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Viertes Kapitel

1

Es ist Nacht geworden.

Der Kampf geht weiter. – Die Truppen in den Ruhequartieren hinter der Front sind aufgescheucht. Auf allen Dorfstraßen lungern die Soldaten herum, stehen beieinander, schweigsam, dumpf. An Schlaf ist nicht zu denken.

Der Horizont mit seinen flammenden weißlichen Fächern ist ein Bann, der alles in eine sture Qual verzaubert. Hintergrund einer Bühne, auf der Gespenster agieren.

In manchen Dörfern werden die Zuschauer plötzlich zu Mitspielern. Da laufen die Posten im Trab, streifen mit heiserem Ruf die Gruppen der Neugierigen, schreien in jedes Quartier. Und dann wimmelt es wie im Ameisenhaufen.

»Fertigmachen zum Abmarsch.«

Der Ruf trifft vor allem auf die Infanterie. Er erstickt noch das leiseste Flüstern. Man flucht in sich hinein. Dann geht man stumm in den Unterschlupf, nimmt Gewehr, Patronentasche und Helm. Nach Minuten stehen die Kompagnien. Dann beginnt lautlos der Marsch.

Schweigsam die Offiziere an der Spitze der Kolonnen, schweigsam die Unteroffiziere rechts heraus, schweigsam das ganze Gros.

Es gibt keine Illusionen. Es hat keinen Sinn, gar keinen Sinn, sich auch nur die nächste Stunde oder gar den nächsten Morgen auszumalen. Von je tausend Mann, die über die Straße ziehen, muß die Hälfte wissen, daß sie am Morgen schon zerfetzt und zerschlagen ist. Aber darüber wird nicht nachgedacht. Das Kommando »Kompagnie marsch!« enthebt alle der eigenen Verantwortung.

Oben in der Ferne brennt die Höhe. Der Befehl heißt: Man muß sie löschen!

Oben in der Ferne schreien die Brüder. Der Befehl heißt: Man muß helfen.

Oben auf der Höhe ist der Feind durchgebrochen. Der Befehl heißt: Man muß ihn zurückdrängen.

Der Befehl. Das ist alles.

Stumpf und dumpf und im Halbschlaf kriechen die Kolonnen frontwärts.

Der Sinn wird erst heller, wenn andere Kolonnen ihnen entgegenkommen.

Ein Auto fährt vorüber, mit flatterndem Plan, das Rote Kreuz zu beiden Seiten. Viele Autos, zehn, zwanzig hintereinander.

Sie schieben sich sehr behutsam vorbei.

Und wenn sie verschwunden sind, liegt irgendwo, an einem der Chausseebäume, ein lebloser Körper: liegengelassen, weil es sinnlos gewesen wäre, ihn nach rückwärts mitzunehmen, und weil er anderen den Platz geraubt hätte.

Und weiter.

Jetzt, bald im Schußbereich der feindlichen Artillerie, wimmelt es von Verwundeten.

Da die Autos hierher nicht kommen, da die Ärzte hier fehlen, gilt es, sich selber zu helfen.

Einer schleicht hinter dem andern her.

Fort die Waffen, runter das Koppel, einen Knüppel als Stütze, »bloß nach Hause«, »bloß aus diesem Mist heraus«, »nach Hause«, »nach Hause«, »nach Hause!«

Und lieber auf allen Vieren kriechen als hier liegen bleiben.

Weiter die Kolonnen, zur Front!

Man ist oft in Versuchung, einen der Verwundeten etwas zu fragen. Es wäre gut, zu wissen, wie der Kampf da oben steht.

Weiter die Kolonnen. Keiner fragt; wir werden es viel zu früh erfahren.

2

Am Rande eines Dorfes nahe der Feuerzone liegt ein blühender Obstgarten. Es riecht nach Frühling.

Unter den Blüten stehen die Reste der Ersten Batterie F.A.R. 96, vier aufgeprotzte Geschütze und zwei Protzen ohne Lafetten. Es fehlen 17 Pferde, 10 Kanoniere, 6 Fahrer, 3 Unteroffiziere und 2 Offiziere.

Was noch lebt, hockt zusammen. Die Kanoniere sitzen Rücken an Rücken gelehnt. Zuweilen läßt einer den Kopf hängen und versucht zu schlafen. Alle möchten schlafen. Aber wenn dann die Feuer einschlagen, die den Garten erleuchten, und wenn die Pferde das Geschirr hochreißen, wird der Schlaf immer wieder zersprengt.

Und Hunger hat man. Doch es gibt nichts zu essen.

Vor einer Stunde hat der Hauptmann einen Unteroffizier ins Dorf geschickt, um irgendwoher Brot zu beschaffen. Aber der Unteroffizier ist bisher nicht zurückgekehrt.

Rauchen möchte man wenigstens!

Es gibt in der ganzen Batterie Eine Zigarette. Sie gehört dem Gefreiten Lechter. Als er sie hinter seiner Mütze anzündet, steht der Hauptmann neben ihm und sagt: »Geben Sie mir einen Zug.« Dabei drückt er ihm die Hand auf die Schulter, so, daß er nicht aufstehen kann. »Ich schenke Ihnen eine ganze Schachtel, sobald wir wieder Post bekommen.«

Lechter gibt dem Hauptmann die Zigarette. Mosel nimmt einen Zug. Dann reicht er sie zurück. Als zweiter zieht sich Lechter die Lunge voll. Dann macht der Stummel unter den nächsten Kameraden die Runde. Ein Unteroffizier und fünf Mann beteiligen sich. Dann ist die Freude zu Ende.

Mosel geht zum Wachtmeister Hollert. Die Nacht ist bedrückend. Man muß mit irgendeinem Menschen etwas reden. Hollert reißt sich zusammen, aber dann merkt er, er kann vor Müdigkeit kaum die Glieder rühren.

»Stehen Sie bitte bequem, Wachtmeister. Oder kommen Sie, wir setzen uns.«

Sie versuchen ein Gespräch. Sie haben das Gefühl, es müsse über den vergangenen Tag irgend etwas gesagt werden. Doch wo soll man beginnen? Es bleibt einstweilen bei sachlichen Erörterungen.

»Ich verstehe nicht, wo der Unteroffizier mit der Verpflegung steckt. Haben wir denn keine Eiserne Ration mehr, Wachtmeister?«

»Die meisten haben ja das Gepäck verloren, Herr Hauptmann.«

Mosel schreit: »Wer noch Eiserne Ration hat, kann sie verbrauchen.« – Nach einer Weile: »Glauben Sie, Wachtmeister, daß wir morgen irgendwo Post abholen können? Ich möchte den Leuten so gern eine Freude machen.«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann. Das ist nun bald acht Tage her seit der letzten Ausgabe.«

Wieder eine Weile: »Das wichtigste ist, schnell zwei neue Geschütze zu bekommen. Ich verstehe nicht, daß das Regiment dafür keinen Befehl schickt. Wachtmeister, wir müssen morgen früh gleich einen Meldereiter losjagen.«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann.«

Zwischendurch sehen Mosel und Hollert immer wieder zum Horizont. Es brennt, es brennt, und es brüllt unaufhörlich.

Endlich sagt Hollert, was er denkt: »Wir haben relativ starke Verluste.«

»Tja, Wachtmeister – so ist das.«

»Ob Herr Hauptmann gestatten, daß wir die Toten holen, wenn wir morgen noch hier sind? Das Zweite Geschütz wollte Herrn Oberleutnant auf die Protze legen. Aber es hielt gestern zu lange auf.«

»Wachtmeister – was hilft das. Laßt sie liegen. Sie haben ja doch nichts mehr davon. – Sagen Sie mal, wo ist eigentlich der Reisiger geblieben?«

»Ich habe ihn umkippen sehen, als ich Befehl zum Galopp gab für die Protzen. Wir haben ihn ja als vermißt gemeldet. Aber der ist tot. Sah ja schon halbtot aus, als er zu uns kam. – Immerhin – ohne ihn wäre die Batterie vielleicht verloren gewesen.«

»Sagen Sie mal, Wachtmeister, wie war die Auffahrt?«

»Wie man durch so etwas durchkommt, Herr Hauptmann – ich weiß es selber nicht. 14 gab es solch Feuer überhaupt nicht. Wir sind eigentlich nur durch Hagel gefahren.«

»Ja ja.«

3

Reisiger spürte einen Stich in seinem Arm. Davon wachte er auf. Es war hell. Er lag. Vor ihm standen zwei Menschen. Der eine lächelte und sagte »na also«. Dann drehte er sich von Reisiger weg zum Nachbar, einem Mann mit großem, schwarzem Schnurrbart und sagte zu dem: »Die Sache ist also harmloser als wir dachten. Geben Sie ihm am Mittag und am Abend noch je zehn Tropfen. Und morgen früh werden wir mit ihm reden.«

Dann gingen beide von Reisiger weg. Er schloß die Augen wieder.

Nach einer Weile erwachte er abermals. Er fand sich in seiner Umgebung nicht zurecht. Schließlich merkte er, daß er im Bett liegt.

Im Bett? Er hob erschrocken etwas den Kopf. Da bauscht sich eine blaukarierte Federdecke. Er warf den Körper etwas hoch und ließ ihn fallen. Ja es stimmt, er liegt im Bett. Er sah zur linken Seite. Das Bett steht an der Wand eines Zimmers. Sah zur rechten Seite. Das Zimmer ist groß und hat helle Fenster. Zwischen den Fenstern stehen noch vier Betten. Darin liegen auch Menschen.

Schließlich richtete sich Reisiger auf und setzte sich hin, trotz einem zerrenden Schmerz in der Brust. Er räusperte sich. Damit wollte er sich bemerkbar machen, weil er nicht wußte, was er sagen sollte.

Das Räuspern wirkte. Aus den Betten hoben sich vier Menschen. Sie sahen ihn an. Dann sagte der eine: »Du wunderst dich wohl, daß du lebst, Kamerad?«

Da mußte Reisiger lachen. »Wir sind hier im Lazarett?« fragte er.

»Du kannst fabelhaft raten«, grunzte es.

»Aber ich weiß ja gar nicht, was mir fehlt.«

»Aber wir wissen es genau.«

Mit medizinischer Gründlichkeit wurde ihm auseinandergesetzt, was mit ihm los ist. Er habe einen Sprengschuß vor die Brust bekommen. Der Splitter müsse abgeprallt sein, denn die Brust sei nicht zerschlagen. Statt dessen hätte sich eine Lähmung der linken Seite eingestellt. Sie wird in wenigen Tagen behoben.

Lähmung? Reisiger war erschrocken. Er versuchte, das linke Bein zu heben. Nein, es gelang nicht. Dann versuchte er, sich mit der linken Hand über die Haare zu streichen; auch das ging schief. Er konnte die Hand im Gelenk nicht heben.

»Wieso wißt ihr besser Bescheid als ich?« fragte er.

Der ihn zuerst begrüßt hatte, anscheinend der Wortführer hier im Zimmer, klärte auf: »Ich liege schon sechs Wochen in dieser Lausebude. Ich kenne den Rummel. Und wenn der kleine Arzt morgens mit dem Feldwebel seine Visite macht, kramt er immer mächtig aus. Der will uns zeigen, was er alles weiß. Dabei ist das Ergebnis immer dasselbe: ‚Feldwebel, Sie müssen mit Jod pinseln.‘ Neulich kam einer ohne Kopf, den hat er so lange mit Jod pinseln lassen, bis er wieder laufen konnte.« Er brüllte vor Lachen über seinen Witz.

Reisiger war der bayrische Dialekt aufgefallen, in dem man mit ihm sprach. Er fragte: »Ihr seid wohl Bayern, Kameraden?«

Der Wortführer stemmte seine Hände nach hinten: »Und ob wir Bayern sind! Dieses Lazarett ist unser bayrisches Eigentum, und da hat kein Aas sonst was drin zu suchen. Oder bist du etwa kein Bayer?«

Reisiger war auf die Frage nicht gefaßt. Was soll denn das hier im Krieg und unter deutschen Soldaten und im Lazarett und einigermaßen nahe an der Front? Er verstand es nicht recht. Er antwortete mit gleichgültiger Selbstverständlichkeit: »Ich bin Preuße.«

War das falsch? dachte er. Darf man so etwas nicht sagen?

Seine Antwort hatte eine merkwürdige Wirkung. Die Insassen der vier Betten schmissen sich wie auf ein Kommando in die Matratzen zurück. Reisiger existierte nicht mehr für sie. Er fragte: »Habt ihr was dagegen?« Niemand antwortete. Er versuchte es mit einer langen Erläuterung, daß er nicht verstünde, warum man etwas dagegen haben könnte, und sie seien doch schließlich alles Kameraden. Auch darauf reagierte niemand.

Endlich gab er die Bemühungen auf.

Ein preußisches Bett gegen vier bayrische – da kann man nur die Waffen strecken.

Im Zimmer erschien ein Mann im Drillichanzug. Er trug vier emaillierte Blechnäpfe, die er an die vier bayrischen Betten verteilte. »Heut gibts Bohnensuppe«, sagte er. Die Vier stürzten sich mit lautem Schlürfen hinein. Der Sanitäter wollte abgehen. Dann besann er sich und drehte sich zu Reisiger. Wo er sein Kochgeschirr habe?

Reisiger zuckte die Achseln. »Ich habe keins.« Er erklärte, wie er ohne jedes Gepäck damals von der Höhe herabgelaufen war, die Protzen zu holen. Das machte keinen Eindruck. Der Sanitäter hatte kein Verständnis dafür, daß man das Kochgeschirr vergißt. Und als der Wortführer der bayrischen Betten noch eine Bemerkung einwarf, wieso denn Saupreußen hier überhaupt durchgefüttert würden, hatte er wohl Lust, Reisiger ohne Essen zu lassen. Aber dann sah er ihn prüfend von oben bis unten an, murmelte ein paar unverständliche, im Ton nicht ganz unfreundliche Worte und ging. Und als er wiederkam, brachte er eine verrostete, schief abgeschnittene Konservenbüchse und einen am Stiel abgeknabberten Blechlöffel. »Da friß.«

Das Essen war anstrengend. Reisiger klemmte die Büchse mit dem linken Arm gegen die Brust. Das bereitete große Schmerzen.

Er fühlte sich bedrückt.

Es ist so unfreundlich, hier zu liegen, zwecklos, vom Körper verraten. Und diese widerwärtige Stimmung im Zimmer.

Am Abend war auch der Sanitäter übergelaufen. Er nahm jetzt eindeutig für die bayrischen Landsleute Partei. Das ging so weit, daß er auf die Bitten Reisigers, sich waschen zu dürfen, antwortete, die Preußen könnten so dreckig rumlaufen wie sie wollten. Den Krieg müßten doch die Bayern gewinnen, und deswegen kämen erst die bayrischen Verwundeten an die Reihe und dann die preußischen auch noch lange nicht.

In der Nacht lag Reisiger wach. Es war sehr still im Haus.

Und draußen? – Seltsam, wie weit die Geräusche der letzten Tage von hier abgerückt sind. Ganz in der Ferne ist ein Brummen in der Luft, zuweilen zittern die Fensterscheiben. Sonst große Ruhe.

Die Ruhe wirkt erdrückend. Aus ihr steht plötzlich die Erinnerung an den Kampf auf. Sie quält. Er kann keine Einzelheiten zusammenbringen, kann seine Gedanken nicht ordnen, weil überall aus der Dunkelheit Bilder kommen, so schnell, so gehetzt, so verwirrend. Er sieht Geschützrohre, deren Feuer durcheinanderschlägt. Dann spritzen Einschläge auf. Dann erscheinen Gesichter. Eins lacht mit weißen Zähnen. Wer ist denn das? Wer ist denn –? Wie war das doch? – Ja! Es war schwarz um ihn gewesen, und als es hell wurde, lag neben ihm der Unteroffizier Gellhorn mit abgerissenem Kopf. Und ein Bein lag da, das hatte einen von Hohnerts neuen Stiefeln an. Und Hohnert? Und das Geschütz hatte ein abgeschlagenes Rohr und ein zersplittertes Rad.

Reisiger bemühte sich, einzuschlafen. Er warf sich hin und her. Als es ihm nicht glückte, stieg ein Zorn in ihm auf, daß ihm die Zunge bitter schmeckte.

Das Gesicht zur Wand: Wozu dieser verfluchte Dreck!

Das Gesicht zum Fenster: Diese schöne Nacht so zu schänden!

Zur Decke gestiert: Warum – hast – Du – uns verlassen!

Und hin und her mit Anklagen und Zweifeln. Tränen in den Augen, Säure im Hals.

Bis es endlich ein wenig heller wurde.

Da wechselten die Gefühle. Mit einer weichen Hand kam das Bewußtsein: ich, Adolf Reisiger, bin im Lazarett und bin geborgen.

Aber »geborgen« war ein Wort, das neue Unruhe schaffte.

Reisiger rechnete aus, daß von seiner Batterie außer den beiden Offizieren und außer der Bedienung des Dritten Geschützes sicherlich noch mehr Leute gefallen waren. Jetzt steht also, dachte er, diese Batterie irgendwo herum. Das Dritte Geschütz fehlt, zwei Offiziere fehlen, sechs oder acht Mann fehlen, und die Batterie ist nicht mehr feuerbereit und braucht so nötig jeden Menschen! Geborgen sein heißt also, der Batterie, die in Not ist, einen Mann entziehen! –

Er faßte mit seiner rechten Hand die linke. Es war schwer, sie zu bewegen. Ist das ein Grund, um hier geborgen zu sein? Er tastete seine Brust ab. Sie schmerzte sehr. Aber auch das entschuldigt nicht!

Und dann schoß mit schnellerem Herzschlag der Entschluß in ihm hoch: ich muß sofort zu meiner Batterie.

Zuerst kämpfte ein Zweifel dagegen: Was ist schon ein Mann mehr oder weniger? Aber der Zweifel unterlag, der Wunsch wurde stärker: ich muß zu meiner Batterie!

Reisiger richtete sich auf. Wo ist meine Uniform? Er sah sich überall im Zimmer um, aber vor ihm auf einer Kiste lag nichts anderes als ein blauweiß gestreifter Krankenkittel.

Doch das entmutigte ihn nicht: Wenn ich das Gelumpe anziehe und mich heimlich aus dem Zimmer stehle, finde ich bestimmt irgendwo eine Uniform. Es braucht nicht meine zu sein, ich nehme, was ich kriege: Ich muß zu meiner Batterie!

Er schlug die Bettdecke zurück, hatte das rechte Bein schon auf der Erde. Aber wie er mit der Hand das linke nachzog und sich aufrichten wollte, knickte er zusammen und sackte zurück. Er versuchte es ein zweites Mal. Dann gab er es auf. Der Versuch hatte ihn so schwach gemacht, daß er die Beine kaum wieder unter die Decke brachte. Ich muß zu meiner Batterie! Ich muß zu meiner Batterie!

Er legte sich auf den Bauch und heulte.

4

Der Kampf von einem preußischen Bett gegen vier bayrische wurde immer aussichtsloser. Die zahlenmäßige Übermacht bekam von allen Seiten Verstärkung. Bereits vierundzwanzig Stunden nach seiner Einlieferung galt Reisiger im ganzen Haus, das aus fünfzig belegten Betten bestand, als räudiger Hund.

Nicht, daß man auf ihn schimpfte; es geschah viel Schlimmeres: man negierte ihn restlos.

Das ging bis zum Arzt, der bei der Morgenvisite nie etwas anderes sagte als: »Na unser Preuße wird ja wohl von selber gesund werden.«

Und nicht einmal Jod wurde verordnet.

Endlich kam eine Rettung.

Eines Nachmittags ging langsam die Zimmertür auf, und es trat ein sehr wohlgenährter, glattrasierter Herr ein. Er trug einen langen grauen Rock mit lila Aufschlägen und um den Hals eine silberne Kette mit einem Kruzifix: »Gott zum Gruß, liebe Kameraden.«

Reisiger sah auf: Der Divisionspfarrer. Wieder ein Bayer!

Der Pfarrer ging von Bett zu Bett. Er zog aus der Innentasche seines Rockes eine Druckschrift, die er den Verwundeten in die Hand drückte. Dazu sagte er mit Gleichmäßigkeit denselben Satz: »Nicht wahr, Kamerad, es geht schon viel besser, man muß nur Geduld haben, in ganz kurzer Zeit dürfen Sie wieder an der Front sein.«

Endlich hatte er Reisiger gesehen. Mit gemessenen Schritten kam er auf ihn los. Er setzte sich auf den Bettrand und begann ein Verhör.

»Wo seid Ihr denn geboren, mein Sohn?«

Reisiger gab seine Geburtsstadt an. »Herr Pfarrer werden den Ort nicht kennen. Er hat nur ein paar tausend Einwohner. Liegt in der Provinz Sachsen.«

Was nun? Die Insassen der bayrischen Betten richteten sich unvermittelt auf und schmunzelten. Reisiger sah es verwundert.

»Ihr seid also Sachse?« fragte der Pfarrer.

Ich muß zu meiner Batterie, schoß es Reisiger durch den Kopf. Ich komme nur zu meiner Batterie, wenn sich der Arzt um mich kümmert. Der Arzt kümmert sich nur um mich, wenn ich nicht Preuße bin. Vielleicht sind die Sachsen bessere Menschen und finden sogar bei Bayern Anklang.

Er zwang sich ein Lächeln auf das Gesicht und sagte sehr laut: »Zu Befehl, Herr Pfarrer. Ich bin Sachse.«

Der Pfarrer wurde noch milder im Ton als vorher. Er strich Reisiger mit der Hand über den Kopf. Dann zog er aus seinem Rock die Druckschrift heraus, legte sie auf die Bettdecke und sagte: »Erholen Sie sich gut; bald werden wir alle wieder vor dem Feind stehen, und seien Sie versichert, über ein kurzes haben wir den Sieg errungen.«

Er winkte mehrmals mit der Hand und verschwand.

Von da ab war zwischen den vier bayrischen und dem preußisch-sächsischen Bett eine innige Freundschaft. Der Wortführer der Bayern sprang auf, ging zu Reisiger: »Kamerad, das hättest du doch gleich sagen können. Wir Bayern und ihr Sachsen sind doch immer gut befreundet gewesen.« Er schüttelte ihm die Hand. Auch die andern begrüßten den neuentdeckten Waffenbruder.

Der Essenträger kam. Der bayrische Wortführer sagte mit kalter Selbstverständlichkeit: »Der da drüben ist ja gar kein Saupreuße.« Was zur Folge hatte, daß die schief abgerissene Konservenbüchse sogleich gegen einen weißemaillierten Napf ausgetauscht wurde.

Die Freundschaft wurde noch inniger. Die vier Bayern opferten für Reisiger im Laufe des Tages mit bayrischer Ausführlichkeit ihre Lebensgeschichte samt den Schicksalen sämtlicher Frauen und Kinder, bestachen am Abend den Sanitäter, daß er aus einer Kantine Bier holte, und soffen, bis ihnen der Mund troff, auf Reisigers Wohl.

Das Wunder bayrisch-preußisch-sächsischer Verbrüderung trieb üppigste Blüten. Erstens: Infolge des ungewohnten Biergenusses schlief Reisiger die Nacht hindurch, ohne von Gedanken gequält zu werden. Zweitens: Der Arzt kümmerte sich am nächsten Tag um ihn, indem er heiße Umschläge um Arm und Bein verordnete. Drittens: Der bayrische Wortführer setzte dem neuen Bündnis die Krone auf, nämlich: heute sei Sonnabend, Sonnabend söffen die Ärzte im Kasino, also stiegen alle Verwundeten nachts über die Mauer des Lazarettgartens und gingen zu den Damen des Ortes. Reisiger sei herzlich eingeladen, sich an diesem Ausflug zu beteiligen. Er brauche nichts dafür zu zahlen.

Reisiger lehnte die Einladung ab.

Ich muß zu meiner Batterie, und wenn ich gehen kann, muß jeder Schritt ein Schritt zu meiner Batterie sein.

Er sprach das nicht aus.

Aber auch so verstand man ihn nicht. »Du bist ein Ochse, Kamerad; wir dürfen hier im Ort doch umsonst ficken.«

5

Protest gegen das würdelose Verhalten deutscher Frauen:

Protest im Namen von Millionen deutscher Frauen wird erhoben gegen das abscheuliche Betragen deutscher Frauen (oder Weiber), welche sich an die gefangenen Feinde auf den Bahnhöfen herandrängen und ihnen Schokolade, Rosen und andere »Liebesgaben« überreicht haben. Das ist nichts Geringeres als Vaterlandsverrat. Verrat an unserem guten deutschen Ruf und Namen. Da sollten die deutschen Behörden mit der allergrößten Strenge vorgehen.

Ich habe als Mädchen von 19 Jahren den Krieg von 1864 erlebt und hatte während der Kriege von 1866 und 1870 Mann und Brüder im Felde. Schon 1870 mußten wir das abscheuliche Schauspiel von Frauen erleben, die den gefangenen Franzosen und Turkos gegenüber ihre Würde nicht zu wahren wußten. Deshalb bitten alle anständigen Frauen jetzt um rücksichtslosestes Vorgehen gegen Frauen, die ein derartiges würdeloses Gebaren zeigen.

Johanna Freifrau von Grabow
Witwe des Obersten von Grabow

(Berliner Tageblatt, 18. 8. 1914)

6

Nach zwei Tagen wurde Reisiger auf seine inständigen Bitten vom Feldunterarzt gesundgeschrieben und zur Truppe entlassen.

Niemand von den Bayern begriff, warum er sich danach drängte, so schnell wieder an die Front zu kommen. Er hatte bis heute nicht begreifen können, warum sie, die neulich mit Eleganz und Leichtigkeit über die hohe Gartenmauer geklettert waren, überhaupt noch in den Betten lagen.

Immerhin war sein Verhältnis zu ihnen so freundlich geworden, daß er sich herzlich von ihnen verabschiedete.

Er bekam seine Uniform. Auf dem Rücken war ein großer Blutfleck. Er versuchte erst, ihn auszuwaschen, aber dann ließ er es. Ihm fiel ein, daß dieses Blut von einem der Kameraden stammte, die mit ihren Körpern das Dach gebildet hatten, unter dem er leben bleiben durfte.

Er wurde in Marsch gesetzt mit dem Befehl, nach Douai zu gehen und sich dort bei der Etappenkommandantur zu melden. Der Standort seines Regiments sei unbekannt, würde dort aber ausfindig gemacht.

Warum laufen? Douai ist zwei Tagemärsche von hier entfernt. Gibt es keine Bahnverbindung?

Aber man darf nicht fragen. Alles beim Militär hat seine wohlerwogenen Gründe.

Reisiger marschierte ab.

Das Dorf lag bald hinter ihm. Es war schönes Maiwetter. Der Himmel war blau. Rechts und links der Straße stand handhoch das Korn.

Er war so glücklich wie selten vorher in seinem Leben. Er hatte sich niemals so unbelastet gefühlt.

Was kann mir geschehen? Es gibt keinerlei Sorgen. Alle Menschen müssen gut sein, denn alle Menschen sind deutsche Soldaten und Kameraden. Man kann sich hinlegen und schlafen: man weiß, man wird aufwachen wie im sichersten Zuhause, nicht bestohlen, nicht überfallen, wie es im Frieden auf Landstraßen geschah. Es gibt keine Not mit dem Essen. Denn in jedem Ort sind Kantinen, billig Verpflegung zu kaufen, oder Feldküchen, zu denen man eingeladen wird.

Für manche Strecken des Weges schlossen sich Kameraden an.

Wie unverpflichtend sind derartige Begegnungen. Man stellt sich nicht vor, macht keine Komplimente. Man redet, wie einem der Schnabel gewachsen ist, erzählt seine Gedanken, seine Wünsche. Und man trennt sich – nie wird man sich wiedersehen – immer mit dem Gefühl: wir gehören zusammen, wir sind ja Soldaten.

Ein paarmal kam Feldgendarmerie, Reiter in Prachtuniformen mit silbernen Schildchen auf der Brust. Sie suchten Drückeberger. Aber Reisiger hatte seinen Ausweis. Damit ließ sich sicher wandern.

Am ersten Abend fand er auf dem Feld eine zerfallene Holzhütte. In ihr lag etwas Stroh. Er schlief, bis die Sonne aufging.

Als sie wieder verschwand, war er in Douai.

7

Am Dienstag mittag hat nun auch der italienische Botschafter in Berlin, Bollati, der bisher von Rom aus ohne Instruktionen gelassen war, vom Auswärtigen Amt seine Pässe zu fordern die telegraphische Anweisung erhalten. Er hat diesen Auftrag sogleich ausgeführt und im Laufe des Nachmittags sind ihm die Pässe zugestellt worden. Damit sind nun auch von Italien die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abgebrochen. (Leipziger Neueste Nachrichten, 26. 5. 1915)


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