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Zweites Kapitel

1

Nach wenigen Minuten interessiert sich kein Mensch in der Batterie mehr für die vergangenen Stunden. Es gibt keine Überlegung: wie ist es möglich, daß wir noch leben nach dieser Jagd durch tausend Tode. Es gibt kein Zittern mehr in den Nerven, kein Knirschen in den Zähnen.

Es gibt, statt dessen, belebende Neugier: Was ist hier eigentlich los? –

Das feindliche Feuer liegt in einer gewaltigen Sperrkette jetzt vorn auf der Höhe des Sichtfeldes. Es gilt also wohl der Infanterie. Sehr schön: so ist man gleich über die Stellung orientiert. Dort kommen zuweilen aus den Rauchwolken mannshohe schwarze Gebilde hervor. Man kennt das: das war also früher einmal ein Wald. Um ihn wird sich vermutlich der Kampf hier drehen. Wer die Höhe hat, beherrscht die Gegend. Aufgabe der Infanterie muß demnach sein: dort oben auszuhalten.

Das bedenkt man und bespricht man. Allerdings, man schlägt sich gleichzeitig vor den Kopf: daß in dem Feuer da oben selbst bei tiefen Unterständen noch viele leben, ist zweifelhaft.

Nach kurzem werden auch solche Bedenken abgeschoben. Es gibt Arbeit. Die wichtigste: so schnell wie möglich die Stellung der Fliegersicht entziehen! »Holt euch Zweige und bindet sie an Rädern und Rohren fest. Ihr könnt ruhig Pfingstochsen aus den Flinten machen«, sagt Oberleutnant Rossdorf. – Das geschieht. Nach kurzer Zeit ist hinter der Anhöhe ein kleines Wäldchen entstanden.

Zweite Arbeit: Munitionslöcher auswerfen! Auch das geschieht. Eine Grube neben jedem Geschütz, zwei Meter tief, so daß die Körbe wirklich gedeckt sind.

Dritte Arbeit: Unterstände! Aber woraus soll man auf freiem Felde Unterstände bauen, auf die auch nur einigermaßen Verlaß ist? Die Weide am linken Flügel ist der einzige Baum in der ganzen Gegend. Sie kommt nicht in Frage. Sie ist krumm, der Stamm ist verwittert. Es bleibt also nichts, als auch für die Menschen Löcher zu graben. Der Hauptmann ordnet eins unmittelbar hinter jedem Geschütz an; dort bleiben auf alle Fälle je drei Kanoniere. Alles andere darf sich in einigen weiteren schmalen Gräben aufhalten, die ein paar Meter rechts seitwärts der Batteriestellung liegen.

Nach der Arbeit, die mehrere Stunden dauert, kann gegessen werden. Feldzwiebäcke werden verteilt, pro Mann eine Viertelportion.

Nun liegt man neben den Geschützen und läßt sich von der Sonne braten.

Das Feuer auf der Höhe macht gar keinen Eindruck, wird nicht beachtet. Wenn ab und zu einige Lagen über die Stellung hinwegsausen, rührt sich auch kein Mensch, hebt sich auch kein Gesicht mehr. Man ist von heute morgen her schwierigere Dinge gewohnt. »Daß wir nur vier Pferde verloren haben und die beiden Fahrer- mein Lieber, solch Schwein haben wir lange nicht gehabt!« –

Hauptmann Siebert sitzt mit Rossdorf und Stiller hinter der Weide. Sie knabbern auch ihren Feldzwieback.

Siebert: »Meine Herren, ich halte es doch für unumgänglich notwendig, daß wir Verbindung mit der Infanterie aufnehmen; wir kriegen sonst nie ein klares Bild über das Gelände.«

Die drei Offiziere sehen nach vorn. Rossdorf zuckt die Schultern: »Telephonverbindung wird sich da nicht machen lassen.«

Siebert: »Dann müssen wir Melder haben. Die Infanterie hats ja auch nicht anders. Und ich übernehme nicht die Verantwortung, auch nur einen Schuß abzugeben, ohne genau zu wissen, wo unsere vorderste Stellung liegt.«

Stiller hakt den offenen Kragen zu: »Wenn Herr Hauptmann gestatten, würde ich selber gehen.«

»Wen nehmen Sie mit?«

»Ich schlage den Vizewachtmeister Reisiger vor. Der hat ja lange genug Telephondienst gemacht. Wenn Herr Hauptmann meinen, gehen wir beide erst in den Graben und können dann ja nachher, wenn wir wieder hier sind, mit Herrn Hauptmann besprechen, wo eine endgültige Beobachtungsstelle mit Telephon hingelegt werden kann. – Reisiger!«

2

Stiller und Reisiger irren im Vorgelände umher. Sie suchen irgendeinen Annäherungsgraben. Es ist nichts zu finden. Sie sehen an einigen Stellen meterbreite weißliche Wege, die plötzlich irgendwo beginnen und in der Richtung auf den Feind hin flach verlaufen. Ob das jemals Gräben waren, läßt sich nicht entscheiden.

Das feindliche Feuer liegt, ungeheuer konzentriert, vor ihnen am Rand der Höhe. So scharf abgegrenzt, daß kaum ein einziger Schuß aus dem kompakten Massiv der unzählbaren Einschläge herausspringt. Ein dicker schwarzer Wall, für das Auge undurchdringlich.

Sie geben schließlich den Versuch auf, einen Laufgraben zu finden. Stiller sieht sich nach der Batterie hin um, sieht dann wieder auf das Feuer: »Ja, es hilft nichts, wenn wir nicht hineingehen, kommen wir nicht nach vorn. Also was meinen Sie, Reisiger?«

Nichts zu meinen. Reisiger sagt sachlich: »Zu Befehl, Herr Leutnant.« Stiller: »Ob wir die Gasmaske brauchen?« – Er antwortet sich selber: »Na, so schlimm wirds ja nicht gleich werden.«

Aber dann nehmen beide doch die Maske aus der Bereitschaftsbüchse und hängen sie vor die Brust.

Sie sind näher am Feuer. Das Krachen ist so laut, daß man sich nur noch brüllend verständigen kann.

»Es genügt,« schreit der Leutnant, »wenn wir einen einzigen Infanteristen zu fassen kriegen. Irgendwo müssen sie doch hocken.«

Er macht einen Sprung. Reisiger hinterher. Beide liegen in einem Geschoßtrichter. Zwei Granaten hacken hinter ihnen in die Erde. Wie der Dreck hochspritzt, nehmen sie Anlauf, springen weiter. Fallen wieder in einen Granattrichter. Einschläge rechts und links von ihnen.

»Ganz praktisch, die Erfindung mit den Trichtern«, schreit der Leutnant; »wenn man hier hinfällt, fällt man immer gleich in Deckung.«

Er will grinsen, da haut ein Schuß vor ihm auf den Rand. Gute zehn Schaufeln Erde fliegen ihnen über den Rücken. Sie springen auf, laufen gebückt, liegen auf dem Bauch, springen, wie es über ihnen kreischt, gebückt wieder auf. Sitzen beide bis über die Knie in einem großen Loch, das mit braunem Wasser gefüllt ist.

Stiller will als erster am schmierigen Band hochkriechen, um nach vorn weiter zu laufen. Er rutscht ab, sitzt bis zum Nabel im Schlammgrund. Er muß dabei auf irgend etwas getreten haben: Reisiger sieht, daß sich etwas aus dem Wasser aufbläht, gedunsen – ein Leib, ein Arm, eine schmale Hand, der der Daumen fehlt.

Ohne auf den Leutnant zu achten, springt Reisiger mit einem Satz davon. Ein Druck schleudert ihn sofort wieder zur Erde. In ein Loch daneben. Aus dem Qualm hinter ihm stößt Stiller vor. Sie hocken beieinander. – Weiterkriechen ist im Augenblick unmöglich. Der Trichter ist so tief, daß beide aufrecht darin stehen könnten, ohne mit dem Kopf hinauszuragen. Aber sie kauern am Boden, sehen nicht nach oben. An den Erschütterungen, und an den Lehmklumpen, die ihnen vor die Füße prasseln, spüren sie, daß um sie überall Feuer aufschlägt.

Nach Minuten bemerkt Stiller eine Lücke im Rauch vor sich.

Er springt hoch, hindurch; Reisiger hinterher.

Der nächste Trichter ist mehr als einen Sprung weit von hier entfernt. Sie schieben sich auf dem Bauch vor. Endlich sind sie an seinem Rand. Sie sehen zwei Stahlhelme darin: Infanterie!

Ja, zwei Infanteristen der vordersten Stellung. Schwarze Gesichter. Bis zur Unkenntlichkeit verschmierte Uniformen. Schwarze verklebte Hände. Zwischen den Beinen das Gewehr. Um sich einen Haufen Handgranaten. – Beide zucken zusammen, als Stiller und Reisiger zu ihnen springen. Dann erkennen sie den Offizier: sie rucken den Kopf ein wenig hoch.

Die Verständigung ist schwierig.

Selbst wenn man dem Nachbar ins Ohr brüllt, werden alle Worte zerfetzt.

Aber was ist auch viel zu reden? Die Infanteristen scheinen nicht zu begreifen, daß man es überhaupt muß.

»Wo ist eure Stellung?« Der eine sieht Stiller mit halben Augen an, zeigt mit dem Daumen auf den Dreck unter sich: »Hier, Herr Leutnant.«

»Ja ihr müßt doch einen Graben haben«, schreit Stiller.

Der Infanterist schüttelt den Kopf. »Nein, Herr Leutnant, den hatten wir mal.«

Stiller: »Wer liegt denn hier vorn ’?«

Der zweite Infanterist »Vier Kompagnien. Bis zum Wald. Aber viel werden das heute nicht mehr sein.«

Stiller sieht Reisiger an. Die Auskunft genügt nicht.

»Wir müssen weiter!« Dann noch einmal zu den Infanteristen: »Wo liegt euer Kompagnieführer?« – Sie deuten nach links: »Da irgendwo. Mehr wissen wir auch nicht.«

Also los! Auf!

Jetzt sind ungefähr in jedem Granattrichter ein oder zwei Infanteristen. Das ist etwas wie eine Beruhigung. Aber man springt in viele Löcher, in denen die Besatzung tot ist. Man stößt auf Verwundete. Es hilft nichts, weiter! Es wird langsam dunkel! Die Batterie muß sich aber noch vor dem Abend einschießen! Wegen des Mündungsfeuers; sonst ist sie sofort verraten. Sprung auf. Sprung auf.

Ein Trichter, davor ein Loch: hier ist ein Unterstand! Stiller und Reisiger werden von einem Schuß direkt in den Eingang gedrückt. Sie spüren, daß sie Treppenstufen unter sich haben, tappen rücklings hinab. »Infanterie« ruft Stiller. Sie kriegen Antwort, ein fragendes »Nanu?«

Bei einer Kerze sitzt ein junger Infanterieoffizier. Er reicht Stiller die Hand, nickt zu Reisiger, schiebt mit dem Bein zwei Handgranatenkisten an die Wand: »Bitte Platz zu nehmen.«

Mit Hilfe einer Karte erklärt er die Situation. Der Kamm der Höhe, also alles auch noch etwa dreißig Meter feindwärts vor diesem Unterstand, ist in seinen Hauptsprengtrichtern von der eigenen Infanterie besetzt. Viel mehr läßt sich nicht sagen, man kann die Kompagnien kaum noch übersehen. Er liegt seit 24 Stunden hier, weiß nur, daß seine Kompagnie bis jetzt ungefähr die Hälfte an Mannschaften verloren hat. »Wie das weitergehen soll, ahnt nur der liebe Gott; – aber schön, daß die Artillerie sich mal zeigt. Ein schwacher Trost wenigstens. Schießen Sie nur kräftig heute nacht! Im übrigen – Ja, Herr Kamerad, daß der Feind heute mittag noch hundert Meter hinter der Höhe lag, kann ich versichern. Wie es jetzt ist? Ich glaube, solange sein Feuer so liegt wie jetzt, kann uns nichts passieren. Legt er es mehr zu Ihnen hin, da nach unten . . .« – Er zuckte die Achseln: »Aber er kann kommen, er solls gut haben.«

Klar war nach dieser Unterhaltung für Stiller, daß die Batterie ohne Gefährdung der Infanterie einstweilen also auf 150 Meter hinter die Höhe schießen konnte. »Wir werden uns nach der Karte im übrigen so einrichten, daß wir sofort Sperrfeuer direkt auf den Höhenkamm legen können, wenn Sie es anfordern. – Einverstanden?«

»Sehr gut!« Der Infanterist stand auf, sah zur Treppe hinauf. »Hoffentlich kommen Sie gut zur Batterie zurück«, sagte er dann. »Ja – Meldungen kann ich Ihnen nicht schicken. Telephon ist auch sinnlos. Aber Sie wissen ja, vier rote Leuchtkugeln heißt: Angriff. – Ich würde ihnen gern eine Zigarette anbieten –«

Er holte aus seiner Rocktasche ein zerknülltes weißes Würstchen –: »das ist alles.«

Verabschiedung. Die beiden krochen nach oben. Auf der halben Treppe schlug ihnen eine Flamme in das Dunkel entgegen. Die Stufen hoben sich, es polterte. Sie blieben wartend liegen. Nach kurzem schoben sie sich weiter. So schnell wie möglich zur Batterie! –

3

Ich glaube, daß wir sowohl im III. Armeekorps wie in der gesamten Armee wissen, daß darüber nur eine Stimme sein kann, daß wir lieber unsre gesamten 18 Armeekorps und 42 Millionen Einwohner auf der Walstatt liegen lassen, als daß wir einen einzigen Stein von dem, was Mein Vater und der Prinz Friedrich Karl errungen haben, abtreten. In diesem Sinne erhebe ich mein Glas . . . (Wilhelm II. 16. 8. 1888, Frankfurt/Oder)

4

Als 1/96 gegen 10 Uhr abends durch das plötzliche Auftauchen von sechs Munitionswagen der L.M.K. überrascht worden war, hatte das Feuer des Feindes nach einer langen Pause wieder das Hintergelände ergriffen. Die Wagen der L.M.K. waren trotz dienstlichen Befehlen, trotz Brüllen und Fluchen, nicht zu bewegen gewesen, bis an die Stellung heranzufahren. Die Mannschaften hatten während der Anfahrt die Körbe aus den Wagen gerissen und sie planlos im Gelände zerstreut. Dann waren die Gespanne auseinandergespritzt und verschwunden.

Die Batterie hockte in ihren Löchern. An der Weide am linken Flügel Hauptmann Siebert, am zweiten Geschütz außer der Bedienung Reisiger, am dritten Rossdorf, am vierten Stiller.

Vor und hinter der Batterie trommelte der Feind.

Ein Gewitter, ein unaufhörliches Blitzen. Das Feuer stieß bei jedem Einschlag mehrere Meter hoch mit roten und gelblichen Flammen gegen den Himmel. An ihm hing ein bläulicher Vollmond. Er war fett und behäbig und hatte ein fahles unheimliches Licht. Alle Menschen bekamen weißlichblaue Gesichter, sahen nach Irrsinn aus.

Zwischen dem zweiten und dritten Geschütz lag frei hinter der Anhöhe ein Kanonier als Leuchtkugelposten. Er hatte Stirn mit Stahlhelm fast auf den Boden gedrückt, ließ nur einen schmalen Sehschlitz offen.

Plötzlich brüllte er auf, schlug nach hinten, rollte den Abhang hinab, blieb liegen.

Man hatte den Schrei gehört: Das zweite Geschütz stellte als Ablösung einen neuen Mann, der sich an dieselbe Stelle legte.

Kurz vor 11 Uhr, der Mond stand senkrecht über der Batterie, schrie er: »Sperrfeuer.«

Die Batterie war eingeschossen. Die Geschütze standen auf die Entfernung 1700 Meter. Der Alarmruf war kaum ausgeschrien, da ging die erste Salve zum Feind.

Nun war alles vergessen, das Hocken im Loch, das Ducken vor feindlichen Geschossen; Offiziere, Unteroffiziere und Kanoniere bedienten die Geschütze. In die Blitze der feindlichen Aufschläge hinein stachen jetzt die wagerechten Feuerschlünde von 1/96.

Der Hauptmann gab Kommandos, die sehr sachlich weitergegeben wurden. Mit Wut. Mit Haß, sich zuweilen auch jetzt noch vor etwas Sinnlosem auf den Bauch legen zu müssen.

Als Siebert dann, bei weiteren roten Leuchtkugeln, das langsame Sperrfeuer zum Schnellfeuer erlöste, glühten die Mannschaften.

Korb nach Korb wurde aus den Löchern herausgerissen, flog entleert nach hinten.

Das fraß Munition. Es war klar, daß so nur weitergefeuert werden konnte, wenn man an die Haufen der Ersatzmunition gelangte, die die Kolonne dort hinter der Batterie verstreut hatte.

Siebert griff ein: Zwei Kanoniere jedes Geschützes mußten freigemacht werden, um die Munition zu holen. Statt dessen setzten sich die Offiziere an den Richtsitz. An das letzte Geschütz sprang Reisiger.

Aber wie den Ruck aufbringen, sich aus der Deckung der Anhöhe loszureißen? Die acht Kanoniere klebten übereinander neben dem linken Flügelgeschütz. Niemand fand den ersten Entschluß.

Schließlich sprang der Hauptmann auf, stieß einem mit dem Fuß ins Kreuz, beugte sich zu ihm, die Hände am Mund, brüllte: »Lümmels, schert euch jetzt endlich Munition holen!«

Die acht Kanoniere rissen sich hoch, einen Augenblick gerade, dann mit krummen Knien, das Kinn auf der Brust. Schüsse des Feindes lagen dicht vor der Batterie. Güsse von Schrapnellkugeln pfiffen über die Anhöhe.

Sekunden. Der Kanonier Wehrstedt sprang nach hinten ab, legte sich nach dem Sprung auf den Bauch, kroch auf allen Vieren. Er war 3 Meter hinter dem Geschütz, da folgte der zweite. Der dritte. Die übrigen. Die acht bildeten eine Kette. Wehrstedt lag vor den größten der drei Munitionsberge. Er griff mit der Hand nach einem Korb, zerrte ihn herunter, schob ihn, schleuderte ihn zum Hintermann. Der gab ihn weiter. Weiter. Die Munitionszufuhr für die Batterie lief.

Schnellfeuer!

Der Berg war fast leer.

Da rissen plötzlich die Mannschaften an den Geschützen die Gesichter nach hinten: Eine breite blaue Flamme schoß gegen den Himmel, höher als ein dreistöckiges Haus. Schwarze Brocken flogen zwischen dem Feuer herum. Von der Kette der acht Kanoniere sprangen fünf auf die Füße, jagten zur Batterie.

Aus allem Krachen hob sich überlaut ein tiefes Brüllen ab: einer der Munitionshügel hatte einen Volltreffer bekommen. Wehrstedt und die beiden Hinterleute waren zu Fetzen zerrissen. –

Munition! Wie weit reicht die Munition?

Am dritten Geschütz kniete Stiller; er sprang zum zweiten, zum ersten, zum Hauptmann: »Herr Hauptmann, wenn wir weiterfeuern sollen, muß unbedingt versucht werden, auch die übrige Munition heranzuschaffen.«

Da, neue rote Leuchtkugeln auf der Höhe!

»Schnellfeuer!« schreit Siebert. Der Ruf erreicht schwach das zweite Geschütz, dort winkt Rossdorf mit gehobenen Fäusten den dritten und vierten; das Schnellfeuer rollt wieder.

Dann wendet sich der Hauptmann zu Stiller: »Nehmen Sie selbst die Führung für ein neues Relais. Zwei Mann von jedem Geschütz. Weiter!«

Ein Einschlag in der Weide. Sie zerspringt in zwei Hälften: die eine bleibt stehen, brennt an der Spitze, die andere schlägt schwarz nach vorn.

Stiller stößt zwei Kanoniere des ersten Geschützes zwischen die Rippen: »Mitkommen«, springt mit ihnen zum zweiten.

Weiter geht es nicht.

Die Batterie ist plötzlich in ein grelles weißes Licht getaucht, in eine brennend kalte Helligkeit.

Alles reißt die Gesichter nach oben.

Über der Stellung, 10 Meter hoch vielleicht, schweben zwei große gelbliche Fallschirme, an denen Magnesiumfackeln aufgeflammt sind. Zwischen den Fackeln taucht im nächsten Augenblick ein Flugzeug auf. Ein Raubvogel von ungekannten Ausmaßen saust er über die Batterie hinweg, macht einen scharfen Bogen, stößt bis auf 6, 7 Meter herunter.

Sein Maschinengewehr spritzt zwischen die Kanoniere.

Man kann jede Kugel erkennen. Er schießt mit Leuchtspurmunition. Kleine gelbliche Wespen, aufglühend mit winzigem sprühendem Schweif, zischen umher.

Alles liegt auf dem Bauch. Irgendwo schreit jemand »Deckung«. Aber wie kann es hier Deckung gegen den Feind aus der Luft geben? Und schon schnellt am zweiten Geschütz ein Mensch auf, den Körper nach oben durchgebogen, klatscht wieder hin. Schon brüllt am vierten ein anderer, kniet, preßt die Hände vor den Bauch. Gibt es Rettung? Man schielt nach oben. Die Leuchtkugeln erlöschen. Das Flugzeug verschwindet.

Darauf war niemand gefaßt gewesen. Fliegerangriff des Nachts, bis auf 5 Meter herabgestoßen, mit M.G. – das war neu!

Lähmung liegt über der Batterie.

Schließlich kontrolliert Siebert die Stellung. Da, am zweiten Geschütz, liegt neben Reisiger der Kanonier Kolpe, der vorhin hochgeschnellt war. Das Gesicht ist immer noch zur Erde gekehrt. Siebert hebt ihm leise den Kopf. Blut tropft aus dem Scheitel. »Keinen Zweck mehr« sagt Siebert zu Reisiger.

Und zum vierten Geschütz.

Da windet sich noch immer, die Arme in den Bauch gepreßt, kniend nach rückwärts gelegt, der Kanonier Seelow. Um ihn hocken die Kameraden des Geschützes, der Sanitätsunteroffizier, Rossdorf.

Aber was soll man tun? Sie haben ihm Rock und Hose aufgerissen: Bauchschuß.

Der Sanitätsunteroffizier ist hilflos. Wie soll man so etwas verbinden? Schob er Watte in die Einschußöffnung, trieb sie sofort wieder heraus.

Siebert will einen Rat geben.

Da saust es, als wenn ein Wirbel die Stellung zusammenfegt, erneut in der Luft. Ist schon wieder hell, spritzt schon wieder. Der Flieger ist zurückgekehrt!

Alles drängt sich übereinander, liegt dicht an den Grund des Abhangs geschoben.

Wie Reisiger auf einen Augenblick den Kopf hebt, sieht er gerade, daß aus dem Flugzeug himmelwärts drei gelbe Kugeln hochschießen.

Er steckt den Kopf sofort wieder nach unten.

Sekunden später fliegen die Mannschaften durcheinander: Vier Einschläge einer feindlichen Batterie sitzen direkt auf der Deckung!

Den vier Schüssen folgen wenige Augenblicke später vier neue, drei auf dieselbe Stelle, der vierte ein wenig davor.

Wo ist der Hauptmann? Reisiger springt zum dritten Geschütz, schiebt sich zum vierten: »Herr Hauptmann, der Flieger hat uns verraten! Gelbe Leuchtkugeln! – Jetzt hat der Feind uns weg.«

Siebert will antworten. Da kracht es wieder. Vier Rauchsäulen, feuergefüllt. Vier Schüsse unmittelbar hinter der Stellung.

Siebert schreit: »Alles in Deckung.« Er springt gleichzeitig rechts heraus in eines der größeren Löcher. Die Kanoniere des vierten Geschützes hinterher.

Blaue Flammen: Zwei Einschläge auf der Anhöhe, zwei gegen den Stumpf der Weide.

»Alles in die Löcher!«

Der Feind trommelt auf die Stellung von 1/96.

5

Die 7,5 Zentimeter-Granaten der leichten Feldartillerie, die ein Gewicht von 5,6 Kilogramm und eine Sprengladung von 0,608 Kilogramm haben, dringen 1,80 Meter in Erde, 12 Zentimeter in Beton ein, haben eine Gesamtwucht aus Aufschlag und Explosion von 230 Meter und schleudern 508 Splitter umher. – Die Eindringungstiefe eines aufschlagenden 15 Zentimeter-Geschosses in Erde beträgt 4,10 Meter, in Beton 39 Zentimeter, die Sprengladung wiegt 4,86 Kilogramm, die Kraft der Explosionsladung 1900 Meter, die Splitterzahl beträgt 2030. – Ein 30,5 Zentimeter-Geschoß hat ein Gewicht von 324 Kilogramm, entfaltet eine Explosionswucht, die vergleichbar ist mit einem D-Zug von 10/50 Tonnen-Wagen bei 85 Kilometer Stundengeschwindigkeit, schleudert 8110 Splitter umher und dringt 8,80 Meter tief in Erde und 90 Zentimeter in Beton ein. (Friedrich Seesselberg, Der Stellungskrieg, S. 260)

6

Im Loch hinter dem linken Flügelgeschütz von 1/96 sitzen Vizewachtmeister Reisiger und Kanonier Winkelmann.

Der Feind trommelt.

Das Loch ist so breit, daß die beiden sich gegenübersitzen können. Sie haben die Beine gegen den Leib gezogen, die Knie ineinandergeschoben, die Ellbogen darauf gestützt. Ihre Hände halten ihr Gesicht. Sie sehen nach unten.

Der Feind trommelt.

– Die 7,5 Zentimeter-Granaten der leichten Feldartillerie dringen 1,80 Meter in Erde ein –

Zuweilen regt sich der eine von ihnen, zuckt mit dem Knie, zieht das Kinn fester an die Brust. Ein Zeichen für den anderen: Ich lebe noch – und was machst du?

Der Feind trommelt.

– Die lebendige Kraft eines 15 Zentimeter-Geschosses ist gleich der Marschwucht von zwei Infanteriedivisionen –

Nach einer Weile der andere. Sprechen kann er nicht. Sein Nachbar würde ihn ja doch nicht verstehen. Er zuckt also mit den Knien. Oder zieht das Kinn fester an die Brust. Das heißt: Ich lebe noch – na und wie geht es dir?

Der Feind trommelt.

– Ein 30,5 Zentimeter-Geschoß schleudert 8110 Splitter umher –

Der Kopf wird nur gehoben, ruckartig auf einen blitzschnellen Augenblick, wenn eine Feuersäule so dicht am Rand des Loches hochzischt, daß man die Glut spürt. Dann senkt man die Augenlider: Schuß ging daneben.

Der Feind trommelt.

7,5 Zentimeter-Granaten, 15 Zentimeter-Granaten, 30,5 Zentimeter-Granaten.

Zuweilen werden die beiden Körper der Menschen im Loch mit hartem Schlag gegen die Wand geschleudert. Der Erdboden hat sich gewaltsam gehoben, bäumt sich unter einem Stoß. Der Stoß teilt sich den Menschen mit. Die Schulter kracht gegen den Lehm, der Stahlhelm.

Der Feind trommelt.

Reisiger schießt vorneüber, sein Gesicht haut hart gegen die Kante von Winkelmanns Stahlhelm. Sein Zahnfleisch blutet. Er spuckt aus, richtet sich wieder hoch.

Der Feind trommelt.

Beide geben zuweilen blitzschnell die Hockstellung auf. Es gibt einen Wettbewerb, wer oben, wer unten liegt, wenn sie sich mit dem Rücken an der Lehmwand entlang schmieren, die Nase tief auf die Sohle des Loches drücken. Das geschieht dann, wenn ein Feuerstrahl direkt über ihnen steht –

Der Feind trommelt.

Einmal schlägt es hart gegen Reisigers Koppelschloß. Er spürt den Schlag schmerzhaft auf dem Magen. Etwas rollt zwischen seine Füße, er faßt danach, es ist glühend heiß, ein Splitter.

Der Feind trommelt.

Die beiden Menschen starren nach unten. Es ist eine dämmrige Helle geworden. Reisiger sieht die Stiefel von Winkelmann, Winkelmann sieht die verdreckten Gamaschen von Reisiger. Reisiger hebt eine Handfläche nach oben, stiert hinein. Winkelmann macht die Haken am Kragen auf und zwei Knöpfe vom Uniformrock.

Der Feind trommelt.

Hunger? Nein. Durst? Nein. Rauchen? Ja. – Reisiger langt in die Tasche, in der das Verbandszeug ist, zieht zwei Zigaretten heraus. Eine bekommt Winkelmann. Er versucht, ein Streichholz anzustecken. Das verlöscht. Dasselbe zwei, dreimal. Die beiden rauchen. Sie reißen den Rauch in die Lungen, sie blasen ihn zwischen ihren Knien hindurch an die Erde.

Der Feind trommelt.

Reisiger sieht Winkelmann in die Augen, lächelt, zeigt auf die Zigarette, nickt. Winkelmann lächelt auch, nickt wieder.

Der Feind trommelt.

Es beginnt zu regnen. Der Regen ist dicht wie Nebel. Die beiden nehmen ihre Zigaretten in die Höhlung zwischen beide Hände, daß sie nicht feucht werden.

Feuer am Rand des Loches. Die beiden rutschen auf den Boden, müssen beim Fall die Zigaretten in die Lehmschmiere stecken. Aus.

Der Feind trommelt.

Der Regen wird dichter. Nicht mehr Nebel; dicke Fäden; es prasselt auf die Stahlhelme. Sie rücken näher aneinander. Reisigers Knie unter Winkelmanns Kinn. Winkelmanns Knie gegen Reisigers Brust. Der Regen ist ein Bach, gießt am Stahlhelm entlang, übergießt die gekrümmten Rücken, saugt sich zwischen den Kragenrand, schüttet in die Stiefel.

Der Feind trommelt.

Der Lehmboden ist widerlich wie Kunsthonig. Die Menschen im Loch können keine normale Bewegung mehr ausführen, alle Glieder rutschen auf glibbriger Sauce hin und her. Es ist fast nicht mehr möglich, zu sitzen. Schon eine Kopfbewegung genügt, um den Körper aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie stemmen sich mit beiden Händen auf den Grund, um sich zu stützen.

Der Feind trommelt.

Der Regen gießt.

Das Wasser im Loch steigt langsam.

Reisiger faßt in die Rocktasche, holt ein Notizbuch hervor; es ist schon halb naß, er schiebt es durch Rock und Hemd gegen die Brust. Winkelmann will das Verbandszeug retten. Er zerrt es heraus; es ist dick und schmierig wie ein verbrauchter Schwamm. Er läßt es zu Boden fallen. Und beide sehen, es schwimmt, ein kleines Schifflein, es sinkt.

Der Feind trommelt.

Der Regen gießt.

Sie sind naß bis auf die Haut. Das Wasser im Loch ist so hoch gestiegen, daß es die Ellbogen der aufgestemmten Arme umspült.

Der Feind trommelt.

Wie spät?

Als der Flieger das zweitemal kam, war es gegen 12 Uhr nachts gewesen. Reisiger zieht eine Hand aus dem Wasser, streift den Ärmel hoch, die Armbanduhr geht noch. Er zeigt sie Winkelmann. 7 Uhr früh.

Seit sieben Stunden trommelt der Feind.

Die 7,5 Zentimeter-Granate schleudert 508 Splitter umher, die 15 Zentimeter-Granate 2030, die 30,5 Zentimeter-Granate 8110. Eindringungstiefen in Erde 1,80 Meter, 4,10 Meter, 8,80 Meter.

Der Feind trommelt.

Der Regen gießt.

Hunger? Reisiger kippt gegen Winkelmann: »Haben Sie was zu essen?« Winkelmann zerrt eine Hand aus dem Schlamm, wühlt hinter sich in der Rocktasche, zieht einen Leinenbeutel hervor, schwarz. Er braucht ihn nicht zu öffnen, es fließt, wie er ihn anfaßt, eine dicke gelbe Brühe heraus. Das waren Feldzwiebäcke. Reisiger nickt. Der schmierige Beutel versinkt im Schlamm.

Der Feind trommelt.

Müde?

Entsetzlich müde. Es wäre schon das beste, den Kopf noch 10 Zentimeter tiefer hängen zu lassen, daß die Schnauze in der dicken Brühe steckt. Dann könnte man schlafen.

Aber dazu ist es zu kalt.

Sie sitzen fast bis an die Schultern im Wasser.

Der Feind trommelt.

Sie wissen, daß es keine Rettung mehr gibt. Es sei denn: Der Regen hört auf oder der Feind beruhigt sich.

Der Feind trommelt.

Der Regen gießt.

Wie spät? Reisiger zerrt die Hand aus dem Dreck, die Brühe kriecht bis zum Ellbogen, pladdert dann nach unten. Der Ärmel läßt sich nur schwer aufkrempeln. Das Uhrglas ist verschlammt. Es wird mit dem Kinn abgewischt. – Die Uhr steht.

Der Feind trommelt.

Es gibt in der Batterie 1/96 hinter jedem Geschütz ein Loch. In jedem sitzen zwei oder drei Mann. Es gibt weiter vier Munitionslöcher, wohl noch halb gefüllt. Darin werden auch noch je zwei oder drei Mann sitzen. Außerdem sind am rechten Flügel zwei etwas größere Löcher. Darin sitzt der Rest.

Der Feind trommelt.

Der Regen fließt.

Das Wasser geht Reisiger und Winkelmann bis an das Kinn. Es ist unmöglich, sitzen zu bleiben. Man muß aufstehen. Sie zerren ihre Glieder aus dem Lehm. Der ganze Körper ist bereits der Erde einverleibt. Es kostet Anstrengung, ihn zu befreien. Beide stehen, die Knie aneinander, Rücken frei, die Arme auf der Brust verschränkt, ganz gekrümmt. Die Stahlhelme liegen Rand an Rand, bilden die einzige Stütze.

Der Feind trommelt.

Zuweilen muß man doch wieder in die Knie sacken. Auf Sekunden wenigstens. Dann sieht man, daß der Wasserspiegel Wellen schlägt. Der Grund wühlt sich auf, daß es einem fast die Beine unter dem Leib wegreißt . . .

. . . Dann hört der Regen auf. Wie weggeweht.

Trommelt der Feind noch?

Als einen Augenblick die Wände nicht wackeln, hebt sich Reisiger, stützt sich mit den Händen auf Winkelmanns Schulter, sieht über den Rand des Loches.

Es ist unvorstellbar: Vor ihm liegt das Leben. Da ist Himmel, sichtbar bis an den Rand des Horizontes. Aus manchen Löchern sieht er die Kuppen der Stahlhelme. Da bewegt es sich geheimnisvoll hin und her. Ein neugieriges Gesicht hier und da.

Ein Schuß! Rauchwolke vor dem dritten Geschütz. Ducken! Wieder hochsehen der Rauch ist verzogen. Reisiger wartet einen Augenblick auf den nächsten Schuß. Es kommt keiner. Er schiebt sich aus dem Loch, bleibt noch etwas in den Knieen. Dann steht er auf. Winkelmann kommt hinterher.

Nach kurzer Zeit ist alles an den Geschützen versammelt.

Man stampft mit den Füßen auf, um den Dreck abzuschütteln. Man fährt mit den schmierigen Händen an den Armen entlang, um die braune Sauce aus den Ärmeln zu pressen. Man geht hin und her. Zuerst redet man nicht. Das Trommelfeuer liegt wie Betäubung noch in den Ohren. Aber dann lacht schon einer. Und dann lachen ein paar, kurz, verlegen. Und dann, Hände in den triefenden Hosentaschen, stehen Gruppen zusammen. »Ach, es war ja gar nicht so schlimm.«

War ja gar nicht so schlimm. Höchstens das Wasser. Im Wasser sitzen, stundenlang – das ist wie in einer verfluchten Hölle. Dagegen ist Trommelfeuer ein Dreck.

Und wieder wird gelacht. Weil Witze gemacht werden. Über den Aufwand, den der Feind getrieben hat ohne nennenswertes Resultat.

Der Hauptmann schlendert durch die Stellung. Hinter ihm die andern Offiziere. Die Einschläge werden inspiziert.

Die ganze Gegend sieht aus, als bestünde sie aus klaffenden Geschwüren. Aus ekelhaft zerfressenen Wunden. Die Ränder dieser Wunden sind gelblich und haben brandige Risse. Aber das ist eigentlich alles. Hier, haarscharf am Deckungsloch neben dem zweiten Geschütz, sitzen drei Dinger übereinander. Unvorstellbar, daß jemand leben geblieben ist.

Und die Geschütze? Das Schutzschild am Dritten ist aufgerissen, sieht aus wie ein Papierstreifen, durch den soeben ein dressierter Hund gesprungen ist. Etwas zerfetzt. Das Vierte hat an der Mündung eine tiefe Kerbe, armlang. Da muß ein Sprengstück entlang gerutscht sein. Aber die Batterie ist durchaus gefechtsfähig. Die paar Toten rechnen nicht.

7

. . . daß darüber nur eine Stimme sein kann, daß wir lieber unsre gesamten 18 Armeekorps und 42 Millionen Einwohner auf der Walstatt liegen lassen, als daß wir . . . In diesem Sinne erhebe ich mein Glas . . .

8

Nach einer Stunde setzt das Trommelfeuer wieder ein. Es konzentriert sich auf das Hintergelände. Unzählige Geschosse jagen pfeifend, fauchend, singend, röchelnd über die Batteriestellung hinweg, hageln dort nieder, wo 1/96 gestern von der Straße abging, auf das Feld galoppierte. Erste Sorge des Hauptmanns: Wie wird das mit Munition und Verpflegung? Wie kann man die Protzen benachrichtigen? – Meldegänger kommen durch den Feuerwall nicht hindurch. Es bleibt also nichts übrig, als sich auf den Wachtmeister zu verlassen.

Die Geschützführer sollen feststellen, was noch an Verpflegung in der Stellung ist. Meldung: insgesamt 5 Beutel mit Feldzwieback, 3 Büchsen mit Fleisch. Alles übrige ist durch den Regen versaut. Es langt also im Höchstfall für die Bedienung eines Geschützes. Aber gegessen haben ja alle gleich wenig, alle fast nichts seit vierundzwanzig Stunden.

Einer kommt auf einen guten Gedanken, bei den Toten zu suchen. Vielleicht ist da noch etwas zu finden. Sie werden zwar auch durchnäßt sein, aber da sie nicht in den Löchern bis zum Hals im Wasser sitzen mußten, gibt es Chancen.

Ja, neben dem zweiten Geschütz liegen die beiden Leuchtkugelposten, am vierten der mit dem Bauchschuß, der auch tot ist: jeder von ihnen hat in den Rocktaschen zwei Beutel mit Zwieback.

Der Sanitätsunteroffizier geht zu dem verbrannten Munitionsstapel. Aber da ist nichts zu holen; alles in Stücke gerissen.

In Summa hat jetzt immerhin jeder Mann vier bis fünf Zwiebäckchen und eine Messerspitze voll Rindfleisch. Das hebt die Laune. Außerdem: irgendwann wird schon mehr kommen.

Schlimmer als Hunger ist jetzt die Müdigkeit.

Einer nach dem andern legt sich mit dem Rücken gegen die Anhöhe. Der Boden ist sehr naß, der Dreck der Sprengtrichter ist fußhohe braune Brühe. Trotzdem: viele schlafen ein.

Immer über ihnen der sirrende und kreischende Bogen der Geschosse in der Luft. Hinter ihnen das brüllende rauschende Feld.

An der Weide, von der nur noch Splitter stehen, sitzen auf Munitionskörben die Offiziere und Reisiger. Müde, müde. Stiller schläft. Reisiger hat Mühe, den Kopf hoch zu halten.

Siebert und Rossdorf besprechen die Situation. Irgend etwas muß geschehen! Zum mindesten notwendig ist eine Meldung an die Abteilung. Am Ende steht 1/96 mutterseelenallein hier auf weiter Flur und das Regiment ist Gott weiß wohin abgerückt. Ist alles schon dagewesen. Vielleicht glaubt man auch, daß von der Batterie keiner mehr lebt.

»Wenn der Himmelhund von Wachtmeister sich nur endlich dazu bequemen wollte, Verpflegung und Munition zu schicken«, knurrt der Hauptmann. »Außerdem finde ich es selbstverständlich, daß er sich selber hier sehen läßt.«

Er dreht sich nach hinten. Dort trommelt der Feind. Er nimmt das Glas an die Augen, sagt nach einer Weile: »Ich habe das Gefühl, Rossdorf, daß die eine richtige Feuerwalze inszenieren. Sehen Sie. – Und diese Walze rollt ohne Zweifel jetzt schon wieder näher an uns heran.«

Rossdorf: »Meinen Herr Hauptmann nicht, daß wir Stellungswechsel vornehmen sollten? Wenn die Batterie den ersten Schuß abgibt, haut uns der Feind, der uns bestimmt weg hat, in fünf Minuten kurz und klein.«

Die Feuerwalze kommt näher.

Stellungswechsel? Die Anhöhe, hinter der die Batterie jetzt steht, verläuft nach rechts noch etwa 300 Meter weiter. Das wäre die einzige Möglichkeit, die Stellung zu ändern. Andere Deckung gibt es nicht.

Ja, die Feuerwalze kommt näher.

Wenn man die Geschütze hier herauszieht und sie 300 Meter weiter rechts aufstellt, gibt es wenigstens die Möglichkeit, dem Zielfeuer bis auf weiteres zu entgehen.

»Batterie Stellungswechsel! Schiebt die Flinten nach rechts heraus, bis dahin, wo die Höhe zu Ende ist!«

Die Kanoniere schrecken aus dem Schlaf.

Die Feuerwalze kommt näher.

Die Geschütze werden durch den Schlamm 300 Meter weitergeschoben. Es werden neue Deckungslöcher ausgehoben. Das ist schwierig, der Lehm wiegt wie Zentnergewichte.

Jeder einzelne Munitionskorb wird aus der versoffenen Stellung herausgezerrt. Jedes Geschoß wird mit Zeltbahn und Mantel getrocknet und abgerieben.

Die Feuerwalze näher, näher.

Gegen Mittag ist sie da.

1/96 kommt zu keinem Schuß. Es sitzt alles in den neuen Löchern. Hungrig, müde, bei jedem Einzelnen das Gefühl, rettungslos verlassen zu sein.

Der Feind trommelt und trommelt.

Gegen fünf Uhr nachmittags sitzt ein Volltreffer im dritten Geschütz. Ein schweres Kaliber. Nicht eine Schraube bleibt ganz. Ein Haufen Alteisen.

9

Deutscher Schmuck aus echter Geschoß-Bronze vom Kriegsschauplatz. Das vornehmste Andenken an Deutschlands große Zeit.

Jedes Stück künstlerisch in fein ziselierter Handarbeit aus den bekannten Kunstwerkstätten der ‚Schule Reimann‘ Berlin. (Inserat.)

10

Gegen 8 Uhr abends tauchen in der Batterie plötzlich Infanteristen auf. Drei Mann. Stiefel und Uniform triefen vor Schlamm. Die Gesichter sind schwarz. Einer blutet stark an der Backe. Das Blut läuft über seine Brust. Mit einem Satz sind sie über die Böschung gekommen, schreien »Batterieführer«, springen ins Loch, in dem Reisiger und Siebert hocken. Es ist so eng, daß die fünf Menschen aufeinander liegen.

Was ist los?

»Herr Hauptmann, wir schießen seit einer Stunde rote Leuchtkugeln ab. Der Feind sitzt überall zwischen unseren Linien. Die Batterie muß feuern.«

Siebert aufgerichtet, so gut es geht: »Habt Ihr Entfernungen?«

Der mit der blutenden Backe: »Unser Feldwebel läßt bestellen, die Batterie soll auf den Rand der Höhe schießen. Von uns ist da oben bestimmt niemand mehr.« Er wendet sich zu den beiden Kameraden: »Also ich bleibe hier. Ihr haut ab, weiter nach rückwärts. Vielleicht faßt ihr das Bataillon, holt Verstärkung. Sonst ists aus.«

Die beiden schieben sich aus dem Loch, verschwinden.

Der mit der blutenden Backe sackt plötzlich zusammen, fällt schwer auf Reisiger.

»Soll der wenigstens ein bißchen verschnaufen«, sagt der Hauptmann.

Ein Schuß saust neben das Loch; die halbe Wand fällt ein. Siebert duckt sich. Dann richtet er sich auf. Kerzengerade. »Los, Reisiger, Batterie an die Geschütze, Schnellfeuer 1000.«

Reisiger steigt dem Infanteristen auf die Schulter, springt ab, steht zwischen den beiden rechten Geschützen. Denkt, wir kommen ja doch zu keinem Schuß. Wir werden auch kein Aas aus den Löchern kriegen. Da haut eine Granate vor ihm in den Boden. Er fällt um, fühlt seinen Kopf; alles in Ordnung. Er brüllt rechts und links in die Löcher: »Batterie Schnellfeuer 1000!«

Die beiden rechten Geschütze feuern. Reisiger springt weiter. Das zweite von links ist nicht mehr zu sehen. Der Haufen Alteisen ist inzwischen zu Dreck geworden. Um so besser, dann reichen die Mannschaften desto länger. Er schreit: »Erstes Schnellfeuer 1000!«

Jetzt feuern die drei Geschütze. Es geht wie geölt. Es ist allerdings unbequem. Die vorschriftsmäßigen Haltungen sind aufgegeben. Alles klemmt sich dicht an die Schilde. Die Munitionskanoniere hocken am Rand der Löcher.

Nach ein paar Minuten setzt das rechte Flügelgeschütz aus. Reisiger, der am linken Flügel steht, sieht, daß Geschützführer und Richtkanoniere tot daliegen. Statt dessen richtet jetzt Rossdorf. – So, schon in Ordnung. Geschützführer ist einstweilen nicht nötig. Das besorgt der Hauptmann.

Batterie schießt und schießt und schießt auf 1000.

Der Feind trommelt.

Es wird langsam dunkler.

Ja, um Gotteswillen, da vor uns kommen schon wieder Infanteristen. Reisiger sieht deutlich, daß sich da vorn Menschen bewegen. Er springt zum Hauptmann, zeigt mit der Hand: »Feuer stoppen«!

Siebert reißt das Glas an die Augen: »Das sind Engländer!«

Der Feind trommelt.

Über die Schutzschilde der drei Geschütze glotzen die Kanoniere der Batterie: zehn Meter vor ihnen erscheinen Engländer.

Wie viele?

Es ist schwer zu taxieren. An verschiedenen Stellen sind Bewegungen. »Karabiner!« Am mittelsten Geschütz knattern schon einige. Das Trommelfeuer ist vergessen. Die Kanoniere sind hinter dem Schild herausgesprungen, liegen auf der Anhöhe, schießen.

Da heben die Engländer die Hände!

Der Feind trommelt.

Vor dem Dritten fährt ein Volltreffer in eine Gruppe, die schnell näher kommt: ein halbes Dutzend fliegt in die Luft.

Um so schneller die anderen. Über die Anhöhe kriechen zehn, zwanzig, dreißig. Sie haben keine Waffen mehr. So gut es bei dem Trommelfeuer geht, heben sie immer wieder die Hände in die Höhe.

Gefangene? Ja, sind das Gefangene?

Was mit ihnen tun?

Es gibt keine Zeit zu verlieren, der Feind trommelt, die Batterie muß Schnellfeuer schießen. »Schnellfeuer« brüllt der Hauptmann.

Dann überlegt er einen Augenblick, was man machen soll. Die Feinde hier in die Stellung lassen, das ist vielleicht doch nicht das Richtige. Was weiß man, was noch kommt. Nachher fallen sie der Batterie in den Rücken.

»Rossdorf, die Kerls da müssen aus der Stellung. Sorgen Sie dafür, daß sie schnellstens verschwinden.«

Rossdorf sieht sie sich an. Sie tun ihm leid. Sie liegen unmittelbar unter den Rohren, erschöpft, verdreckt, angstvoll. – Es hilft nichts. Er muß sie weiter nach rückwärts jagen, ins Feuer ihrer eigenen Batterien hinein. Da sie nicht wollen, da sie ihn flehend ansehen, setzt es Fußtritte. Es hilft nichts.

Und einer nach dem andern springt nach hinten, verschwindet. Irgendwo wird man das, was heil ankommt, schon sammeln und nach Zossen abtransportieren.

Der Feind trommelt.

Siebert sieht an der Stellung entlang: Bald muß die Munition aus sein! Befehl, durchgeschrien von Geschütz zu Geschütz: »Halt Feuerpause, alles in Deckung.«

Zusammen hocken jetzt der Hauptmann, Rossdorf, Stiller und Reisiger.

Der Feind trommelt.

Wo kamen bloß die Gefangenen her? Ist das ein gutes oder ein böses Zeichen? Wenn man, verflucht nochmal, nur wüßte, ob die Batterie auf 1000 Meter richtig schießt. Oder was los ist? Und, ja, Munition! Munition! Blick zum Himmel: In spätestens einer Stunde muß es dunkel sein. Können wir dann Meldegänger nach hinten schicken? Oder wird der Wachtmeister, dieser gottverdammte Idiot, endlich von sich aus die Freundlichkeit haben? Siebert steckt den Kopf aus der Deckung, zieht ihn wieder ein: »Meine Herren, mir kommt das alles höchst mies vor. Kein Mensch kann von hinten bis zu uns vordringen. Sehen Sie sich das bloß an.«

Alles sieht zum Loch hinaus. Der Feind trommelt.

Stiller: »Ja, Herr Hauptmann, ich bin gern bereit, es zu versuchen.«

»Was?«

»Zu versuchen, bis zu den Protzen zu laufen.«

Reisiger hört das. Stiller will loslaufen? Ach, Stiller will freiwillig loslaufen? Nanu – sollte ich da nicht – wäre es nicht Pflicht –?

Er denkt das und schiebt es im gleichen Augenblick ab. Nein. Man soll nicht freiwillig, ach was, ich will nicht mehr freiwillig.

Da hört er Rossdorfs Stimme: »Munition kommt, Herr Hauptmann.«

Alle Köpfe gehen in die Höhe! Ja, Munition!

Angerast kommen drei Wagen. Einer hat nur noch zwei Pferde und außer dem Fahrer keinen Mann. Einer hat zwar sechs Pferde, aber nur auf dem Vorderpferd sitzt ein Reiter. Der Mittelfahrer hängt im Bügel, Bauch aufgerissen, und schleift mit dem Kopf im Dreck.

Schon springen die Kanoniere aus den Löchern. Her die Körbe!

Nach ein paar Minuten hat die Batterie genügend Granaten, um ein Schnellfeuer noch einige Zeit gut aushalten zu können.

Die Munitionswagen sind verschwunden.

Gottseidank gibt es keinen neuen Feuerbefehl. Die Batterie darf also in Deckung bleiben. Siebert überlegt einstweilen, wie man feststellen kann, ob eine Entfernung von 1000 Metern zu viel oder zu wenig ist.

Der Feind trommelt. Nur 1/96 verschont er jetzt einigermaßen.

Das Abladen der Munition hat Stiller überwacht. Reisiger steht neben ihm. Sie gehen auf und ab.

Es ist fast dunkel. Ein schöner warmer Himmel. Ein paar Sterne. Über der Stellung sind keine Wolken. Es ist fast tiefblau.

Stiller nimmt ein Gespräch wieder da auf, wo er es vor Tagen abgebrochen hat. »Ja ja, Reisiger, München. Bitte, stellen Sie sich vor, Sommernacht an der Isar; das Künstlerfest; ob wir das noch einmal erleben?« – Sie sind am rechten Flügel, machen kehrt, gehen auf den linken zu, bleiben da stehen, wo das zweite Geschütz von links stand. Stiller stößt ein Stück Eisen an. Das war der Lafettenschwanz.

Vor ihnen liegen die beiden toten Leuchtkugelposten. Die Erkennungsmarken sollte man ihnen wenigstens abnehmen, denkt Reisiger, und bückt sich.

Da wird es hell. Ein Krach schlägt ihm um die Ohren. Er fällt fast zurück. Dann steht er aber gerade: »Donnerwetter, war der nahe, haben Herr Leutnant . . .«

Er merkt, daß Stiller schwankt. Er sieht ihn an. Ist denn das –?

Neben ihm steht ein Mensch, schwankt hin und her. Der Mensch hat keinen Kopf mehr. Da, wo der Kopf saß, schießt ein schwarzer Strahl nach vorn.

Um Gottes willen, der Körper steht immer noch, steht immer noch, fällt nach vorn, fällt nach hinten, ja um Gottes willen . . .

Der Körper schlägt auf die Erde.

Reisiger will irgend etwas rufen: Leutnant oder Herr Leutnant Stiller –

Er reißt sich den Stahlhelm vom Kopf. Das kann doch gar nicht der Stiller sein?

Er schwenkt den Stahlhelm in der Hand. Er merkt, daß sein Gesicht verregnet ist von Tränen. Er will ins nächste Loch springen. Er sieht ein Gesicht darin: das ist der Kanonier Ziese, der bläst vergnügt den Rauch seiner Zigarette ihm entgegen. Er wendet sich zum andern Loch. Ach so, die schlafen wohl? Er jagt davon. Er springt dem Hauptmann beinahe auf die Hand. Er weint noch immer. Will irgend etwas sagen. Ja, der Leutnant Stiller hat ja keinen Kopf mehr. Er schlägt einfach vornüber. Dem Hauptmann in den Schoß. Sagt: »Leutnant Stiller ist gefallen.« Schüttelt sich im Weinen. Er spürt die Hand des Hauptmanns auf seinem Haar: »Aber Reisiger, seien Sie doch kein Kind. Tut mir ja auch leid. Das ist eben der Krieg. – Ja, Reisiger, das beste wird sein, ich habe das eben mit Oberleutnant Rossdorf besprochen, wir beide gehen mal nach vorn. Wir können ja noch einen Kanonier mitnehmen. Lassen uns ein Loch graben. Daß man endlich mal sieht, was da los ist. Es ist ja Quatsch, immer auf 1000 Meter zu schießen. – Aber Reisiger, beruhigen Sie sich doch. Also ehrlich gesagt: mir tuts natürlich auch leid um den kleinen Stiller. – Rossdorf, Sie übernehmen die Batterie. Wenn wir vorn sind: zwei weiße Leuchtkugeln: dann wissen Sie, wo wir stehen. Und dann legen Sie Telephon oder Relais.«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann.«

Reisiger setzt seinen Stahlhelm wieder auf: Mir ist das alles ganz egal. Stiller haben sie den Kopf abgerissen. Also – sie sollen schon – –

11

In enger Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräber-Fürsorge, E. V., Berlin, hat das Mitteleuropäische Reisebüro G. m. b. H. (MER), Berlin, in den Jahren 1926 und 1927 die Organisation für Einzel-Pauschalreisen zu den Kriegergräbern in Frankreich und Belgien durchgeführt. Eine große Anzahl von Anfragen der Angehörigen unserer gefallenen Soldaten sowie viele Hunderte von ausgeführten Reisen legen ein beredtes Zeugnis dafür ab, wie groß das Interesse für derartige Reisen ist. Die Reisen können jetzt ohne Schwierigkeiten ausgeführt werden, und zwar derart, daß der Reisende am Zielort in einem eigens zu diesem Zweck ausgesuchten Hotel freundliche Aufnahme findet, daß ihm zum Besuch des Friedhofes ein Auto zur Verfügung steht und die ganze Reise zu einem mäßigen Preise durchgeführt werden kann, den er bereits im voraus einschließlich sämtlicher Nebenkosten wie: Steuern, Trinkgelder etc. entrichten kann. Bei Benutzung der MER-Pauschalreisen zu den Kriegergräbern ergeben sich infolge der sorgfältigen Vorbereitungen keinerlei Schwierigkeiten für den Reisenden, auch dann nicht, wenn der einzelne über keine oder nur geringe Kenntnisse der französischen Sprache verfügt.

Es ist z. B. möglich, einen Friedhof, der etwa 20 km von St. Quentin entfernt ist, von Köln aus in 3 tägiger Reise – in Deutschland III. Klasse, in Belgien und Frankreich II. Klasse – einschließlich Unterkunft, Verpflegung, Autofahrten und aller Nebenausgaben zum Preise von RM. 80.– zu besuchen. Dieser Preis gilt für eine Person, für zwei oder mehr Personen würde er 75.- RM. pro Person betragen. Die Preise geben einen ungefähren Anhalt, mit welchen Kosten zu rechnen ist.

12

Der Feind trommelt.

Die Batterie hat ein Relais zur Beobachtungsstelle, die ungefähr 300 Meter vor der Feuerstellung liegt. Ein Loch, 2 Meter lang, 50 Zentimeter breit, 2 Meter hoch, gegraben von Hauptmann Siebert, Reisiger und Kanonier Merkel.

Merkel ist gefallen, als das Loch ausgehoben ist. Er liegt am Rand der Grube, zusammengekrümmt, gute Deckung gegen den Feind. Über seinen Hüften glotzen die Augen des Scherenfernrohrs.

Was sieht Siebert? – Die Nacht ist zerrissen, unaufhörlich, erbarmungslos zerrissen von hunderttausend nahen und fernen Flammen, die aus der Erde stechen.

Eine Beobachtungsstelle? – Außer diesen Flammen ist nichts zu beobachten. Kein Feind, kein Freund.

Das Relais: jede 30 Meter liegt in einem Granattrichter ein Mann. Kommt eine Meldung von der Be-Stelle zur Batterie oder von der Batterie zur Be-Stelle, dann springt der Mann aus dem einen Loch, so gut es geht, zum nächsten, gibt die Meldung weiter, springt zurück. Der zweite zum dritten und zurück. Und der dritte zum vierten. Eine lebendige Telephonleitung, schwer zu flicken, nur mit einem Lauf von zweimal 30 Metern zu flicken, wenn die Verbindung irgendwo durch einen Volltreffer zerrissen ist.

Die lebendige Telephonleitung gibt von Mann zu Mann eine Meldung an Hauptmann Siebert: »1/96 feuert nur noch mit zwei Geschützen. Das linke Flügelgeschütz hat Volltreffer bekommen. Kanoniere und Geschützführer tot.«

Der Feind trommelt.

Es gehen Leuchtkugeln hoch, am ganzen Horizont Leuchtkugeln, himbeerrote Leuchtkugeln.

Befehl von Hauptmann Siebert, weitergegeben durch die lebendige Telephonleitung an Oberleutnant Rossdorf: »Batterie Schnellfeuer. Ein Geschütz auf 1000, ein Geschütz auf 800 Meter.«

Die Nachricht braucht lange Zeit, bis sie zur Batterie trifft.

Reisiger sieht nach hinten, wartet, wartet. – Gott sei Dank, die Batterie feuert!

Der Feind trommelt.

Es gehen Leuchtkugeln hoch, soweit das Scherenfernrohr sich drehen läßt: himbeerrote Leuchtkugeln.

Nun gut. Die Batterie feuert.

Der Feind trommelt.

Aber immerhin, mit zwei Geschützen macht die Batterie das ausgezeichnet. Wenn der Hauptmann einmal nach hinten schielt, blenden ihn die Mündungsfeuer. Fabelhaft, daß zwei Geschütze überhaupt noch eine solche Schnelligkeit erreichen.

»So, Reisiger, jetzt sehen Sie durchs Scherenfernrohr. Ich ruhe mich einen Augenblick aus. Das ist schon eine Hölle hier, was?«

Da stürzt ein Mann der lebendigen Telephonleitung gegen die Beobachtung: »Meldung von Oberleutnant Rossdorf: Die Batterie hat nur noch ein Geschütz. Das rechte Flügelgeschütz hat Volltreffer bekommen. Geschützführer und Kanoniere sind tot. – Oberleutnant Rossdorf fragt an, ob er Stellung räumen kann. Er meint, das dritte Geschütz könne ja ruhig stehen bleiben. Man könne es morgen früh holen. Und ob Herr Hauptmann nicht auch zurückkommen könnten?«

Da stürzt ein zweiter Mann des lebendigen Telephons gegen die Beobachtungsstelle, schreit: »Oberleutnant Rossdorf soeben gefallen, läßt Unteroffizier Schulz sagen. Es leben –«

Die Beobachtungsstelle wird hell, bäumt sich auf. Der Hauptmann und Reisiger werden auf die Erde gedrückt. Wie sie wieder aufstehen, liegen die beiden Relaisposten tot hinter ihnen.

Jetzt ist es zu Ende.

Kommt da noch eine dritte Meldung?

Der Feind trommelt.

Es ist so hell, als sei Tag. Das liegt daran, daß unmittelbar an der Beobachtungsstelle unaufhörlich Flammen hochschlagen.

Ja, wirklich, da kommt noch jemand.

Reisiger faßt den Hauptmann am Ärmel.

Mit einem furchtbaren Brüllen, unmenschlich, tierisch, jagt durch das Trommelfeuer ein Mensch. Stößt die Toten beiseite. Eine Flamme schießt hoch. Reisiger sieht das schneeweiße Gesicht von Winkelmann. Er kennt es ganz genau. Sieben Stunden der letzten Nacht war es vor ihm.

Es ist verzerrt.

Winkelmann stürzt vor.

Es blitzt.

Man sieht, daß Winkelmann von oben bis unten aufgerissen ist. Die Uniform flattert zu den Seiten, die Brust liegt frei, der Bauch klafft, über seinen Händen trägt er seine Gedärme.

Er brüllt und brüllt.

Reisiger schreit ihn an: »Winkelmann – Karl!«

Es blitzt auf.

Winkelmann stolpert.

Er schlägt direkt über dem Beobachtungsloch zu Boden, fällt auf Reisiger.

Reisiger wird von einem warmen Bach übergossen.

Er hört, daß der Hauptmann irgend etwas sagt.

Der Feind trommelt.

Reisiger versucht mit Kopf und Schultern, Winkelmann beiseite zu schieben. Es rinnt ihm etwas feucht und weich über das Gesicht.

Ein entsetzlicher Krach!

Reisiger spürt, daß von allen Seiten die Erde gegen den Himmel steigt. Dann liegt eine Last auf ihm. Unerträglich schwer.

Er will rufen. Es ist unmöglich. Er will sich bewegen. Es ist unmöglich. Er will die Augen aufmachen. Er will irgend etwas tun.

Er ist eiskalt. Aber er kann ganz klar denken: Volltreffer. Verschüttet. Das Leben ist zu Ende.

Ein sehr schönes Gefühl. Das singt und surrt. Alle möglichen Klänge im Ohr. Wie leicht die Erde ist. Die Erde soll dir leicht sein. Das Leben ist zu Ende. Schade. Gott sei Dank. Gott sei Dank. Der Krieg ist aus. Wir gehen zwar nicht nach Hause, aber der Dank des Vaterlandes ist uns gewiß. Darauf kann man allerdings jetzt scheißen. Gut, das ist zu Ende – –

Zu Ende? Zu Ende? Ja, das ist ja unmöglich. Es darf nicht aus sein. Ich will leben. Leben! Leben!!

Hell wach: Ich muß leben.

Er merkt, daß er mit dem Kopf unter der Höhlung des einen Knies liegt. Aha, hier ist Luft.

Er versucht, sich zu bewegen. – Unmöglich.

Ich muß den Kopf erst einmal zwischen den Beinen herauskriegen. Unmöglich.

Er versucht, das Knie zu beugen. – Nein. Er versucht, den Fuß zu drehen. – Nein! Wenn nur auf dem Genick nicht diese Zentnerlast wäre.

Und wie ist das mit der Luft? – Er versucht, tief Atem zu holen. – Aber der Brustkorb ist so sehr zusammengedrückt.

Jetzt wird ihm heiß. Also ersticken? Also verschüttet? Lebendig begraben und ersticken.

Er dreht den Fuß. Der gibt etwas Raum. Dreht unentwegt hin und her den Fuß. Raum. Raum. Der Kopf wird freier, wird noch freier. Ist bereits zwischen den Knien. Jetzt ein Knie nach rechts stemmen. – So, das geht schon. – Jetzt die Knie zusammenschlagen. Es ist ja ein Hohlraum da. – So, das geht ausgezeichnet. – Er hört, daß an seinen Ohren die Erde herunterrasselt. Genick hoch, fest mit dem Kopf gegen die Deckung. Immer noch einmal. – Jetzt mit der Hand, stoßen, heftig stoßen.

– Die Hand spürt Luft. – Schnell zurückziehen, atmen: Ja, das Loch hat Luft.

Die eine Hand durch, die zweite hinterher und nun wühlen und die Hände drehen. Und mit dem Kopf schlagen. Und versuchen, aufzustehen. Fest das Genick gegen die Last drücken, zurück, und einen Ruck. Zurück, und einen Ruck. Noch einmal, schneller, immer schneller.

Die Erde bricht auf. Reisiger ist mit dem Gesicht im Freien.

Der Feind trommelt.

Vor ihm schlägt eine Flamme hoch.

Aber das ist so uninteressant. Er zieht tief den Atem ein. Ich lebe, jetzt Stahlhelm auf. Und Galopp, marsch marsch, ausrücken.

Da blitzts von neuem und schleudert ihn zur Erde. Und er bemerkt neben sich einen Stahlhelm. Er ergreift ihn, sieht ihn an. Nein, das ist nicht meiner.

Herrgott, unten liegt ja noch der Hauptmann. Der Stahlhelm gehört dem Hauptmann.

Schuß. Er fliegt einige Meter zur Seite. Steht halbgebückt auf, hält die Hände mit gewinkelten Ellbogen an den Kopf. So schnell wie möglich ausrücken!

Ach nein, das kann man nicht. Der Hauptmann!

Also im nächsten Satz zurück. Hier liegt der Stahlhelm. Hier ist der Sprengtrichter. An dem einen Rand ist die Erde aufgeworfen; da lag ich. Hierneben muß der Hauptmann –

Seine Hände reißen rechts und links die Schollen zur Seite, wühlen sich tiefer. Die Arme stecken bis zum Ellbogen im Loch, die Finger fassen plötzlich fest zu: Gott sei Dank, das ist der Hauptmann.

Vor allem muß ein Schacht freigemacht werden, damit der Hauptmann atmen kann.

Wie der nächste Schuß fällt, dicht neben ihm, und wie die Dunkelheit zerrissen wird, sieht er Sieberts Gesicht. Ja, es ist frei. Wenn er überhaupt noch lebt, kann er atmen.

Die Hände wühlen weiter, legen den Kopf bloß, die Haare, fassen schließlich am Rücken entlang unter die Achseln.

»Herr Hauptmann!« Er zerrt ihn und versucht, den Körper herauszuziehen. Es gelingt schwer. Immer wieder, wenn er sich aufrichtet, muß er die Last fallen lassen, weil Feuer und Sprengstücke über ihn hinwegfauchen.

Endlich ein Ruck: heraus den Oberkörper!

Schuß: Reisiger liegt, die Arme vor sich gestreckt, die Hände über der Brust des Hauptmanns gefaltet. Er kriecht auf dem Bauch rückwärts, zieht den Körper hinter sich her. Das ist sehr schwer. Es vergeht viel Zeit, bis er ihn auf ebener Erde hat.

Reisiger achtet nicht mehr auf die Schüsse. Seine Angst geht andere Bahnen. Das Gefühl, hier gegen den dämmernden Morgen völlig verlassen als einziger lebender Mensch auf einem Feld zu liegen, jagt ihm den Schrecken hoch: Der Hauptmann ist tot.

Er brüllt, er fleht: »Herr Hauptmann.« Und immer wieder, beschwörend: »Herr Hauptmann.«

Der rührt sich nicht. Liegt wie ein nasser Sack, schwer, schlapp.

Reisiger versucht, ihn an den Händen zu fassen, versucht einen Arm zu heben: Alles klatscht immer wieder zur Erde.

Der Feind trommelt.

Jetzt ist ein grauer Morgenhimmel. Wieviel besser war die Dunkelheit: Jetzt sieht man alles Entsetzen viel deutlicher, überdeutlich durch das fahle Licht verzerrt und in allen Grenzen übernatürlich vergrößert.

Reisiger überlegt: Wie gut muß es sein, mit ausgebreiteten Armen dem nächsten Schuß entgegenzulaufen, seinen ganzen Körper hinzuhalten, sich einfach zerfetzen zu lassen.

Überlegt: Die ganze Batterie ist tot. Es ist nur anständig, wenn ich mich neben meinen toten Hauptmann lege und warte, daß es mich endlich auch trifft.

Aber wie ein Schuß herunterfährt und den vielmals zerrissenen Körper vom armen Winkelmann in die Luft wirbelt, packt ihn doch wieder die Angst. Und der Wunsch, der Ruf, der Befehl, der ihn plötzlich höchster Befehl dünkt: Leben.

Er stürzt rasend auf Siebert los, kniet dicht neben ihm, schlägt ihm mit beiden Fäusten rasend auf die Brust. Seine Fäuste prasseln sinnlos, und er schreit immer lauter, immer gellender »Herr Hauptmann! – Hauptmann Siebert! – Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!«

Dann setzt er sich rittlings auf den Körper, packt Sieberts Arme fest an den Handgelenken, beugt sie, streckt sie. Er weiß, daß man Ertrunkene auf diese Weise zum Leben bringt. Er muß es auch hier zwingen.

Sieberts Gesicht ist angeschwollen, blaurot. Der Mund ist von Erde verkrustet. Die Augen – sind die Augen geschlossen? Hat nicht eben das eine Lid aufund niedergeschlagen? Reisiger beugt sich hinab. Ja, es ist bestimmt ein Zittern in den Lidern.

Er reißt Siebert den Rock auf, reißt das Hemd auf, fühlt mit beiden Händen: Ja, es ist Wärme im Körper. Preßt das Ohr gegen den Brustkorb: Eine Welt für sich, noch nicht erstickt, von keinem Trommelfeuer zu übertönen, schlägt das Herz . . . Ruckartig, sehr unregelmäßig, gewaltsam.

Der Hauptmann lebt.

Reisiger schreit lauter, immer wieder.

Er merkt, wie ihm der Schweiß über das Gesicht brennt.

Ein Schuß, ganz nahe, und noch ein Schuß: Die haben Siebert geweckt! Ganz unvermittelt schlägt er die Augen auf, richtet sich im selben Moment empor. Ein neuer Schuß. Wie merkwürdig ein Mensch funktioniert: der eben erwachte Hauptmann duckt sich, geht vorschriftsmäßig, gewohnheitsmäßig in Deckung. Und als die Splitter vorbeigesurrt sind, hebt er sich vorsichtig und sagt dann: »Reisiger, ich glaube, es wird Zeit, daß wir die Stellung wechseln.« Dabei lächelt er, ein Lächeln, sehr verlegen, ein wenig müde.

»Tut es Herrn Hauptmann irgendwo weh?«

»Aber wo wird es denn. – Sie sehen ja, Reisiger: noch leben wir.« – Wieder das verlegene Lächeln, das dann jäh umschlägt. Das Gesicht ist verzerrt, verzweifelt: »Reisiger, wo ist unsere Batterie? – Los, los, wir müssen in die Feuerstellung!«

In das Artilleriefeuer des Feindes prasseln jetzt Maschinengewehre. Der Weg vom Beobachtungsloch bis zur Feuerstellung ist nicht weit. Aber der Sprung von Trichter zu Trichter hält auf, man muß nicht nur das Surren der Granatsplitter abwarten, sondern auch darauf achten, nicht von Kugeln zersägt zu werden.

Und lagen nicht noch vor kurzer Zeit einige Zentner Lehm auf Siebert und Reisiger? Alle Knochen schmerzen, die Brust ist eingeengt, als seien die Rippen in die Lunge gepreßt. Das Atmen ist schwer. Es genügt ein Lauf von zehn Schritten, und schon fallen ihnen rote Schleier über die Augen. Springt Siebert vor, ist bereits im nächsten Trichter, will Reisiger folgen, taumelt, sackt zurück, verliert die Besinnung, wacht erst auf, als der Hauptmann umkehrt und ihn ruft.

So geht das mehrmals hin und her.

Der Tag ist hell jetzt, Morgenluft. Beide haben die Röcke aufgeknöpft, die Brust frei; ein wenig Kühlung.

Ein Sprung, hinlegen, ein Sprung, durcheinandergeschleudert werden. Und viele Sprünge. Und kein einziger Schuß mehr zu hören, der gegen den Feind geht.

Und zwischen Sprung und Sprung immer neu die Gewißheit, allein zu sein, vorn der Feind, hinten nichts.

Und dann stehen beide da, wo einmal die Weide war. Kriechen durch die ehemalige Feuerstellung. Gott sei Dank, ein wenig gedeckt durch die Anhöhe.

Aber auch das Kriechen ist eine Qual. Siebert richtet sich auf, läuft los, daß Reisiger ihm kaum folgen kann.

Und dann: 1/96.

Hier gibt es gar keine Möglichkeit mehr, auch nur sekundenlang auszuruhen. Hier ist es schlimmer, als allein zwischen Trichtern und Schüssen auf freiem Feld zu liegen.

Am linken Flügel kommen sie an. Sie durchrasen die Stellung, wagen kaum aufzusehen, hüpfen nur vorsichtig, um nicht auf die Toten zu treten.

Vorweg Siebert, Reisiger hinterher.

Überall die bekannten Gesichter. Der dicke Herbst, Gott, war der komisch, besonders wenn er besoffen war. Dann grinste er bis hinter die Ohren. – Jetzt ist das Gesicht seltsam weiß und die Augen sehen verzweifelt in den Himmel. Da, noch einmal, Reisiger läuft mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen im Bogen vorbei, Leutnant Stiller. Er muß es wohl sein, man sieht die Achselstücke. – Und weiter, weiter. Nun schon am dritten Geschütz, und kein Mensch lebt mehr. Wenn doch irgendeiner verwundet wäre, wenn doch irgendeiner die Hand höbe oder mit dem Bein ruckte. Wenn man doch irgendeine Stimme hören könnte.

Vorbei am Oberleutnant Rossdorf, kurz vor dem vierten Geschütz. Tief ist die Stirn aufgespalten, er hat eine Leuchtkugelpistole in der Hand.

Und am vierten Unteroffizier Schulz. Das Kreuz durchgebogen, sehr korrekt und schneidig, die rechte Hand am Abzug, das Geschütz könnte jeden Augenblick losfeuern. Aber der Rock ist links aufgerissen. Noch immer tropft das Blut.

Das Geschütz wird in diesem Krieg keinen Schuß mehr abgeben;

Der Hauptmann ist schon vorbei. Und Reisiger hinterher.

Die Deckung ist zu Ende. Jetzt kommt wieder das unendliche verlassene freie Feld. Weiter, weiter, weiter.

Wohin? Der Hauptmann scheint es selber nicht zu wissen. Es ist schwer, die Richtung festzulegen. Er steht einen Augenblick, springt noch ein paar Schritte, wirft sich hin.

Hinter ihm, durch die Rauchsäule eines schweren Schusses getrennt, liegt Reisiger.

Gott sei Dank, denkt er, jetzt ist der Hauptmann tot!

Jetzt habe ich keine Verpflichtung mehr, auch nur einen Schritt weiterzulaufen.

Es ist merkwürdig heiß in seiner Brust, so als stiege etwas Brennendes in ihm hoch. Wie er mit dem Handrücken über Mund und Nase fährt, sieht er, daß er aus Mund und Nase blutet.

Auch gut. Auf welche Weise man hier stirbt, ist gleichgültig. Die Lungen streiken wohl. Also doch die Verschüttung.

Der Rauch ist verschwunden. Der Hauptmann steht auf, winkt, läuft weiter.

Reisiger, Blut aus Mund und Nase, läuft weiter.

Eine Zone, die vom Artilleriefeuer verschont ist. Vielleicht 100 Meter, nicht auszudenken, ohne Rauch. Eine regelrechte Wiese, tief durchwühlt, aber um so schöner, zwischen den Sprengtrichtern weißer Klee, ach, und Wiesenschaumkraut. Nett, daß Sommer ist.

In der Luft ein Surren, Donnerwetter, das kennen wir doch. Reisiger springt weiter, prallt gegen den Hauptmann, beide fallen in einen Trichter: »Ruhig, Reisiger, bloß nicht bewegen, wieder ein Flieger.«

Aber sie nehmen doch den Kopf ein wenig hoch. Der Flieger über ihnen ist fast mit den Händen zu langen. Lächerlich niedrig. Sie sehen, daß sich hinter dem Führersitz ein breites lachendes Gesicht herausbeugt, sehen, daß zwei Hände am Maschinengewehr zerren. Und wie das Ungeheuer vorbeistößt, klatschen ihnen einige Kugeln vor die Füße.

»Verfluchte Schweine«, sagt Siebert, »die scheinens ja dicke zu haben, wenn sie sich erlauben können, auf jeden einzelnen Menschen mit Fliegern zu schießen. Wenn der Hund bloß nicht wieder kommt.«

Sie stürmen weiter.

Diesmal ist Reisiger voran. Wohin? Nur am Einschlag der Geschosse kann man ungefähr festlegen, daß man nicht gerade dem Feind in die Arme läuft.

Nein, es geht bestimmt nach rückwärts. Das Trommelfeuer läßt hier hinten doch einigermaßen nach. Vielleicht kommen endlich Reserven, vielleicht stößt man irgendwo auf deutsche Soldaten.

Reisiger hört seinen Namen rufen. Siebert winkt ihm und geht im rechten Winkel ab.

Aus der Erde etwas herausgehoben liegt da ein Hügel. Nach ein paar Schritten erkennt man ihn deutlich. Eine Betonkuppe: das muß ein Bunker sein. Ob da Infanterie ist?

Ein Schuß fährt über ihre Köpfe weg. Sie fallen zu Boden, sehen, daß das Biest direkt auf den Betonblock haut und dort abprallt, weil es die Deckung nicht zerdrücken kann.

Nach ein paar Sprüngen stehen sie vor einer Treppe, die tief in die Erde führt. Siebert ruft. Es antwortet eine Stimme von unten: »Hallo, wer ist denn da? Hier ist das Stabsquartier vom 2. Bataillon Infanterie 18.«

Aus Reisigers Mund und Nase gießt das Blut stärker. Rock und Hose sind vollkommen durchnäßt. Das Gesicht rot und die Hände.

Ein Schuß! Sie fliegen beide ein Dutzend Treppenstufen abwärts, rollen über einander, liegen auf einem gedielten Fußboden, verstört und erstaunt: Vor ihnen sitzt ein Infanteriemajor, Zigarre im Mund, daneben zwei jüngere Offiziere.

Siebert steht auf, will die Hand an den Helm legen, merkt, daß er keinen auf hat, murmelt irgend etwas und meldet: »Hauptmann Siebert, Batterieführer 1. F.A.R. 96. Herr Major, wir beide sind die einzig Überlebenden der Batterie.«

Er zeigt auf Reisiger. Reisiger will sich auch erheben. Aber wenn er sich nur ein wenig rührt, schießt ihm das Blut wie ein Bad aus der Nase, und er muß liegen bleiben.

Der Major: »Nanu, was haben Sie denn?«

Siebert: »Wir waren verschüttet, Herr Major.«

Reisiger hört das nur noch sehr schwach. Ihm scheint, er ist durch einen dicken Vorhang von der Umwelt abgesperrt. Der Vorhang schlägt dicht zusammen. Er spürt nur noch, daß er ins Dunkle geschoben wird.

Eine Weile, dann schlägt er die Augen auf, weil er seinen Namen hört. Neben ihm kniet der Hauptmann: »Reisiger, Sie bleiben hier. Ich habe mit Herrn Major gesprochen. Sie werden weggeschafft, sobald es geht. Ich suche das Regiment. Und auf Wiedersehen. Für Sie wird der Krieg ja zu Ende sein.«

Reisiger richtet sich auf: Krieg zu Ende? Nein, nein, so einfach ist das doch nicht. Selbstverständlich gehe ich mit. – Er richtet sich auf, sitzt, kniet, steht; ausgezeichnet! Das Blut aus der Nase ist ja gar nicht so unangenehm. Wenn es nur nicht immerzu in der Kehle hochstiege und den Mund füllte. Er sagt mühsam: »Ich gehe mit, Herr Hauptmann.«

Der Major winkt ab, sehr unwirsch.

Der Hauptmann schüttelt den Kopf. Er gibt dem Major die Hand, den beiden anderen Offizieren, Reisiger. Dann springt er die Treppe hinauf.

Reisiger will folgen. Unmöglich. Er bleibt am Türrahmen stehen. Er sieht dem Hauptmann nach, noch die Knie, die Gamaschen, noch die Stiefelabsätze – Fort.

Da, Gott sei Dank, noch einmal seine Stimme: »Reisiger, geben Sie mir doch Ihren Stahlhelm. Ich habe meinen liegen lassen. Sie brauchen ihn ja doch nicht mehr. Warten Sie, ich komme.«

Reisiger reißt sich den Helm vom Kopf. O nein, die Treppe werde ich schon noch schaffen. Er geht Stufe um Stufe nach oben.

Wunderschön die Sonne scheint.

Er reicht Siebert den Stahlhelm. Der faßt zu.

Ein Schuß kracht, daß der ganze Bunker sich hebt. Ein Schrei. An Reisiger vorbei fliegt in die Tiefe der Stahlhelm. An dem Lederriemen hängt festgekrampft die abgerissene rechte Hand des Hauptmanns.

Der Hauptmann saust an Reisiger vorbei, dem Helm, seiner Hand nach, die Treppe herunter.

Dann? – Dann ist wieder der schwarze Vorhang da. Wie heftig er zusammenschlägt. Über der Sonne und über dem blauen Himmel.

Die Gedanken wirbeln durch Reisiger: die abgerissene Hand meines Hauptmanns gibt mir meinen Stahlhelm zurück. Haha, ein Gruß! Helm ab, Hand ab zum Gebet . . . Kann dir die Hand nicht geben . . . guter Kamerad . . . ein prächtiger Cantus ex est . . .

Dann ist alles dunkel.

13

Von den in den Lazaretten des gesamten deutschen Heimatgebiets behandelten Angehörigen des deutschen Feldheeres wurden nach der letzten vorliegenden Statistik 90,2 v. H. wieder dienstfähig, 1,4 v. H. starben, 8,4 v. H. blieben dienstunbrauchbar oder wurden beurlaubt. (W.T.B.)

14

Großes Hauptquartier. Kriegsberichte Mai/Juni:

In den beiden letzten Monaten hat die allgemeine Kriegslage in beständiger Steigerung eine derartige Verschärfung erfahren, daß die Wende vom Juni zum Juli weniger als je zu einem zusammenfassenden Rückblick geeignet erscheinen möchte. – Es ist ja nicht das erstemal, daß uns ein vollkommener Umschwung der Lage zu unseren Ungunsten lange vor dem Einsetzen der Ereignisse, die ihn herbeiführen sollten, von der gesamten Presse unserer Gegner angekündigt worden ist.

Weder diese Ankündigungen, noch die ihnen folgenden Taten haben es je vermocht, uns die Ruhe zu nehmen.

15

Das Lebensalter von Offizieren kann bei Todesanzeigen unbedenklich angegeben werden, sofern im übrigen Nr. 23 O.Z. beachtet wird. Unzulässig: 18jähriger Leutnant als Kompagnieführer. (Oberzensurstelle Nr. 375. O.Z. 5. 7. 15.)

Todesanzeigen: 1. Lange Sammelnachrufe der Truppenteile sind verboten; höchstens 5 bis 6 Namen.

2. Sammelnachrufe von Vereinen etc. sind gestattet. (Nr. 23 O.Z. 4. 12. 14.)


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