt gestern, so eine stabile . . .« – »Oller Dussel, halts Maul.«

Musik, und eine große unzerstörte Stadt zehn Minuten Wegs von der Feuerstellung, und Tanz vielleicht, Frauen vielleicht . . . Wenn man schon nicht schießen durfte in dieser gottverdammten Gegend hier, dann wollte man wenigstens den Geheimnissen auf die Spur kommen.

Manchmal waren Infanteristen an der Stellung vorübergegangen, die vom Lenser Betrieb erzählt hatten. Ja, da seien haufenweise Zivilisten, und Kneipen und Läden und ein Kino, also wie zuhause.

Und Frauen auch?

Ja, klar, auch Frauen, junge und alte. Sie liefen frei auf allen Straßen herum, säßen abends vor den Haustüren, bedienten in den Lokalen. An einigen Stellen wäre richtiger Schwoof, wo bis morgens getanzt würde. Und man könnte sich gut mit ihnen unterhalten, da sie leidlich deutsch sprächen.

»Seht euch das mal an«, sagte ein Infanterist, ein Landsmann von Georgi, der einmal beim Ersten Geschütz Abendbrot aß, »ja da staunt ihr, was?« Er zog ein Papier aus der Brusttasche und entfaltete es. »Das habe ich von einem Haus abgerissen, tja, so leben die Herren Offiziere. Aber für uns gibts natürlicherweise auch genug. Hinter der Kirche ist ein Puff, und wenn man beim Kino in die Seitenstraße geht, noch einer.«

Das Plakat ging von Hand zu Hand.

Preis-Verzeichnis.

A. Getränke:

   Sekt Henkell Trocken         à Flasche 18.-  Mark
   Bordeaux Chateau Lafille          ,,    6.-   ,,
   Ungarwein                         ,,    8.-   ,,
   Bier, eine große Flasche                1.50  ,,
   Kaffee, Tasse                           1.-   ,,
     ,,  , ein kleiner Krug, 6 Tassen      6.-   ,,
     ,,  , ein großer Krug, 12 Tassen     12.-   ,,
   Tee, ein Glas                           0.60  ,,
   Selter, kleine Flasche                  0.30  ,,

B. Beischlaf:

   für die ganze Nacht                    30.-  Mark
   für 2 bis 3 Stunden zur Abend- und
     Nachtzeit                            20.-   ,,
   für 1 Stunde                           10.-   ,,
   für jede beliebige Stunde von 9 Uhr
     vorm. bis 6 Uhr nachm.               10.-   ,,

Die Sittenpolizei
a. B. Treller, Oberltn. u. Adj.

Der Infanterist war stolz auf seine Botschaft. Er barg seinen Schatz wieder in der Tasche. »Bei unserer Löhnung kommt so etwas ja nicht in Frage, aber wer es versteht –«

Georgi stielte seine Augen: »Was kostet denn eine Stunde bei uns, ich meine für Mannschaften?«

»Ich sage ja, wer es versteht. Sieh mal, das ist doch so: die Weiber haben natürlicherweise alle nichts zu fressen. Wenn du ihnen zum Beispiel ein Brot schenkst, oder sagen wir ein halbes – du, ich wette mit dir, dafür machen sie alle die Beine breit. Ha!«

Für ein halbes Brot? Ein halbes Brot ist nicht viel, das kann man leicht mal zurücklegen, ohne deswegen selber zu verhungern. Hm, für ein halbes Brot.

Georgi ging zum Wachtmeister, er bäte um Urlaub, etwas in Lens zu besorgen.

Der Wachtmeister sah ihn an wie einen Verrückten. Schmiß ihn raus, Urlaub gäbe es nicht.

Nun, damit war die Angelegenheit nicht aus der Welt geschafft. Aufricht mußte mehr noch als vorher seine nackten Mädchen zeichnen. Er konnte sich vor Aufträgen nicht retten und konnte die Preise gut auf acht Zigaretten erhöhen.

5

Telegramm an General Scheidemann in Warschau von dem Stabe des Oberbefehlshabers der Südwest Front:

Vorgestern, während meiner Anwesenheit in Warschau, sah ich auf den Straßen der Stadt eine ungewöhnlich große Anzahl von Offizieren, Militärärzten und Militärbeamten, die hauptsächlich mit Frauen promenierten. Dies beweist die Untätigkeit dieser Militärpersonen, ihren vollständigen Mangel am Pflichtbewußtsein und mangelnde Aufsicht seitens der Vorgesetzten, die eine solche Entfernung vom Dienste zulassen. Diese Ungehörigkeit hat von morgen ab zu unterbleiben und sämtliche Offiziere sich sofort zu ihrem Truppenteil zu begeben, wo sie sich ständig aufzuhalten haben. Sie dürfen nicht vergessen, daß wir uns jetzt in einem Kriege befinden. Die kommandolosen Offiziere sind spätestens morgen zur Verfügung des Kommandanten meines Stabes zu stellen zwecks Kommandierung zu den Ersatz brauchenden Truppenteilen. Alle Offiziere und Militärbeamte haben während der Kriegszeit die Mannschaften auszubilden oder ihren sonstigen Dienst zu versehen. Die freien Stunden der Erholung sind bei den Truppenteilen zu verbringen. Alle Ausschweifungen müssen vermieden werden, um nicht den Truppen ein böses Beispiel zu liefern und das Vertrauen zu untergraben.

Ivanow
F. d. R.: Ältester Adjutant Stabskapitän Sulkowski
.
(Vossische Zeitung, 5. 2. 1915)

6

Eines Abends hatte Wachtmeister Burghardt (der als Offizierdiensttuer in Douai der Batterie zugeteilt worden war) alle Unteroffiziere zu einem Fest zu sich ins Quartier geladen. Er wohnte in einem Haus für sich allein am rechten Flügel der Stellung. Dort, in einem Wohnzimmer mit roten Plüschmöbeln und einem Klavier, versammelten sich die Gäste. Es gab eine kleine Tonne Bier. Die Stimmung wuchs schnell.

Die Mannschaften wollten schlafen, aber bis in die letzten Winkel hinein tosten Lärmen und Lachen.

Reisiger hatte Zahnschmerzen. Er war besonders früh ins Bett gegangen. Nun schmiß er sich hin und her, weil er nicht einschlafen konnte. Er war verzweifelt.

Schließlich hatte er sich ein Taschentuch um den Kopf gebunden, und es glückte, die Schmerzen etwas zu beruhigen.

Er lag im Halbschlaf. Da hörte er seinen Namen. Auf der Straße vor dem Haus rief man nach ihm: »Reisiger, zum Wachtmeister kommen!«

Verflucht noch mal, das hat gefehlt!

»Geh doch einfach nicht hin. Du kannst dich doch krank melden«, flüsterte Rabs, der sich gerade ausgezogen hatte.

»Wahrscheinlich soll ich auf Posten. Da kann ich mich doch nicht einfach drücken«, antwortete Reisiger. »Es ist zum Kotzen.« Er zog sich mühsam die Stiefel an, knöpfte den Rock zu. Er ging auf die Straße.

»Mensch, mach rasch. Der Wachtmeister wird schon ungeduldig«, schob ihn der Posten vor sich her.

Er öffnete die Tür zur Wachtmeisterwohnung, riß die Mütze vom Kopf.

Burghardt torkelte ihm entgegen: »Du kannst ruhig bequem stehen. Du bist mein Gast, nicht wahr? Du bist doch studierter Kriegsfreiwilliger? Na, dann kannst du auch Klavier spielen, nicht wahr – ach Mensch, quassele nicht. Hier trink Bier, nicht wahr.«

Zahnschmerzen, mühsam eingeschlafen, rauh aufgeweckt, auf nüchternen Magen scheußliches Bier trinken, von einer Horde leicht besoffener Unteroffiziere umgeben, und dann Klavierspielen: eine bittere Überraschung.

Reisiger wußte nicht, was er antworten sollte. Er drehte das leere Glas in seinen Händen.

Aber was blieb ihm übrig? Er setzte sich ans Klavier. Die Tasten waren klebrig und schmutzig. Sie hatten auch schon Bier saufen müssen. Außerdem waren alle Saiten verstimmt.

Reisiger glaubte, er könne sich seiner Aufgabe bei einer Unteroffizier-Gesellschaft nicht besser und korrekter entledigen, als wenn er »Heil Dir im Siegerkranz« spielte. Er konnte es zwar nur mit zwei, höchstens drei Fingern, aber er wagte es.

Die Quittung war ein brüllendes Gelächter. Burghardt schlug ihm mit der Hand auf den Kopf: »Du bist ja vollkommen verrückt, Mensch. Spiel gefälligst was Lustiges.«

»Ich weiß nichts, Herr Wachtmeister.«

»Du weißt nichts?« stockte Burghardt. »Kennst du nicht –« er gröhlte einige Töne – »das mit der Krone im Rhein? Was? Das mußt du spielen, verstanden!«

Reisiger: »Dann müssen Herr Wachtmeister das schon noch einmal singen, vielleicht kann ich dann nach dem Gehör begleiten.«

Das Gelächter der Gesellschaft wurde noch lauter.

»Stolzenfels«, lallte Burghardt, »Mensch, kannst du Stolzenfels? Ich meine ‚Stolzenfels am Rhein‘, ich meine – ein richtiger Kriegsfreiwilliger bist du doch nicht!« Aber das sagte er nicht mehr in gutmütigem Ton, das klang fast wie der Ausbruch einer Explosion. »Was willst du denn eigentlich, was, schießen wollt ihr nicht, Krieg wollt ihr nicht, wozu seid ihr denn hier, ihr Kriegsfreiwilligen?« Reisiger schwitzte und sah auf die Tasten. Stolzenfels am Rhein? Ob ich einfach irgend etwas spiele? Vielleicht merkt überhaupt niemand, was richtig oder falsch ist.

Da begann die Korona der Gäste zu brüllen. Sie hatten sich untergefaßt und schaukelten und sangen. »Stolzenfels«. Reisiger probierte die Begleitung. Natürlich. Er hatte das Lied schon öfter gehört. Also los. Mit dem Mut der Verzweiflung hieb er auf die Tasten, falsch aber laut.

Als der erste Vers zu Ende war, tatschte ihm der Wachtmeister an die Backe: »Ein feiner Junge bist du, du bist ein feiner Junge. Ich meine, wenn du so weiter spielst, meine ich, werden wir noch dicke Freunde werden, verstanden? Jetzt den zweiten Vers.«

Reisiger spielte den zweiten Vers. Auf den zweiten folgte der dritte. Als mit dem vierten Vers das Lied zu Ende war, wurde Burghardts Stimme wieder ungemütlich. Er schob Reisiger ein neues Glas Bier zu: »Jetzt sauf das aus und dann wird das Lied noch einmal gespielt.«

Während Reisiger sich mühte, das Glas zu leeren, sangen die andern bereits. Er mußte sich also beeilen. Oh, es ging ganz gut. Und wenn auch die Sänger einige Takte vor ihm fertig waren: Es gefiel allen so gut, daß sie sofort von neuem anfingen.

Als Reisiger das vierversige Lied von Stolzenfels am Rhein zum siebentenmal ohne Unterbrechung gespielt hatte, begab sich etwas Merkwürdiges. Die ersten Töne des achten Anfangs blieben dem Wachtmeister und seinen Unteroffizieren im Halse stecken. Abgeschnitten. Burghardt setzte sein Glas so scharf auf den Tisch, daß es in Scherben ging. Er wischte sich mit der feuchten Hand über das rote Gesicht und sagte entgeistert: »Donnerwetter, die Schweine schießen!«

Alle waren aufgestanden. Es war Stille im Zimmer. Man hörte fern einen bekannten Ton: ein scharfes Pfeifen. Aus dem Pfeifen wurde ein gellendes Rauschen. Alle beugten plötzlich ein wenig die Knie. Dann gab es einen Krach. Der Wachtmeister sauste aus dem Zimmer. Alle sausten hinterher. Man starrte durch die offene Haustür auf die Straße. Da, gegenüber vom Haus, vielleicht sechzig Meter ab, ging eine gelbliche Wolke hoch und stand dann drohend gegen den Nachthimmel.

Der Wachtmeister schrie seine Gäste an: »Schert euch endlich zu euren Geschützen!«

Reisiger rannte in sein Quartier. Dort schlief alles. Er zündete ein Streichholz an: »Hallo! Los! Batterie an die Geschütze! Der Feind schießt!« Und lauter zum Fenster hinaus: »Batterie an die Geschütze!«

Sekunden später waren die Geschütze feuerbereit. Die Bedienungen standen zum größten Teil in Unterhosen. Man hörte Burghardt: »Das Telephon soll bei der Beobachtungsstelle anfragen, was los ist?«

Antwort: Im Graben ist völlige Ruhe. Ob der Hauptmann geweckt werden soll?

Burghardt, wütend: »Der Telephonist soll mich am Arsch lecken!«

Man wartete auf den nächsten Schuß. Nichts geschah.

Allmählich fror man, in Unterhosen. Man machte Witze über den Alarm. Jaja, wenn der Herr Wachtmeister sauft. Vielleicht hat der Franzmann den Krach gehört.

Nach zehn Minuten brüllte der Wachtmeister wie ein gereizter Stier: »Batterie abtreten!«

7

Das Telephonnetz der deutschen Truppen in Lens ist mustergültig gebaut. In allen Vororten liegen feuersichere Zentralen, über die man wichtige Punkte des gesamten Frontabschnittes auf verschiedenen Drähten sofort erreichen kann. Durch die ganze Stadt ziehen sich sorgfältig ausgebaute Kabelleitungen, unterirdisch, mit Eisenbahnschwellen oder Schichten aus Steinpflaster gesichert.

Die Pflege und der Ausbau dieses Kabelnetzes sind um so wichtiger, als sich der Bau der Infanteriestellungen grundlegend geändert hat. Noch Anfang 15 war der Schützengraben eine einzige gerade Linie, durch Annäherungen mit dem Hintergelände verbunden. Jetzt lebte die Infanterie in einem Gitter. Vier, fünf besetzte Gräben liefen nebeneinander her. Im Zickzack gebaut, durch teilweise gedeckte Gänge miteinander verbunden, durch vorgeschobene Sappen dem Feind nähergerückt.

Ein Versagen der Telephonleitung, das an ruhigen Tagen unbequeme Störung bedeutete, konnte in unruhigen Zeiten leicht zu Verwirrung und Irrtümern führen.

Notwendig, um das Leitungsnetz restlos in Ordnung zu halten, waren jetzt bei allen Truppenteilen große Fernsprechtrupps. Sie besetzten die Zentralen. Sie besetzten die Endstationen. Sie sorgten von Apparat zu Apparat dafür, daß jede Störung auf das schnellste behoben wurde.

Da jeder Apparat, Lebensnerv der Truppe, in besonders geschützten Unterständen liegt, haben die Fernsprechtrupps vieles vor ihren Kameraden voraus. Gegen Zufallstreffer und gegen Wetter sind sie mehr geschützt als die übrigen.

Aber da die Leitungen gerade beim Feuer – und nur beim Feuer – zerstört werden, steht jeder Fernsprechtrupp vor der Aufgabe, dann noch flicken zu müssen, wenn für alle übrigen Soldaten volle Deckung befohlen ist.

F.A.R. 96 bildete aus den Mannschaften seiner sechs Batterien mehrere zentrale Trupps, die auf drei Punkte des Frontabschnittes verteilt wurden.

Zum Trupp vor Loos gehörten von 1/96 Rabs und Reisiger. Der Dienst: Acht Stunden Zentrale, acht Stunden Schützengraben, acht Stunden Batteriestellung, Ruhe.

8

Reisiger ging am liebsten in den Schützengraben. Man weiß als Artillerist sehr wenig vom Leben der Infanterie. So lernte er es kennen. Es war, stellte er fest, schlechter als das der Artillerie. Schlechter vor allem, wenn er Vergleiche zog zwischen den Wohnungen, die seine Batterie z. B. jetzt hatte, und den elenden Löchern, in denen man im Graben hausen mußte. Und es war ihm fast eine Genugtuung, daß er hier vorn nicht anders lebte als der Infanterist.

Die vordere Linie lag wenige hundert Meter vor den letzten Häusern des Lenser Vorortes Liévin, eingebettet in eine Wiese. Nach Loretto zu mußte sie über eine Kohlenhalde geführt werden, die ihren schwarzen Rücken tief in diese Ebene gewühlt hatte.

Auf der Halde war ein Ausbau der Stellung wegen des Kohlengerölls unmöglich; man hatte Pallisaden aus Baumstämmen errichtet, hinter denen tagsüber nur die notwendigsten Posten standen. Alles übrige hielt sich im Tunnel auf, der durch das Massiv getrieben war.

Hier war bei Tag auch der Telephonist der Artillerie in einem ausgebuchteten, abgesteiften Loch stationiert. Man hockte im Stroh, hatte neben sich auf einer Kiste den Fernsprechapparat. Einzige Aufgabe: Auf Wunsch der Infanterie Feuer anzufordern, wenn es not tat. Es geschah fast nie. Man schlief also meistens bis zur Abenddämmerung.

Nachts bezog man mit einer Gruppe Infanteristen oben auf der Halde einen Postenstand hinter der Pallisade.

Da saß man, gegen die Wand gelehnt, unterhielt sich mit den Nachbarn, sah dem Spiel der Leuchtkugeln zu, die sich im Vorgelände jagten, döste vor sich hin. Gefahr gibt es hier kaum; der Feind kann hier nicht herauf, ohne daß man es frühzeitig merkt. Gewiß, seine Sappen sind hart an die Nase der Halde vorgekrochen, aber wer hier vorgehen will, hat schon im Geröll einen Gegner, der ihn immer wieder zurückwerfen wird.

Viele Tage lag Reisiger hier vorn.

Zuweilen beschoß der Feind die Gräben. Tote gab es bei der Infanterie, Verwundete. »C’est la guerre« – man zuckte die Achseln. »Es ist nicht so schlimm.« Wenn man das ungeheure Feuer, das unaufhörlich von Loretto her auf den Nachbarabschnitt niederschlug, mit den kurzen Überfällen hier auf die Gräben verglich: es ist schon ein Glück, hier zu liegen; hier ist eine gute, ruhige Stellung!

Eines Nachts war Reisigers Dienst so, daß er seinen Posten auf der Halde um Mitternacht bezog und ihn morgens um acht wieder verlassen sollte. Die Stunden in der Dunkelheit waren normal verlaufen. Ab und zu Gewehrschüsse. Zuweilen zwischen den Gräben Handgranaten von hüben und drüben. Reisiger packte gegen vier Uhr morgens – es wurde eben hell – seine Sachen zusammen, die Decke und den Sandsack mit der restlichen Verpflegung.

Da begann der Feind mit heftigem Artilleriefeuer. Man sah, daß er sich auf die Gräben einschoß. Die Schüsse lagen, auf zwei Kilometer Breite rechts der Halde verteilt, zum Teil sofort im Ziel, zum Teil nicht allzu weit davor. Man sah, wie diese Fehlschüsse systematisch korrigiert wurden.

Es verging kurze Zeit, dann rauchte der Graben unter dem Zielfeuer der feindlichen Batterien. Die Infanterie wurde nervös, wurde lebendig. Die Mannschaften krochen gebückt aus ihren Löchern, die Gruppen- und Zugführer huschten hin und her.

Das feindliche Feuer wurde heftiger. An einen Zufall konnte man nicht mehr glauben. Ein Kommando stieg bis auf die Halde: »Gefechtsbereit machen, der Feind greift an.«

Reisiger rief die Artilleriezentrale und ließ sich mit der Feuerstellung 1/96 verbinden. Er erfuhr, daß die Batterie bereits seit einer halben Stunde alarmbereit ist, auf Regimentsbefehl. Der Wachtmeister sprach mit ihm: »Sie rühren sich nicht vom Fleck. Wenn die Infanterie Feuer von uns verlangt, melden Sie es sofort. Wenn die Leitung zerschossen ist, geben Sie drei rote Leuchtkugeln! Aber bleiben Sie auf jeden Fall oben auf Ihrem Postenstand.«

Abgehängt. Reisiger war im Bilde.

Auf die Halde war bisher kein Schuß gekommen. Reisiger saß wie in einer Loge, er konnte ungestört beschauen, was sich ereignete. –

Das feindliche Feuer verdichtete sich. Die Schüsse trommelten auf den Graben. Die Einschläge drängten sich zum unaufhörlichen Donner zusammen. Der Kalk flog hoch, Bretter, Baumstämme wurden gegen den Himmel geschleudert.

Neben Reisiger standen fünf Infanterieposten, reglos, Gewehr im Anschlag. Sie rückten plötzlich zusammen. Eine Gruppe erschien im Laufschritt vom Tunnel her. Ein Maschinengewehr wurde in Stellung gebracht. Die Bedienung zwängte sich zwischen den Stämmen der Barrikade hindurch, wühlte schwarzen Dreck nach hinten, schob das M.G. an die Mulde.

Die Hast der Infanteristen und die Blässe ihrer schwitzenden Gesichter waren erregend. Keiner redete. Man handelte mit zusammengebissenem Mund in gespenstischer Stummheit.

Plötzlich wurde die brüllende Rauchwalze vom Graben abgehoben. Der Feind zog sie zurück bis fast an seine eigene Stellung.

Im gleichen Augenblick sprang ein Feldwebel auf Reisiger los: »Der Feind greift an. Artillerie Schnellfeuer!«

Greift an? – Reisiger nahm automatisch das Telephon, wiederholte die Worte des Feldwebels. Als er den Hörer auflegte, hackten schon überall wie bissige Hunde die Aufschläge der eigenen Batterien in die Rauchwalze des Feindes.

War es zu spät?

Die Rauchwalze begann zu wandern, rückte wieder auf den deutschen Graben vor.

Und jedesmal, wenn sie aufsprang, sah Reisiger hinter ihr laufende Menschen. Der Feind! Das ist der Feind!

Er drängte sich gegen die M.G.-Besatzung: »Da – Franzosen!« – Die Antwort, verbissen: »Rankommen lassen . . .«

Reisiger schwankte vor Aufregung. Sie kamen ja heran! Da, die Rauchwolke, immer näher, und dahinter immer diese laufenden springenden gestikulierenden Menschen. »Schießt doch um Gottes willen!«

Der M.G.-Führer drehte sich zu Reisiger um: »Du hast wohl noch nicht viel mitgemacht. Laß sie doch kommen.« Dann sah er wieder nach vorn. Die Rauchwolke wanderte. Wieder einen Meter näher. Und dahinter immer die Menschen.

Und dann, plötzlich, als habe ein Sturm sie weggeblasen, sah man die Wolke nicht mehr.

Und dann geschah das Unbegreifliche. Wie der letzte Rauch sich vom Boden gelöst hat, steht und liegt und kniet und kriecht und läuft und springt, graue lebendige Masse, der Feind. Und stürmt, Handgranaten hochgeschwungen, das Bajonett gereckt, gegen den Graben vor.

Da kläfft das Maschinengewehr neben Reisiger los. Da prasselt neben ihm Schnellfeuer aller Gewehre.

Herrgott, was geschieht! Dutzende von Franzosen werfen die Arme hoch und fallen rücklings zur Erde. Aber andere Dutzende dicht geballt drängen weiter vorwärts.

Die Feuer der Handgranaten zischen. Die Flammen der Artillerie rasen. Und: Franzosen, immer wieder neu: Franzosen: vorwärts.

Am Maschinengewehr schreit man durcheinander. Reisiger begreift kein Wort. Manchmal lachen die Schützen, der Gewehrführer zeigt ein neues Ziel, einer triumphiert: »Die Aasbande steht nicht wieder auf.«

Doch, doch, die Franzosen sind ja schon im Graben!

Reisiger sieht, wie fünf von ihnen kurz vorm Tunneleingang über die Brustwehr springen.

Einer der Deutschen da unten hebt den Arm mit entsicherter Handgranate. Reisiger sieht, wie ihm das Bajonett eines Franzosen in den Hals fährt. Die Handgranate krepiert. Beide fliegen zerfetzt in die Luft. – Um eine Brustwehr streicht ein französischer Offizier. Die aufgerissenen Augen! Der aufgerissene Mund! Da stürzt sich ein Deutscher auf ihn. Der Offizier dreht den Gewehrkolben hoch. Ehe er zuschlagen konnte, packt der Deutsche einen kurzen Spaten, haut: mit gespaltenem Kopf rollt der Franzose nach hinten.

Zwischen den Gräben tanzt das deutsche Artilleriefeuer. Aber dort ist kein Feind mehr. Dort werden nur die Toten zum zweitenmal getötet, in die Luft geschleudert, zerquetscht.

Und was ist noch im Graben?

Die Maschinengewehrbesatzung neben Reisiger läßt mit einem Geheul ihre Waffe stehen und jagt haldenabwärts. Schon hat der Unteroffizier den Hals eines Franzosen zwischen seinen Händen. Er schlägt ihn mit dem Kopf gegen die Wand und schmeißt ihn hin.

Und dann durchsucht man die Stellung. Lebende Franzosen findet man nicht mehr.

Der Angriff ist abgeschlagen. –

Als Reisiger abgelöst wurde, hörte er, daß die Kompagnie vor seinem Abschnitt wenig Verluste hat. »Nur elf Tote.«

Diese Toten hatte man jetzt in den Annäherungsgraben gelegt. Er mußte an ihnen vorüber.

Er hatte Hunger, ja. Er durfte jetzt in die Batterie gehen, sich acht Stunden lang ausruhen, ja. Es hatte sicherlich alles seine Ordnung, er lebte, er hatte sogar was erlebt, ja. Wenn er jetzt in die Stellung kommt, wird man ihn vielleicht mit einer gewissen Hochachtung begrüßen, ja.

– Er ging an den Toten vorbei und ging dann sehr langsam. Er dachte, heute abend wird in Deutschland im Heeresbericht stehen, daß ein feindlicher Angriff mit großen Verlusten für den Feind abgewiesen ist und daß unsere Verluste gering sind. Gewiß, elf Mann spielen gar keine Rolle. Wir haben ein Millionenheer. Sehr begreiflich, daß man von geringen Verlusten spricht.

Aber er hatte den ersten von diesen elf Mann angesehen. Das war ein älterer Soldat mit einem Vollbart, auf der rechten Hand einen Trauring.

Das begriff Reisiger nicht.

9

Jetzt ist es Zeit, Gesinnungsgenossen! Die große, aber furchtbare Zeit bringt auch den ärgsten Zweifler, den verstocktesten Materialisten zum Bewußtsein, daß alle schweren Opfer, die das deutsche Volk jetzt bringt, vergeblich wären, wenn mit dem Tode alles aus wäre. Drum, Gesinnungsgenossen! Seid tätig in Worten und Taten für die hohe Lehre vom Weiterleben nach dem Tode, von der Geisteslehre, für die wir seit Jahrzehnten einen friedlichen Kampf kämpfen. Der unterzeichnete Verlag stellt an Probeheften der »Psychischen Studien«, Flugblättern und Verlagsverzeichnissen jede gewünschte Menge gern zur Verfügung, ist auch bereit, die Versendung an Adressen selbst zu übernehmen. Der Boden ist überall bereitet, meist fehlt nur der Samen! (Oswald Mutze, Verlag, Leipzig-Lindenstraße 4)

10

Das Leben in der Feuerstellung lief seinen Gang. Noch öfter, meistens nachts, wurde vom Artilleriebeobachter im Graben Feuer angefordert. Aber daran gewöhnte man sich sehr schnell. Für alle Geschütze waren Entfernungen und Richtpunkte im Grabennetz an Hand von Karten festgelegt. Die Maschine hatte jetzt also, wenn man sie in Gang setzte, vorgeschriebene Touren. Jeder Kanonier wußte auf jedes Kommando, selbst im Schlaf, was er zu tun hatte. Höchst unaufregend. Man hielt dafür, daß das Schicksal es mit 1/96 besonders gut meinen müsse. Ihr Frontabschnitt war der einzige, an dem Ruhe herrschte.

Man lebte einen guten Tag. Es gab jetzt einen ständigen Batterieoffizier, einen jungen Leutnant, Steuwer, der im Haus neben dem Wachtmeister ein Zimmer bewohnte. Auch der störte die Ruhe sehr wenig.

Der Hauptmann selber ließ sich nur ganz selten sehen. – Er zeigte deutlich seine Abneigung gegen die Stellung. Sie war ihm zu langweilig. Das machte ihm keinen Spaß.

Er wohnte mit Fricke, dem zweiten Leutnant, der ihm nach Busses Tod zugeteilt war, in einem Haus nahe am Einstieg in die Infanteriestellung, gute zwanzig Minuten von der Batterie entfernt. Eine Marotte von ihm.

Er hatte das einzige Gebäude ausfindig gemacht, das noch unversehrt war, ein weißes Häuschen, niedrig und anspruchslos, zwischen lauter Ruinen. Die Front zum Feinde war durch vier Lagen aufrecht eingegrabener Bäume gesichert.

Von Fricke wußte man wenig. Er war einmal in der Batterie gewesen. Außer seiner Dicke war nichts an ihm aufgefallen. Aber es ging das Gerücht, er sei ein schneidiger Hund und passe ausgezeichnet zu Mosel. Die beiden trieben sich oft am hellen Tage zwischen den zerschossenen Häusern herum, ohne je zu beachten, daß die Straßen von Loretto her unter der Sicht des Feindes lagen.

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Die Protzen von 1/96 hatten ihr Quartier im Dorf Annay, etwa eine Stunde Fußmarsch von Lens entfernt. Die Fahrer, die abends Verpflegung und Post in die Stellung brachten, gaben begeisterte Schilderungen von ihrem neuen Wohnsitz. Es sei wie zu Hause, besser könne man nicht leben, von ihnen aus dürfe der Krieg ruhig noch seine zehn Jahre dauern. Und dann müsse man ja jeden Tag durch Lens fahren, wenn man hier herauf kommandiert sei. Und da, hah, sei allerlei gefällig!

So etwas setzte sich bei den Mannschaften in der Feuerstellung fest. Immer hartnäckiger bohrte der Wunsch: Urlaub nach Lens. Oder: Ruhe in Annay – hier ist ja doch nichts los.

Man sah zwar mit eigenen Augen, daß Lens zu Zeiten mit schwerer Artillerie bepflastert wurde. Aber das kann, wenn man Pech hat, auch hier passieren. Und ist gar kein Grund, um die Sehnsüchte zu stillen.

Eines Morgens kam Reisiger bedrückt aus dem Graben. Die Nacht war unangenehm gewesen. Die Infanterie hatte Verluste gehabt. Man hatte einige Verwundete in den Artillerieunterstand gelegt. Dort waren sie neben ihm gestorben. Er ging gequält den Weg zur Feuerstellung.

Am Haus vom Hauptmann wurde er vom Burschen gerufen. Mosel selber erschien: Wo er hinwolle? – In die Feuerstellung, abgelöst aus der Beobachtungsstelle im Graben. – Ob er Lust habe, Mosel einen Gefallen zu tun? – Zu Befehl. – Es gäbe an der Kirche in Lens ein Kaufhaus mit frischen Pfirsichen. Er solle das Rad des Burschen nehmen, dorthin fahren, ein Dutzend holen.

Lens, Lens! Überlegen gab es nicht, trotz Müdigkeit und Depressionen. Außerdem ist die Bitte um einen privaten Gefallen nichts anderes als ein Befehl.

Also aufs Fahrrad und los.

Ach, seit einem Jahr zum erstenmal in einer richtigen Stadt. Breite gepflasterte Straßen, hier eingangs gleich sehr schöne, weiße Villen, aha, hier wohnten einst die Fürsten der Kohlenbergwerke. Große Gärten, schöne Platanen. Das alles nicht gepflegt, aber noch mit viel Abglanz von Frieden. Manchmal freilich ist eine Wand herausgestoßen, in einem Dach sitzt ein gewaltiges Loch, aus dem verbrannte Rippen herausstarren. Aber man sieht nicht, was man nicht sehen will. Es ist so etwas wie Frieden hier. Ein Bummel: sehr viel Militär, Infanterie, Pioniere, Husaren. Viele Autos, meistens mit höheren Offizieren.

Und vor allem: Zivilbevölkerung.

Reisiger hat große Freude daran, mit der Glocke des Fahrrads bei jeder nur passenden Gelegenheit zu klingeln. Auch das ist ja Frieden. Genau wie zu Hause. Diese blödsinnige Frau mit ihrem Kind soll sich vom Fahrdamm wegscheren, wenn ein Radfahrer kommt. Der alte Herr könnte seinen Hund auch lieber an die Leine nehmen.

Reisiger tritt immer schneller. Es ist eine Lust, Radfahrer zu sein. Natürlich, man ist Soldat, aber auf dem Rad legt man ja nicht die rechte Hand an die Kopfbedeckung, wenn ein Vorgesetzter kommt. Sondern man nimmt nur den Kopf etwas hoch und sieht ihn an, ganz Zivil.

Sieht ihn strahlend an und glücklich, zwar Soldat, jetzt aber Radfahrer in einer Stadt mit einer sauberen breiten Straße und zwischen richtigen lebendigen Zivilisten.

Diese Zivilisten sind, dagegen gibt es nichts zu reden, Heimat. Die alte Frau mit dem Kinderwagen, in dem Brennholz liegt, gibt es in der Heimat. Die beiden Kinder, die mit einem Kreisel spielen, gibt es in der Heimat. Die Dame dort drüben mit dem eleganten Kleid, gewiß, durchaus eine Dame, gibt es in der Heimat. Das junge Mädchen neben ihr ist sicher ihre Tochter. Sie lachen beide, wenn man nicht klingelt jetzt, fährt man sie sicher an.

In großem Bogen um die Hausecke: Hauptstraße von Lens. Da liegt die Kathedrale. Und rechts und links Zivil und Militär, lachend und schwatzend durcheinander. Und viele Schaufenster! Es gibt alles in ihnen. Es gibt Käse, es gibt dort drüben, Reisiger fährt langsam, geräucherten Schinken, in einer Pyramide aufgestapelt; hier auf der einen Seite ein Schild: Feldbuchhandlung, dort ein Café, dort ein Friseurladen, das goldene Schild »Coiffeur«, durch ein rotgemaltes Plakat »Rasieren und Haarschneiden« ergänzt.

Reisiger sieht nicht ein, warum er durch diese Herrlichkeiten fahren soll. Er steigt ab und schiebt sein Rad im Rinnstein. Er geht zwischen Zivil und Militär auf dem Trottoir.

Aha, das Kino. »Soldatenkino« mit großen Buchstaben quer über das Haus geschrieben, darunter herrliche Plakate, drei Lustspiele mit Mäxchen Lindner, Eintritt für Unteroffiziere und Feldwebel 30 Pfennig, für Mannschaften 15. Spielzeit von morgens um 11 bis abends um 9 Uhr.

Reisiger platzt vor Neid: an der Kasse ist Gedränge.

Weiter: Offizierskasino, Ortskommandantur, ein Dutzend militärische Büros, eine Eisenbahnverwaltung, eine Pionierparkverwaltung, eine Zechenverwaltung. Und nun, ein besonders großes Fenster: der Obstladen.

Reisiger stellt sein Rad an die Bordschwelle und tritt ein.

Die Verkäuferin spricht deutsch, das heißt, sie müht sich, und wo sie keine Vokabeln findet, ersetzt sie das Fehlen durch stürmische Bewegungen mit den Händen oder, wenn auch das nicht hilft, durch ein helles Lachen. Absolut Frieden. Ein reizendes Mädchen. Bei der sollte man nicht nur Pfirsiche kaufen, sondern auch von den Äpfeln ein Pfund mitnehmen und vielleicht hier von den blauen Weintrauben, ach und dahinten eine oder zwei Büchsen Ananas. Und, Herrgott, Wurst gibts auch und richtige Butter.

Reisiger hat Geld. Er überlegt einen Augenblick. Oh, das Kaufen dauert seine Zeit. Jeden einzelnen Apfel befassen und beriechen.

Und dann geht er mit lauten Schritten im Lokal auf und ab, die Hände in den Hosentaschen. »Ach Fräulein, nun packen Sie noch ein Stück Butter ein, oder sagen wir zwei, und dann vielleicht ein halbes Pfund Weintrauben oder sagen wir ein Pfund. Ja, und von den Ölsardinen selbstverständlich auch eine Büchse – so, das genügt mir – ja, und nun bezahlen, payer, s’il vous plaît.«

Gezahlt, unter süßem Lächeln des süßen Mädchens, die Pfirsiche für den Hauptmann, und das eigne. Schade, daß man hier weg muß. Bon jour, mademoiselle. Er lacht und sie lacht.

Jetzt steigt er aufs Rad und tritt heftig los –

Wie er wieder um die Ecke biegen will, in die Straße, die zur Wohnung vom Hauptmann führt, kommen zwei Feldgendarmen. Einer winkt mit der Hand: absteigen. »Nicht so eilig, mein Junge, die Straße liegt unter Feuer.«

Es kracht, Reisiger sieht, daß da hinten Rauch aus einem Haus schlägt.

»Ist denn das öfter so? Ich habe überhaupt nichts gehört.«

Der eine Gendarm spuckt zur Seite: »Die haben jeden Tag ihren Koller. Dauert nie sehr lange, aber so zwanzig, dreißig Schuß pflastern sie meistens hin.«

Der andere Gendarm: »Uns kanns ja ziemlich schnuppe sein. Sie schießen eigentlich grundsätzlich nur ihre eigenen Landsleute tot.«

Der erste Gendarm geht weiter: »Nicht beschwören, Kamrad, nicht beschwören. Mich soll es ja bloß mal wundern, wenn die erst einmal ein paar Dinger da auf die Hauptstraße setzen. Wir werden den Quatsch schon noch erleben – das sage ich.«

Reisiger sieht noch einige Male einen Schuß auf die Straße schlagen. Nach einer Viertelstunde ist Ruhe.

Er steigt wieder aufs Rad, fährt los.

Ein seltsamer Irrsinn, denkt er. Ein seltsamer Irrsinn. Auf der einen Straße haut die Artillerie in Menschen und Häuser – und auf der nächsten ist Leben und Trubel wie in friedlichsten Zeiten. Zwei Zonen, die fünf Minuten auseinander liegen, Tod und Leben. Und das eine weiß nichts vom andern, oder will nichts wissen. Wahnsinn, Herrgott, Wahnsinn dieser Krieg.

Eben fährt er an einem Haus vorbei, dessen Dach glüht. Darüber kocht schwarzer Qualm. Der Schuß hat gut gelegen, ist bis zum Keller durchgebrochen. Wer im Haus gesessen hat, wird Brei sein.

Aber Zivilisten gehen daran vorbei, sehen nicht hin.

Und da spielen wieder die beiden Kinder mit dem Kreisel.

Ein seltsamer, ein grauenhafter Wahnsinn.

Reisiger bringt Mosel die Pfirsiche, dann nimmt er das Gepäck, das er vorher abgelegt hatte, und geht in die Feuerstellung.

Dort wird alle Beute geteilt.

Abends denkt Reisiger an die Verkäuferin. Ein blondes Mädchen, mit roten Lippen. Das Kleid, freilich, war nicht mehr schön, war grau und zerrissen. Aber die Bluse war weiß. Und als sie lachte, bewegten sich die Brüste. Weich.

Er bittet Aufricht um eine Zeichnung. »Für zwei Ölsardinen.« – »Für vier male ich eine nackte – du bist wohl in Lens endlich auf den Geschmack gekommen?«

Lachen. – Reisiger zahlt mit vier Ölsardinen.


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