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Sechstes Kapitel

1

September 1915. Eines Morgens erscheint in der Feuerstellung der Regimentsarzt. Man wittert, daß man geimpft werden soll. Verflucht noch mal, dann gibts wieder Fieber, wenn der Karbolhengst einem seine rostigen Nadeln in die Brust gejagt hat; und außerdem lausige Muskelschmerzen.

Aber wie soll man sich drücken? Leutnant Steuwer geht mit dem Wachtmeister die Front ab und kontrolliert an Hand einer Liste, daß alle zur Stelle bleiben. Selbst die Posten müssen sich versammeln.

Mit dem Arzt kommt ein Sanitätsunteroffizier. Er hat zwei Sandsäcke bei sich, aus denen er längliche, grau lackierte Blechkästchen nimmt. Jeder bekommt ein solches Kästchen. Als die Verteilung beendigt ist, kommandiert der Leutnant »Stillgestanden« und der Oberarzt hält eine Rede.

»Leute, Ihr bekommt heute einen Schutz gegen Gas. Wir werden gleich einmal üben, wie man diesen Schutz anlegt und verwendet. Ich will euch aber erst, soweit euch das interessieren kann, erklären, um was es sich handelt. Ihr habt in den Heeresberichten gelesen, daß der Feind seit einiger Zeit schädliche Gase auf uns losläßt. Er hofft uns mit den Gaswolken zu verwirren. Ich erkläre ausdrücklich: Die sogenannten Gase sind ein läppisches Zeug, das keinem Menschen etwas tun kann. Die Augen tränen oder man bekommt Husten, wenn man in derartige Gaswolken gerät. Das ist alles. Der Feind hat auch bisher mit diesem Unsinn selbstverständlich nichts erreicht. Nur hat er uns gezwungen, daß auch wir jetzt Gas verwenden werden. Das ist nicht ganz so harmlos. Wir halten uns selbstverständlich an die Gesetze des Völkerrechts, das von den Schweinen da drüben oft genug mit Füßen getreten wird, aber wir machen ihnen die Hölle so heiß wie möglich. Darauf können sie sich verlassen.

Unser Gas wird abgeblasen, wenn der Wind zum Feind steht. Glückt das einmal nicht, schlägt der Wind um, dann legen wir in Zukunft bei solchen Gelegenheiten unsern Gasschutz an, damit wir unsere eigenen Wolken nicht in die Visage bekommen.

Unser Gasschutz besteht aus einer Mullbinde, die wir mit einer Flüssigkeit tränken. Diese Mullbinde nehmen wir vor den Mund, möglichst so, daß auch die Nasenlöcher bedeckt sind. Dann kann uns nichts geschehen. – Ich zeige euch das jetzt.«

Der Arzt öffnete eins der graulackierten Kästchen und holte eine Binde daraus hervor. Sie sah aus wie eine Kompresse, die die Studenten anlegen, wenn sie bei der Mensur verwundet sind. Ein dicker Mullbausch, an beiden Seiten eine weiße Schnur.

Er holte weiter aus dem Blechkästchen eine kleine Flasche, entkorkte sie und goß etwas von der Flüssigkeit auf den Mullbausch. »Ihr müßt die Binde so anfeuchten, daß die Flüssigkeit fast heraustrieft. Dann drückt ihr sie leicht aus und legt sie um. – Macht das gleich einmal.«

Das war etwas Neues. Die Batterie öffnete die Kästchen, befeuchtete die Binden und legte sie vorschriftsmäßig auf den Mund, so daß die Nasenlöcher bedeckt waren. Den meisten schwamm die Flüssigkeit am Kinn entlang. Sie stank gemein.

Dann sah man sich an. Sehr ulkig. Die Kanoniere, die einen Schnurrbart hatten, sahen noch am manierlichsten aus. Man konnte an Schnurrbartbinden denken. Aber die glattrasierten machten einen dämlichen Eindruck. Wie bei einem Maskenfest. Aller Augen grinsten. Schließlich lüftete man die Binde und spuckte. Pfui Deibel, die Flüssigkeit ist nicht gerade das Richtige gegen Durst.

Und nun wurde nach Kommando geübt.

»Gasschutz ab.« Es begann ein umständliches Suchen nach der mühsam geknoteten Schleife. Die Ausführung des Kommandos klappte nicht.

»Gasschutz einpacken.« Man rollte die Binde zusammen und tat sie in das Blechkästchen.

»Das muß viel schneller gehen. Also jetzt noch einmal: Gasalarm! Batterie – Gasschutz anlegen! – Jetzt nehmt ihr die Binde mit den Schnüren in beide Hände und, husch, husch, knotet sie euch wie der Blitz vor die Schnauze! – Also eins – zwei!«

Es ging besser. Der Oberstabsarzt wiederholte sein Kommando ein dutzendmal. Er schien sehr stolz auf die Macht seiner Stimme zu sein. Dann wandte er sich zu Steuwer: »Es ist notwendig, Herr Leutnant, daß die Leute mindestens zweimal wöchentlich Gasappell haben!« Er reckte sich auf, wie ein Hahn, der krähen will: »Alle herhören! Wer den Gasschutz verliert oder nicht immer bei sich hat, wird unbarmherzig eingesperrt, wenn ich ihn fasse. Abgesehen davon, daß es sehr leicht passieren kann, daß er seinen Leichtsinn mit dem Tode büßt. Und noch eins: statt der Flüssigkeit kann man die Binde auch mit Urin tränken. Also wer seine Flasche ausgegossen hat, der schifft tüchtig auf den Mull. Verstanden. – Ich danke sehr, Herr Leutnant.«

»Stillgestanden. – Tretet weg!« –

Als die Kanoniere wieder in den Quartieren waren, wurde das neue Wunder ausgiebig bestaunt und darüber diskutiert. Gas? Natürlich hatte man davon gehört. Eine große Schweinerei! Das hat noch gefehlt! Schließlich werden sie auf den Gedanken kommen, Bazillen in Flaschen zu züchten, und sie durch Flieger abwerfen lassen. Dieser Krieg ist schon eine gottverdammte Gemeinheit!

Aber als man, aus Spaß und Neugierde, den Gasschutz noch einmal umband, war das doch eigentlich nur vergnüglich und komisch. Und man erprobte, wie man sich mit Hilfe der Mullbinde so albern wie möglich ausstaffieren könne. Der eine legte sie um die Stirn, der andere auf die Nase, die meisten spielten Studenten. An jedem Geschütz gab es einige, die die Erfindung für so neu und reizvoll hielten, daß sie sich von Kameraden schnellstens photographieren ließen, um diesen herrlichen Unsinn den Lieben in der Heimat plastisch zu übermitteln.

Im übrigen: Gasangriff? Es gab bereits im Frühjahr Heeresberichte darüber, und man hatte nachher Infanteristen gesprochen, die dabei gewesen waren. Viel Lärm um nichts! Alles Unsinn! Wenn der Feind sich nichts Besseres ausdenkt, kann er ruhig zu Hause bleiben. Mit solchen Kinkerlitzchen imponiert er nicht. Eine echte Granate ist schlimmer als eine stinkende Wolke. Jetzt haben wir außerdem Gasschutz. Was kann uns passieren?

2

 

1. März 15

Großes Hauptquartier

Westlicher Kriegsschauplatz

An einer Stelle unserer Front verwendeten die Franzosen wiederum, wie schon vor einigen Monaten, Geschosse, die bei der Detonation übelriechende und erstickende Gase entwickeln; Schaden wurde dadurch nicht angerichtet.

 

16. April 15.

Großes Hauptquartier

Westlicher Kriegsschauplatz

Die Verwendung von Bomben mit erstickend wirkender Gasentwicklung . . . seitens der Franzosen nimmt zu.

 

17. April 15

Großes Hauptquartier

Westlicher Kriegsschauplatz

Gestern brachten auch die Engländer östlich Ypern Granaten und Bomben mit erstickend wirkender Gasentwicklung zur Anwendung.

 

Aus dem Großen Hauptquartier wird uns geschrieben:

In einer Veröffentlichung vom 21. d. M. beklagte sich die englische Heeresleitung darüber, daß deutscherseits »entgegen allen Gesetzen zivilisierter Kriegsführung« bei der Wiedereinnahme der Höhe 60 südöstlich von Ypern Geschosse, die beim Platzen erstickende Gase entwickeln, verwendet worden seien. Wie aus den deutschen öffentlichen Bekanntmachungen hervorgeht, gebrauchen unsere Gegner seit vielen Monaten dieses Kriegsmittel. Sie sind augenscheinlich also der Meinung, daß das, was ihnen erlaubt sei, uns nicht zugestanden werden könne. Eine solche Auffassung, die in diesem Kriege ja nicht den Reiz der Neuheit hat, begreifen wir, besonders im Hinblick darauf, daß die Entwicklung der deutschen Chemiewissenschaft es uns natürlich gestattet, viel wirksamere Mittel einzusetzen als die Feinde, können sie aber nicht teilen. Im übrigen trifft die Berufung auf die Gesetze der Kriegsführung nicht zu. Die deutschen Truppen verfeuern keine »Geschosse, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten.« (Erklärung im Haag v. 29. 7. 1899.) Und die beim Platzen der deutschen Geschosse sich entwickelnden Gase sind, obwohl sie sehr viel unangenehmer empfunden werden als die Gase der gewöhnlichen französischen, russischen und englischen Artilleriegeschosse, doch nicht so gefährlich wie diese. Auch die im Nahkampf von uns verwendeten Rauchentwickler stehen in keiner Weise mit den »Gesetzen der Kriegsführung« im Widerspruch. Sie bringen nichts weiter als die Potenzierung der Wirkung, die man durch ein angezündetes Stroh- oder Holzbündel erzielen kann. Da der erzeugte Rauch auch in dunkler Nacht deutlich wahrnehmbar ist, bleibt es jedem überlassen, sich seiner Einwirkung rechtzeitig zu entziehen. (Vossische Zeitung, 23. 4, 1915)

3

. . . die beim Platzen der deutschen Geschosse sich entwickelnden Gase sind, obwohl sie sehr viel unangenehmer empfunden werden als die Gase der gewöhnlichen Artilleriegeschosse, doch nicht so gefährlich wie diese . . .

. . . »Die Gaswolke traf einen vornehmlich von einer französischen Kolonial-Division besetzten Frontabschnitt zwischen Bixschoote und Langemark, trug Schrecken und Verwirrung in ihre Reihen und bewirkte insgesamt 15000 Gasvergiftete, davon 5000 Tote . . .« (Hauslian, Der Chemische Krieg, Mittler u. Sohn, Bln. II. Auflage Seite 12) . . . . da der erzeugte Rauch auch in dunkler Nacht deutlich wahrnehmbar ist, bleibt es jedem überlassen, sich seiner Einwirkung rechtzeitig zu entziehen . . .

. . . »bewirkte insgesamt 15000 Gasvergiftete, davon 5000 Tote . . .«

4

Man erinnere sich doch auch der skrupellosen Freude, mit der die feindliche und amerikanische Presse schon im vergangenen Herbst großartige französische Erfindungen ankündigte, die es möglich machen sollten, die Vernichtungskraft der Artilleriegeschosse durch giftige Gaswirkung zu steigern. Und man halte sich jenes berüchtigte Inserat der »Cleveland Automatic Co.« vor Augen, worin es über eine neue Granate in deutscher Übersetzung wörtlich heißt:

»Das Material ist von ganz besonderer Art, von hoher Dehnbarkeit und Festigkeit und hat die Eigenschaft, bei der Explosion der Granate in kleine Stücke zu zerspringen. Die Einstellung der Zündung dieser Granate ist ähnlich der des Schrapnells, aber sie unterscheidet sich dadurch, daß zwei explosive Säuren zur Verwendung gelangen, um die Ladung im Hohlraum des Geschosses zur Explosion zu bringen. Die Vereinigung dieser zwei Säuren ruft eine schreckliche Explosion hervor, die eine größere Wirkung hat, als irgendeine bisher gebrauchte Ausführung. Sprengstücke, die bei der Explosion mit diesen Säuren in Berührung gekommen sind, und Wunden, welche durch sie hervorgerufen werden, bedeuten einen Tod mit schrecklichem Todeskampf innerhalb vier Stunden, falls nicht unmittelbar Hilfe zur Stelle ist. Nach den Erfahrungen, die wir mit den in den Schützengräben herrschenden Bedingungen gemacht haben, ist es unmöglich, ärztliche Hilfe jemandem in dieser Zeit zuteil werden zu lassen, um den tödlichen Ausgang zu vermeiden. Es ist unerläßlich, sofort die Wunde auszubrennen, falls sie im Körper oder im Kopf sitzt, oder zur Amputation zu schreiten, wenn es sich um die Beine handelt, weil es kaum ein Gegenmittel gibt, das der Vergiftung entgegenwirkt. Hieraus läßt sich ersehen, daß diese Granate leistungsfähiger ist als das gewöhnliche Schrapnell, da die Wunden, die durch Schrapnellkugeln und Sprengstücke im Fleisch verursacht werden, nicht so gefährlich sind, solange sie keine giftigen Beimischungen haben, die eine unverzügliche ärztliche Hilfe notwendig machen.«

Hier ist ein würdiger Gegenstand für die Entrüstung der Welt. Wie anders würden die Phrasen lauten, wenn es den Franzosen oder Engländern geglückt wäre, uns mit der Herstellung wirksamer Rauchentwickler zuvorzukommen! (Vossische Zeitung, 23. 6. 1915)

5

Im Frontabschnitt Loos war von Gas nichts zu merken. Reisiger horchte jedesmal, wenn er im Graben als Artilleriebeobachter war, bei der Infanterie herum. Sie wußten von nichts. Gasflaschen hatte jedenfalls der Feind bisher sicher nicht eingegraben; das hätte man an den Veränderungen des Geländes bestimmt gesehen.

Nein, nein, alles war höchst normal. Keine verstärkte Artillerietätigkeit. Nie Veränderungen am Drahtverhau. Unsere Horchposten konnten sich nachts heranschieben, soweit sie wollten: Drüben war durchaus Frieden.

Das einzig Neue war ein schweres Geschütz, das seit Tagen feuerte, und zwar mit erheblich dickem Kaliber.

Ein Blindgänger lag in der Nähe der Offizierswohnung. Reisiger ging stets mit scheuem Respekt daran vorüber. Er war 1,78 groß, aber das Biest, das da auf der Straße lag, war gute 10 cm größer. Seinen Leibumfang kannte er nicht. Den Durchmesser dieses schwarzglänzenden unheimlichen Viehes konnte man ablesen: Auf dem Boden des Geschosses stand: 38,5 cm. Das war der Durchmesser.

Gottseidank kam jeden Abend nur ein Schuß. »Der Abendschuß« hatte ihn 1/96 getauft. Er kam Punkt 7 Uhr. Zuverlässig, auf die Sekunde genau.

Die fünf Minuten davor waren übel.

Jeden Abend dasselbe Theater. Man wußte am ganzen Tag nie genau, wie spät es war. Aber daß es fünf Minuten vor 7 war, das spürte merkwürdigerweise die ganze Batterie. Fünf Minuten vor 7 legte man beim Abendbrotessen die Uhr auf den Tisch. Man erzählte ruhig weiter. Doch die Gespräche wurden schon etwas löcheriger. Drei Minuten vor 7, zwei Minuten vor 7. Dann sagte in jedem Quartier einer: Jetzt muß der Rollwagen bald kommen. Da wurde das Messer hingelegt, die ausgestreckten Beine wurden angezogen, die Gemütlichkeit hörte plötzlich auf. Man saß militärisch. Man sprach nicht mehr. Einer trommelte auf den Tisch, einer fuhr mit der Hand über die Haare, mit dem Finger zwischen Hals und Kragen.

Dann war es 7. So sehr 7, daß man die Uhr danach stellen konnte.

Dann!

Dumpfer Abschuß. Er wurde von niemandem quittiert. Vielleicht zählte man still in sich hinein. Eins, zwei, drei . . . sechs, sieben, acht, neun –

Weiter zählte sicherlich niemand.

Durch alle Häuser ging ein Schwanken. Nicht eingebildet, nein, ein wirkliches Schwanken. Es wackelten sämtliche Wände. Es schaukelten in einem gleichmäßigen Rhythmus sämtliche Wände. Es hob sich in einem ganz gleichmäßigen Rhythmus der Fußboden. Teller, die nicht feststanden, tanzten auf dem Tisch. Löffel, die nicht festlagen, sirrten. Fensterscheiben klirrten, Türen schaukelten, manchmal sprang unvermutet eine auf.

Das alles in Sekunden.

Das Rauschen, das langsam angehoben hatte, wurde ein Poltern. So fährt ein leerer Zehnmeter-Möbelwagen im Schritt über eine enge holprige Straße. Sinnlos springen die Pferde an. Sinnlos wird aus dem holprigen Pflaster plötzlich glatter Asphalt, auf dem die Pferde den Wagen im Galopp entlangreißen.

Ein Donner, ein Brüllen!

Dann stecken die Uhrenbesitzer ihre Uhren in die Tasche. In die blassen Gesichter kommt wieder Farbe. Alle sehen sich mit einem breiten, beschämten, verlegenen, entsetzten Grinsen an. Dann kaut der Mund das Brot mit Büchsenleberwurst oder Bückling zu Ende. Und man sagt: »Ach ja, dieser Krieg« oder »Na, wann kommt endlich die Post?«

Was der Feind mit seinem Abendschuß erreichen wollte, begriff man nicht recht. Er hatte immer das gleiche Ziel, war mit Präzision festgelegt, streute nicht, legte nicht zu an Entfernung, brach nicht ab. Abend für Abend das gleiche Ziel: ein Bahndamm, der linker Hand der Feuerstellung lag, Weg von Lens nach Béthune.

Aber wozu? Die Bahn fuhr seit Monaten nicht mehr, es war unmöglich, die Strecke zu benutzen: sie verlief ja zwischen den Schützengräben.

Immer kurz vor 7 Uhr dachten die Kanoniere, daß am Ende heute gerade das schwere Geschütz auf die Feuerstellung abschwenken könnte, daß der polternde Rollwagen drei, vier Häuser hinwegfegen müßte . . . Nichts geschah. Stets fraß das Biest sich ins zerfleischte Geröll des Dammes. Und der Schaden war gleich Null.

Man konnte sich schließlich daran gewöhnen, als müsse es so sein. Ja, es gab Vorwitzige, die krochen kurz vor Sieben auf dem Bauch aus der Stellung heraus, um den Einschlag mit eigenen Augen sehen zu können. Und vor allem, um zur Stelle zu sein, wenn der Schuß nicht krepierte.

Denn ein Blindgänger ist bar Geld. Man nimmt Seitengewehr und Beil, setzt sich rittlings auf das dicke Untier, raubt ihm den Führungsring.

Er liefert gutes Material für etwa ein Dutzend Armbänder. Er ist aus feinstem rotbraunen Kupfer; Kupfer ist weich und gut zu verarbeiten. Ein Armband bringt dreißig bis vierzig Pfennige, ja, wenn man kunstfertig ist, ein Eisernes Kreuz herausmodellieren und die Jahreszahlen »1914-15« darunter einkratzen kann, so geht unter Umständen jedes Stück mit einer Mark in den Handel.

6

Regimentsbefehl

Die Batterien des Regiments haben in den Kämpfen der letzten Wochen ihre Pflicht erfüllt. Besonders 2, 3 und 6 F.A.R. 96, die Tag und Nacht im schweren Feuer des Feindes standen, haben sich ausgezeichnet geschlagen. Ich habe das nicht anders erwartet. Ich befehle: In Anerkennung der Leistungen beziehen die Kanoniere abwechselnd auf je drei Tage Ruhequartier bei den Protzen. Es dürfen aus jeder Batterie bis zu sechs Mann gleichzeitig in Ruhe kommandiert werden. Die Feuerbereitschaft bleibt selbstverständlich unter allen Umständen gesichert. Die Mannschaften in Ruhe sind von jedem Dienst zu befreien.

von Throtha
für die Richtigkeit: Linnemann
Oberltn. u. Adj.

Dieser Regimentsbefehl wurde 1/96 mit dem Zusatz des Hauptmanns Mosel bekanntgegeben: »1/96 löst zuerst die Kanoniere Rabs und Reisiger durch zwei andere Fernsprecher (Grabenbeobachter) ab. Die beiden Abgelösten beziehen sofort Ruhequartier bei den Protzen. Meldung dort heute Mittag 2 Uhr. Unterkunft und Verpflegung regelt Wachtmeister Hollert.«

Rabs und Reisiger marschierten beglückt nach Annay. Hollert war leutselig. »Ein Schloßzimmer kann ich euch nicht geben, aber über der Schreibstube ist eine Bodenkammer, machts euch da gemütlich.«

Sie gingen eine enge, quarrende Treppe hinauf. Da war ein Bodenraum, verdreckt und staubig, vollgestopft mit Gerümpel. Es sah finster aus. Aber in einer Ecke stand ein Kanonenofen, auf dem man kochen konnte, und das war schon eine Freude.

Eine kleine Tür führte in die Kammer. Sie hatte schräge Wände, aber ein helles Fenster; und zwei Betten, zwei Betten aus braunem Mahagoniholz standen an der einen Seite des Raumes.

Reisiger quiekte vor Wonne, Rabs pfiff schrille Signale. Bodenkammer? »Mensch, Reisiger, wie bei Adlons. Fehlt bloß noch, daß der alte Herr Adlon persönlich die Nachttöpfe schwenkt.«

Sie warfen sich auf die Betten, daß die Sprungfedern jaulten.

Was tun?

Verpflegung, hatte Hollert gesagt, gibts im Quartier der Fahrer, die zum Ersten Geschütz gehören. Trotzdem: Reisiger wollte kochen. »Ich mache ein Diner, Rabs, daß du dich hinlegst. Stell dir vor, Pellkartoffeln, richtig sauber gewaschen, in richtig sauberem Wasser gekocht. Und dazu vielleicht gebratenen Käse oder Kompott, oder überhaupt Bratkartoffeln – was? Wir gehen jetzt ins Dorf, und wo eine Kantine zu finden ist, da wird eingekauft.«

Rabs war mehr für waschen. »Du kannst meinetwegen den Ofen die ganze Nacht hindurch für deine Bratpfannen benutzen, aber jetzt wird erst heißes Wasser gemacht. Ich kann mich überhaupt nicht mehr besinnen, vor wieviel Monaten ich das letztemal gebadet habe.«

Baden? Auch gut. Aber womit und worin? Erst einmal das Haus durchsuchen!

Sie zogen ihre Stiefel aus und schlichen sich auf Strümpfen die Treppe herunter. Im Flur hing ein Schild »Schreibstube 1/96, Anklopfen!«

Um Gotteswillen nicht da hinein. Also auf den Hof. – Aha, da neben dem Brunnen stand ein verwittertes Regenfaß. Droht Gefahr? Nein. Also! Die Tonne wurde umgekippt, braune Brühe plätscherte über den Sand. Die Badewanne ist gefunden.

Aber worin nun Wasser kochen? – Es gab nur eine Möglichkeit. Da hinten war der Stall für den Gaul des Wachtmeisters. Rabs sah hinein. Der Gaul guckte sich interessiert um. »Du entschuldigst wohl, daß wir einen Augenblick deinen Eimer entleihen«, sagte Rabs und grinste das Pferd an.

Dann trabte er mit dem Eimer ab.

Nachher badeten sie. Während der eine nackend in die halbvolle, leider etwas leckende Tonne kroch, mußte der andere ihn mit dem Eimer begießen und dann mit zusammengedrehtem Stroh auf dem zitternden Körper seines Opfers herumwüten.

Die Rollen wurden vertauscht. Das Resultat war verblüffend! Das Wasser hatte eine tief kaffeebraune Farbe angenommen. Rabs und Reisiger hingegen sahen zart und weiß aus wie junge Mädchen.

Aber was nun? Sie standen zähneklappernd, tropfend nebeneinander. Die kleinen Handtücher, die sie im Sandsack hatten, waren auf so ausführliche Körperpflege nicht berechnet.

»Am besten ist es, ich knöpf die Gardine ab und wir wickeln uns darin ein«, sagte Reisiger.

»Damit uns der Wachtmeister morgen früh die Wohnung kündigt«, erwiderte Rabs.

»Die einfachste Lösung ist natürlich –«

»Wir gehen ins Bett! Warum sollen wir nicht ins Bett gehen? Es gibt bestimmt feine Leute, also zum Beispiel in Deutschland, die bestimmt, wenn sie im Hotel wohnen, gegen drei Uhr nachmittags ins Bett gehen, wenn ihnen so ist.«

Rabs malte das noch weiter aus: »Die werden ins Bett gehen, eine dicke Zigarre im Mund, oder sie lassen sich vom Kellner noch Bier und warme Würstchen bringen.« Er klatschte Reisiger mit seiner Riesenpranke heftig zwischen die Schulterblätter und fuhr fort: »Wetten, mein Lieber, wir werden hier wie die Bankiers leben, und du wirst sehen, morgen nachmittag besorge ich persönlich Bier und Würstchen. Das wäre ja gelacht!«

Wiehernd sprangen sie in ihre Betten. Donnerwetter, weich und mit Keilkissen. Sie wickelten sich in ihre Decken. Nach wenigen Minuten waren sie trocken und leidlich warm und konnten ihre Hemden wieder anziehen. Reisiger zauberte aus seiner Mütze etwas zum Rauchen, und dann lagen sie stundenlang, nahmen die Zigarre nicht mehr aus dem Mund, ließen die Asche ruhig fallen und unterhielten sich träge und beinahe gelähmt von Wohlbefinden.

»Das wichtigste ist«, sagte Reisiger, »daß wir für die drei Tage ein festgelegtes Programm haben. Ich bin dafür, morgens bis 10 Uhr schlafen, dann spazierengehen, dann schlafen, dann spazierengehen, dann schlafen. Und dazwischen immer futtern.«

Rabs pustete ihm eine Rauchwolke entgegen: »Frage ist, ob wir wirklich von Dienst befreit sind. Man weiß ja nicht, wie sich der Wachtmeister das vorstellt. Appell wird doch sein.«

Reisiger nickte. »Appell muß sein, damit wir die Post kriegen. Aber mehr wird nicht passieren. Hier können die Fahrer arbeiten. Das richtige wäre überhaupt, wenn jeder Kanonier, sobald er in Ruhe kommt, einen Fahrer als Burschen kriegt. Ich habe jetzt schon Angst vorm Stiefelputzen.«

Pause.

Nach einer Weile blies Rabs Rauch durch seine Nasenlöcher und sagte: »Hm.«

Er wunderte sich, daß Reisiger darauf nicht antwortete.

Dann dachte er: auf »hm« ist ja nun auch schwer zu antworten. Aber er war jetzt zu müde, um noch einen langen Satz zu sprechen. Endlich entschloß er sich: »Jawohl, mein Sohn, einen Burschen müßte man haben.«

Reisiger schwieg immer noch. Rabs ärgerte sich. Blöder Hund, der pennt. Er schrie: »An die Geschütze!«

Im nächsten Augenblick warf Reisiger die Bettdecke hoch und stand im Hemd hilflos im Zimmer.

Rabs brüllte vor Vergnügen. »Du bist der größte Idiot dieses Jahrhunderts«, wieherte er. »Kanonier Reisiger markiert eine feuerbereite Batterie. – Mensch, laß dich nicht wegschnappen. – Du kannst doch hier nicht schlafen, wenn ich mit dir rede.«

Reisiger blinzelte gegen das helle Licht des Fensters. Er nuckelte am kalten Stummel seiner Zigarre, die immer noch zwischen seinen Lippen saß, und brummte »Alter Affe«. Dann rollte er sich mit einem lauten Krach wieder zusammen und schlief weiter. Rabs ließ sich von seinem Schnarchen schnellstens anstecken und schnarchte auch.

Als sie durch den Ruf »Appell« geweckt wurden, war es leider schon fast dunkel. Sie zogen sich ärgerlich an: die ersten Stunden der Ruhezeit hätte man nicht restlos verschlafen sollen.

Trost war die Post. Und Trost waren vor allem die Fahrer ihrer Protze, die sichtlich über den Besuch erfreut waren. Der Appell war kaum zu Ende, als sie beide von den Kameraden die Dorfstraße entlang gedrückt wurden, sie sollten erzählen, was es Neues an der Front gäbe. Außerdem habe die Infanterie-Kantine ausgezeichnetes Bier. »Reisiger, du bist doch Kriegsfreiwilliger, wie wär es mit einer Lage?«

Es war nicht möglich, sich zu drücken. Aus einer Lage wurden mehrere. Rabs und Reisiger waren froh, als sie endlich entwischen konnten. Sie stolperten ins Bett, rauchten ihre letzte Zigarette, lasen noch einmal die Post. Reisiger hatte sogar einige Zeitungen. Sie waren Monate alt. Aber zum Vorlesen waren sie durchaus genügend. Er hatte besondere Sympathien für Inserate. »Du, Rabs, weißt du, daß wir wieder mal gründlich gesiegt haben? Hör zu, hier, Berliner Tageblatt, Weltspiegel, 1. 11. 14:«

Deutscher Sieg

auf dem Gebiet der Frauenkultur ist unaufhaltsam. Die Abkehr von allem Fremdländischen bringt ihn als natürliche Folgeerscheinung, und es tritt die glückverkündende Tatsache ein, daß dem verderblichen Wirken der französischen Korsettmoden, welche fast alle deutschen Frauen zu Kranken gemacht hatten, ein Ziel gesetzt ist. Das einzige deutsche Erzeugnis, welches ohne Anlehnung an französische Modelle einzig und allein die Entwicklung wirklicher Schönheit ohne Schädigung der Gesundheit erreicht, ist der längst bekannte ges. gesch. Thalysia-Edelformer. Er wird nicht geschnürt, hindert nicht den Atem, die Bewegungsfreiheit, wird nicht lästig und ist auch nicht so sündhaft teuer wie die Pariser Korsetts. Er ist aber auch andererseits nicht so schamlos, wie diese, sondern er wandelt ins Zarte und Deutsch-Sinnige selbst eine zu üppig gediehene Form. Der Thalysia-Edelformer ist mit anderen Worten ein echt deutsches, hygienisches Wunderwerk . . .

Thalysia Paul Grams, Leipzig

Rabs wieherte vor Vergnügen. »Mensch, Mensch, ich verstehe ja nichts von Zeitungen, aber das ist allerhand. Da müßte man hingehen und zwischenfahren.«

Reisiger hatte seine gute Laune verloren. »Zum Kotzen ist das. Aber so machens die Heimkrieger. Und glaubst du, das ist nur in Deutschland so? Ach nein, in allen Ländern dieses Gemisch von Patriotismus und Geschäft. Willst du noch mehr hören? Hier, das ist auch ganz schön, auch eine Berliner Zeitung, September 14, damit du weißt, wie du dich in Zukunft waschen kannst:«

Wasche dich ohne Wasser und ohne Seife mit Kiri

Unentbehrliche und schönste Liebesgabe für unsere Krieger im Felde. Ein wenig » Kiri« nimmt von Gesicht und Händen selbst den ärgsten Schmutz in einer Minute und unsere Krieger fühlen sich nach der Benutzung sauber, erfrischt und wie neugeboren!

»Hör auf«, brummte Rabs. »Denen sollte man so viel Kiri ins Maul schmieren, daß sie das Waschen vergessen. Mensch, Mensch, und deshalb liegen wir hier im Dreck. Na, dann gute Nacht, ich hau ab.«

7

Reisiger träumt:

»Wir kommen jetzt zu Nordfrankreich. Meier, häng die Karte auf!« Der Sekundaner Willi Meier eilt an das Katheder und läßt am Kartenständer eine große Spezialkarte von Frankreich herunter.

Oberlehrer Wittig ergreift den langen Bambusstock, fuchtelt damit in der Luft herum und stößt schließlich auf verschiedene Punkte der Karte. Dann umreißt er mit dem Ende des Stockes ein bestimmtes Gebiet.

»Reisiger, du spielst wieder. Aufstehen! Wie heißt dieses Gebiet.«

Reisiger springt von der Bank hoch. Er hört gerade noch, daß sein Nachbar ihm was zuflüstert, schreit »Pas de Calais«.

Der Oberlehrer schlägt ihm mit dem Zeigestock leicht auf die Schulter. »Richtig. Setzen. Département Pas de Calais. – Städte: Lille, Béthune, Lens, Douai, Arras. – Wiederholen, Krüger.«

»Département Pas de Calais – Lille, Béthune, Lens, Douai, Arras.«

Oberlehrer Wittig schlägt zwischen die Bänke: »Das muß viel schneller gehen, das sind Namen, die euch überhaupt in Fleisch und Blut übergehen müssen. Und wer kennt die Orte, die ich jetzt zeige?«

Reisiger sieht, daß Wittig den Zeigestock wie eine Lanze unter den Arm geklemmt hat. Mit der Spitze dieser Lanze reitet er in seltsamen Sprüngen immer wieder auf die Karte los. Und jedesmal, wenn die Spitze an einem bestimmten schwarzen Pünktchen die Karte durchstoßen hat, brüllt er mit wütender Stimme einen Namen. – Stoß: »Souchéz!« – Stoß: »Givenchy« – Stoß: »Carency« – Stoß: »Ablain« – Stoß: »Grenay« – Stoß: »Loos.«

Die Klasse fängt fürchterlich zu lachen an. Auch Reisiger wird von diesem Lachen geschüttelt. Die Bocksprünge des Oberlehrers werden immer komischer, die Stimme gellt immer wütender, das Gesicht ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

Schließlich kann Reisiger sein Lachen nicht mehr verbergen. Aus seinem Mund kommen einige schrille Töne.

Das hat Wittig gehört. Er dreht sich blitzschnell auf einem Absatz um, reißt die Lanze aus der Karte, schwingt sie hoch und faucht Reisiger an: »Du lachst, mein Sohn, du wagst zu lachen, mein Sohn? Ich will dir diese Namen schon einbläuen. Ich will dir diese Namen schon so beibringen, daß du sie dein ganzes Leben lang nicht mehr vergißt. Das wäre ja noch schöner!«

Reisiger gerät in Schweiß. Er möchte seinen Nachbar beiseite schieben, weil Wittig jetzt im Klassengang entlangrast, gerade auf ihn zu.

Er flieht. Noch ein paar Schritt, dann wird er die Türklinke erreichen. Aber da schreit Wittig irgend etwas. Das Klassenzimmer wird dunkel, so dunkel, daß man nichts im Raum erkennen kann. Und schon ist Wittig neben ihm und krallt ihm die Hand ins Genick und schiebt ihn gegen das Katheder.

Die Landkarte wird schneeweiß erleuchtet und in der blendenden Fläche tauchen rote Lichter auf, rote Blasen, die plötzlich aufspringen und eine spitze, gelbliche Flamme herausschießen. Und jedesmal, wenn eine Flamme hochsticht, drückt der Oberlehrer seine Finger in Reisigers Hals und sagt einen Namen.

Flamme: »Souchéz!« – Flamme: »Givenchy!« – Flamme: »Carency!« – Flamme: »Ablain!« – Flamme: »Grenay!« – Flamme: »Loos!« –

Die Hand an Reisigers Hals schließt sich immer enger. Der Oberlehrer ist mit dem Mund dicht an seinem Ohr. »Wirst du das endlich lernen?« zischt er.

»Zu Befehl, Herr Hauptmann!« Reisiger schlägt mit dem Genick nach hinten, weil er weiß, daß man vor einem Vorgesetzten stramm stehen muß. Dann ruft er noch einmal ganz laut: »Zu Befehl, Herr Hauptmann.«

. . . Reisiger sitzt im Bett. Seine Finger zittern durch seine Haare. Er sieht sich im Zimmer um. Gott sei Dank: Ich bin ja im Krieg; Da drüben liegt der gute Rabs.

Er flüstert leise seinen Namen.

Rabs wälzt sich im Stroh: »Mensch, nun halt doch endlich deine Schnauze. Du quatschst schon die ganze Nacht.«

Reisiger legt sich mit einem Lächeln auf die Seite.

8

»Wir müssen richtig Rentier spielen«, sagt Rabs am nächsten Morgen beim Rasieren, »richtig genießen und vor allen Dingen nichts übereilen. Uns kann ja keiner. Wir sehen uns das Dorf an, und zum Mittag sind wir ja bei den Fahrern eingeladen. Es gibt Büchsenfleisch auf Ungarisch Gulasch. Mein Lieber, der Holle kann kochen, der ist doch Hotelbesitzer oder so was.«

– Spaziergang. Nett das Dorf, sauber, mit gepflegten Straßen, mit weißen kleinen Häusern, Blumenkästen vor den Fenstern. Darauf die unvermeidlichen Geranien, die auch jetzt im September noch blühen.

Gegen Mittag ist an der Kirche Platzmusik. Die Blechpuster des Infanterieregiments haben sich im Kreis aufgestellt, ein Musikmeister steht in der Mitte, es gibt ein richtiges Konzert. Erst Opern, dann Schlager. – Es wimmelt von Militär. Alle haben die Hände in den Hosentaschen, manche sitzen auf den Stufen der Kirche.

Wenn ein Stück ihnen besonders gefällt – wie die Ouvertüre zu »Lohengrin« und der Walzer aus dem »Lieben Augustin« – wird geklatscht.

Offiziere kommen vorüber. Meistens in Friedenslitewka, zum Teil in hohen Lackstiefeln.

Man beachtet sie kaum.

Reisiger und Rabs haben sich untergefaßt und schlendern durch das Gewühl. Reisiger erzählt Jugenderinnerungen. »Kennst du Potsdam?« – Rabs schüttelt den Kopf: »Kennen kenn ichs schon, aber ich bin nie dagewesen.« Reisiger zeigt mit der Hand über die Musik: »Das war in Potsdam im Frieden jeden Tag. Wir waren damals Schüler. Kannst dir denken, wie wir darauf warteten, bis endlich so gegen 1 Uhr die letzte Schulstunde aus war. Dann aufs Fahrrad und Galopp. Und weißt du, was der Hauptzweck war?« Er schlug Rabs vergnügt auf die Schulter: »Na natürlich die kleinen Mädchen. Die kamen doch auch zu gleicher Zeit mit uns aus der Penne. Und dann traf man sich und bummelte.«

Rabs sah sich um. Nach einer Weile sagte er: »Du, Adolf, hier sind so viele alte Frauen, es muß doch auch junge geben. Siehst du welche?«

Nein, Reisiger sah keine. In den Türen der Häuser hockten alte Mütter. – Wo Mütter sind, dachte er, müssen eigentlich auch Kinder sein. Die Söhne – das ist ja klar, die sind natürlich drüben an der Front. Aber die Töchter?

Sie beschlossen, beim Essen die Fahrer über das Problem zu interviewen.

Die drei Fahrer ihres Geschützes hatten eine besonders nette Wohnung. Als Reisiger und Rabs eintraten, saßen die Gastgeber bereits am Tisch.

Begrüßung. Grinsende Gesichter.

Reisiger hatte großen Hunger. Er wartete darauf, daß nun einer der drei endlich das Essen holte.

Er zählte die Teller. – Sieben. – Nanu?

Da erschien mit einem freundlichen verlegenen Lächeln aus der Nebenstube eine Frau. Sie trug eine weiße Suppenterrine, nickte den Gästen ein freundliches »bon jour« zu und stellte das Essen auf den Tisch.

Holle, der angebliche Hotelbesitzer, steckte seine Nase tief in den Topf. Dann sagte er: »Madame, Kartoffeln, pomme de terre.«

Die alte Frau nickte heftig mit dem Kopf: »Oui, oui, camérad, Cartoffln.« Dabei lachte sie Reisiger an und sagte: »Bon deutsch ich, n’est ce pas?«

Reisiger verbeugte sich: »Très bon, très bien, genau weiß ichs selber nicht, wie es heißt, Madame.«

Rabs lachte: »Kinder, ihr lebt hier wie Scheiße im Blumentopf. So ein Muttchen müßten wir oben auch haben. Kocht die alles für euch?«

Holle spitzte den Mund: »Abwarten, das Beste kommt ja noch.« Dabei schrie er der alten Frau, die eiligst wieder abtrabte, nach: »Madame, und dann soll Marie kommen. – Meine Braut, n’est ce pas?«

Madame drehte sich grinsend in der Tür um: »Non, non, monsieur, nix Braut, seulement mademoiselle Marie, compris?«

Ein Mädchen kam.

Sie hatte eine Schüssel mit Kartoffeln in den Händen. Sie war unbefangen, trat an den Tisch und nickte leicht zu den beiden Kanonieren.

Holle räusperte sich: »Mademoiselle Marie, das ist monsieur Rabs und der Kleine hier heißt Reisiger.«

Alle lachten laut. Das Mädchen ließ sich dadurch nicht beirren. Sie nahm einen Schöpflöffel und füllte die Teller für die fünf Soldaten, für sich und für ihre Mutter.

Dann aßen sie.

Reisiger sah Marie an. Sie hatte schwarze krause Haare, einen Scheitel in der Mitte, ein kleines Gesicht mit dunklen Augen und roten Backen. Die Kleidung war ärmlich, aber rührend gepflegt.

Reisiger überlegte: seit bald anderthalb Jahren leben diese Menschen abgeschnitten von ihrer Heimat, und ohne Möglichkeiten, für mehr zu sorgen, als für die tägliche Nahrung. Arme Leute.

Er war beim Essen nicht sehr gesprächig. Um so mehr unterhielt Rabs die Fahrer.

Holle griff manchmal über den Tisch und versuchte, mit einem Scherzwort, Maries Hand zu streicheln. Reisiger sah, wie dann die Augen der Mutter unruhig hin und her gingen. Marie zog die Hand stets zurück und lächelte. Sie sagte kein Wort.

Nach dem Essen brachte die Frau eine große Kanne mit Kaffee, und Marie stellte Tassen hin. Die Soldaten rauchten und plauderten.

Reisiger konnte nicht reden. Er fühlte sich unsicher, wollte gehen. – Darüber war Rabs ärgerlich. »Hier ist es doch wie bei Muttern, bleib doch.« Er sah Holle an: »Oder wollen wir uns abends wieder treffen?«

»Wenn ihr Lust habt, können wir kahnfahren. Hinter dem Dorf ist ja der Kanal. Na, Reisiger?«

»Gern.«

Holle lachte Marie an: »Nicht wahr, ist bon, mademoiselle, parti Kahn?«

Marie stand auf und ging aus dem Zimmer. »Nix promenade Kahn.«

9

Die Kahnfahrt kam zustande. Nicht weit hinter dem Dorf floß der Kanal. Ein schöner Fluß, zart eingebettet in das flämische Grau einer sanften traurigen Landschaft.

Die drei Fahrer, Rabs und Reisiger trafen sich am Abend an der Eisenbahnbrücke, die am Dorfausgang ihren zerbrochenen Bogen über das Wasser spannte. Am Ufer lagen zwei alte Kähne.

Holle ergriff mit Wichtigkeit das Wort. Natürlich können nicht alle sechs in ein Boot. Er schlüge diese Verteilung vor: zwei Fahrer und Rabs ins eine, er mit Reisiger ins zweite. Und dann wolle man losgondeln, bis Lens. Dort sei nahe beim Soldatenfriedhof eine kleine Kneipe mit echtem Cognac. »Also Treffpunkt«, rief er und nahm Reisiger behutsam zur Seite: »Café Imperial Lens. Fahrt ab, ich stoße gleich nach euch vom Ufer.«

Man stieg widerspruchslos so in die Boote, wie er es eingeteilt hatte.

Die ersten fuhren ab, verschwanden.

Reisiger blieb mit Holle allein. Holle zögerte. Er strich mit den Rudern kaum hörbar übers Wasser.

Wie ruhig war das alles. Leiser Wind, am Himmel ein schmaler Mond, noch nicht hoch, mit schwachem Licht. Reisiger sah beglückt zu der silbernen Sichel.

Er erschrak; Holle flüsterte: »So – die sind parti. Ich muß doch meine Marie mitnehmen, verstehst du, Kamrad. Paß auf, da an der Ecke wartet sie.«

Seine Marie? Reisiger sagte nichts. Seine Marie? – Ach so, das Mädchen aus dem Quartier.

Er hatte ein heißes Gefühl im Hals: Ich soll also mit dem Mädchen kahnfahren?

Er hörte wieder Holles Stimme. Sie war auffallend sanft, ein wenig heiser. »Du brauchst ja nicht gleich darüber zu reden, Adolf. Sieh mal, Kamrad, ich bin vierunddreißig Jahre alt. Ja, und zu Hause, na ja, da habe ich so nie das Richtige gefunden. Na ja, und wie das Leben so ist, und das ist denn die Marie geworden. Denk nicht wegen coucher und so. Kamrad, das ist ja gar nicht so wichtig. Aber ich habe sie richtig gern. Dir kann ich das ja sagen, gern habe ich sie.«

Leise Ruderschläge. – Reisiger möchte etwas sagen. Er weiß nicht, was.

Holle streicht wieder das Wasser. Dann beginnt er neu: »Ach so, du meinst am Ende wegen Franzmann . . ? Ach, Adolf, Mädchen kann man ja doch nicht einteilen in Franzosen und Deutsche. Wenn man sie so richtig gern hat, ist das absolut piepe, nicht wahr?«

Ein ganz leiser Pfiff ist zu hören. »Da ist Marie.«

Der Kahn dreht.

Reisiger sieht sie. Sie steht schüchtern an einem Baum. Wie sie merkt, daß der Kahn ans Ufer stößt, richtet sie sich auf: »Pierre?« Peter Holles Stimme ist noch sanfter geworden: »Marie.«

Reisiger drückt sich eng gegen seinen Sitz.

Der Kahn schwankt. Leichte Tritte: »Oh mon Pierre – cher Pierre.«

Marie wirft sich willenlos in Holles geöffnete Arme. Er zieht sie sanft gegen sich.

Reisiger spürt, daß sie sich küssen.

Der Kahn treibt mitten auf dem Wasser.

Flüstern: – »mon Pierre« – »ach du, Marie – – –«

Da nimmt Reisiger die Ruder. Er setzt sie tief ein. Das Boot fliegt mit einem Ruck an.

»Na, nun sag doch meinem Kameraden erst Guten Abend, bon soir, Marie«, hört Reisiger.

Der Kahn schwankt.

Reisiger spürt eine weiche Hand, die von seinem Arm abgleitet. Finger tasten. Er nimmt die Hand und drückt sie: »Bon soir.«

Holle sagt vor: »Guten Abend.«

»Gu-tennabt«, wiederholt Marie. Dann greift ihre Hand unvermutet in Reisigers Haar. Sie wühlt darin: »Oh – gutt Aar, serr weisch.«

Holle lacht: »Paß auf, Adolf, die verliebt sich in dich.«

Reisiger faßt die Hand an seiner Stirn. »Aber Mademoiselle –« stammelt er unsicher.

Er will die Hand abnehmen. Da greift sie ihn, führt ihn fest. Macht halt. – Reisiger spürt: das sind die Brüste. Er zittert. Die fremde Hand bleibt an seinem Gelenk. Und er muß, muß die Finger schließen.

Holle ungeduldig: »Na, Marie, viens ici.«

Reisiger spürt: das ist die warme Brust.

Die Hand streichelt sein Gelenk. Das Mädchen drückt sich fest gegen seinen Körper.

Holle: »Marie!!«

Marie: »Un moment, monsieur.« Die kleine Stimme sagt das mit Nachdruck.

Reisiger fühlt sich überschüttet mit Glück.

Trotzdem: er will Holle nicht verstimmen. »Gehen Sie doch«, sagt er bettelnd.

Da fällt Marie auf ihn herab, schwer. Ihr Mund streift auf sein Ohr, streift seine Backe, preßt sich auf seinen Mund. Saugt sich fest.

Er merkt, daß er sich nicht erheben kann, nicht wehren will. Er setzt seine Zähne in die Lippen des Mädchens. Körper brennt gegen Körper.

Der Kahn schwankt.

Reisiger kommt zu Bewußtsein.

»Na, nun geh doch endlich zu deinem Peter«, sagt er hart und schiebt Marie von sich weg zu Holle hin.

Er nimmt gleichzeitig die Ruder und zieht an –

Holle hat nichts begriffen: »Na, Marie, traurig«, sagt er. »Ja ja, der Krieg . . .«

Reisiger rudert kräftiger.

Stimme des Mädchens, fast wie ein Weinen: »Olala, c’est la guerre. Grande malheur pour nous et pour vous et pour tout le monde.«

Holle gibt die Unterhaltung auf. Er nimmt eine Mundharmonika aus der Tasche und spielt.

Marie hat eine Hand ins Wasser fallen lassen und schleift sie nach, daß die Wellen ihr bis zum Ellbogen schlagen.

»Wollen wir noch nach Lens?« fragt Reisiger.

Holle gähnt: »Ach, laß man heute. Wir steigen aus. Marie muß auch nach Haus, sonst plärrt die Alte.«

Sie landen. Marie huscht ab: »Adieu, Pierre, au revoir, au revoir, monsieur.«

Dann kommt das andere Boot. Lens läge unter dickem Feuer, sie hätten die Nase voll.

Alle gehen zurück ins Dorf.

Reisiger taumelt. Daß eine einzige Begegnung mich so sehr aus dem Gleichgewicht bringen kann, denkt er. Ein Mädchen, ein Mädchen – so sehr mich aus dem Gleichgewicht – ein Mädchen, mich geküßt – Marie, ich muß doch gleich – ich müßte doch heute nacht – Himmel, was ist denn, was ist denn Krieg, was soll denn Krieg, wo ein Mädchen mich geküßt hat, ein Mädchen – ich geküßt habe . . . Ich möchte einmal ein Mädchen – einmal – und dabei ist Krieg und dabei brennt da vorn die ganze Hölle –Wenn das doch bloß nicht uns gilt, denn jetzt sterben –

– Und dann lagen Rabs und Reisiger im Chausseegraben vor dem ersten Haus von Annay und sahen sich den zuckenden Himmel an.

Unmöglich zu sprechen. Beide dachten das gleiche, dieses: bloß nicht uns! Sie sprachen es nicht aus. Sie merkten kaum, daß sich allmählich viele Dorfbewohner hier gesammelt hatten.

Flüsternde Stimmen. Jetzt schlug das Feuer direkt in Lens ein. Man sah zuweilen, daß sich schwarze Giebel scharf gegen den Himmel abzeichneten. Einmal schien es, als ob die Kathedrale brenne. Da: der Turm, das Dach, mit Funken übersät. Und eine Flamme, die bis in die Wolken greift.

Dann kläfften Maschinengewehre. »Da vorn werden Erbsen gekocht«, sagte eine Stimme.

Reisiger horchte. Einen besseren Vergleich gibt es nicht; ein unermüdliches Brodeln, eine Welle von aufgereihten scharfen bissigen Schlägen.

Aber es kam kein Alarmbefehl.

Hollert war erschienen: »Ach Quatsch, das geht uns gar nichts an!« Dann schrie er in die Dorfstraße hinein: »Futtermeister, Sie sorgen für eine anständige Stallwache. Ich werde geweckt, wenn was los ist. Telephon in der Schreibstube braucht nicht extra besetzt zu bleiben. Aber der Batterieschreiber soll sich die Kopfhörer um die Löffeln schnallen, wenn er schlafen geht.«

Er verschwand brummend.

Allmählich leerte sich die Dorfstraße. Das Feuer da vorn läßt nicht nach. Aber man kanns ja doch nicht ändern . . .

Rabs und Reisiger gingen auch.

Rabs schlief sofort ein. Reisiger lag wach: Marie, ein Mädchen, Marie, ein Mädchen . . .

Was ist los? Auf der Treppe poltert es doch? »Rabs!«

Als Reisiger ein Streichholz anriß, öffnete sich die Tür. Der Batterieschreiber: »Befehl vom Hauptmann: sofort in Feuerstellung kommen.«

– Sie setzten sich in Marsch.

Als sie in Lens ankamen, war der Feuerüberfall zu Ende. Die Stadt lag in schwüler Ruhe.

Nur auf Loretto zuckte der Brand unaufhörlich. Sie sahen das glühende Massiv. Sie drückten sich an den Häusern entlang, durchkrochen die Straßen.

Reisiger dachte an seinen Traum, dachte: Lorettohöhe, dachte: Souchez, Carency, Givenchy. Ihn fror einen Augenblick. Aber dann dachte er weiter: Loos, und war beruhigt.

2 Uhr 20 morgens trafen sie in der Feuerstellung ein. Alles schlief. Der Posten gab ihnen den Befehl von Leutnant Fricke, in der Batterie das Telephon zu übernehmen. Fricke selbst sei heute statt Steuwer im Offiziersunterstand der Stellung. Man solle ihn wecken, wenn etwas Verdächtiges los sei.

Der Fernsprechunterstand der Batterie war im Keller des Hauses neben dem Dritten Geschütz. Die beiden Telephonisten schliefen bei brennender Kerze. Sie waren vergnügt, als Rabs und Reisiger sie ablösten.


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