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Siebentes Kapitel

1

Reisiger drängte sich dazu, die erste Fernsprecherwache zu übernehmen. So, glaubte er, könne er am schnellsten die Traurigkeit verscheuchen, die in ihm saß. Rabs legte sich aufs Stroh, schlief ein.

Reisiger macht Leitungsproben. »Zentrale!« – Leitung in Ordnung. Am Hörer Kriegsfreiwilliger Brinkmeier. Sie begrüßen sich: »Ihr habt Schwein gehabt, daß ihr bei den Protzen wart, hier vorn ist allerhand los.«

»Es ist doch überall Ruhe?«

»In den letzten beiden Stunden, ja. Aber wir haben ziemliche Dinger hierher bekommen in die Nähe der Zentrale. Und der Franzmann hat die Grabenbeobachtung in Klump geschossen.«

Reisiger ist erschrocken. Grabenbeobachtung? Hat es Verluste gegeben?

»Nein. Unteroffizier Karl war vorn. Als die Bande die Stellung bepflasterte, ging er zum Kompagnieführer, um die Wünsche der Infanterie einzuholen. Und als er wieder zurückkam, war die Bude Kleinholz. Und alles futsch, Mantel, Verpflegung, Telephonapparat.« – Brinkmeier lachte.

»Na, und wo ist jetzt die Beobachtungsstelle?«

»Im Panzerturm, gleich hinter dem Haus von Mosel. Da liegt ein gutes Kabel, aber rufen Sie lieber nicht an, der Hauptmann ist selber vorn. – Na, auf Wiedersehen.«

Reisiger legt den Hörer auf. »Du, Rabs, unsere Beobachtungsstelle ist kaputt. Also die Sorge sind wir los, daß wir morgen früh wieder hintippeln müssen.«

Rabs hat kein Interesse an Unterhaltungen. Er brummt und rollt sich auf den Bauch.

Reisiger blättert im Fernsprechbuch, das vor ihm liegt. Alle ein- und ausgehenden Fernsprüche müssen hier mit genauen Zeitangaben notiert werden. Das ist neuerdings so Mode.

Er schreibt: »25. September 1915«; darunter: »2.20 Uhr früh, Ablösung Kanonier Rabs und Reisiger.«

Er schlägt die Seite zurück, um sich über die letzten Meldungen zu orientieren.

Donnerwetter, da muß allerdings allerhand los gewesen sein. Er liest:

»24. 9. 15: 10.5 Uhr abends, Meldung an Abteilung: Feind hält Vorgelände seit einigen Stunden unter lebhaftem Feuer. 1/96 erwiderte das Feuer von etwa 9 Uhr abends bis 10. Dabei wurde erkannte feindliche Batterie am Südausgang von Loos zum Schweigen gebracht. gez. Fricke, 1/96.«

»11 Uhr abends. Fernspruch Hauptmann Mosel an Fricke: Karl hat gemeldet, daß Grabenbeobachtung eingeschossen ist. Soll sofort einen Unteroffizier zum Offiziersquartier schicken. Leutnant Steuwer bezieht mit diesem die Beobachtung Panzerturm.«

Reisiger versucht Rabs zu wecken, ruft mehrmals seinen Namen. Keine Antwort. Er liest weiter:

»11.20 Uhr: Meldung an Hptm. M.: Batterie hat soeben von 2. L.M.K. 417 Granaten und 388 Schrapnells bekommen. gez. Burghardt.«

»25. 9. 15: 12.10 Uhr früh. An alle Batterien F.A. 96: Infanterie meldet soeben, daß Horchposten im Abschnitt Loos starke Bewegung in den Gräben und lebhaften Zugverkehr im Hinterland festgestellt haben. Erhöhte Feuerbereitschaft für alle Batterien befohlen. – F.A.R. 96.«

»12.40 Uhr: Herr Hauptmann läßt Herrn Leutnant Fricke sagen, daß er sich auf die Beobachtung Panzerturm begeben hat. Herr Leutnant Fricke soll für erhöhte Wachsamkeit der Posten sorgen.«

Da summt das Telephon. Es spricht Beobachtung Panzerturm: »Hier Unteroffizier Karl – ach, Reisiger, Sie sind da – Ich wollte nur die Verbindung prüfen.«

Er hängt ab. Ein bißchen mehr, denkt Reisiger, hätte er auch sagen können. Dann nimmt er wieder das Buch zur Hand.

»25. 9. 1.50 früh. Meldung an Division: Offizierspatrouille hat 1 Uhr nachts festgestellt, daß Feind Drahtverhaue vor Gräben weggeräumt hat.«

»1.55 Uhr. Regimentsbefehl: Die in Ruhe befindlichen Kanoniere sämtlicher Batterien sind sofort in die Feuerstellungen zu kommandieren. F.A.R. 96.«

»2.2 Uhr. Leutnant Fricke soll weitergeben: Die Protzen von 1/96 sind sofort zu alarmieren, bleiben aber einstweilen angespannt in Annay. Wachtmeister soll Pferde von Hptm. Mosel und Ltn. Steuwer mit Burschen zum Offiziersquartier schicken, außerdem sofort zwei Meldereiter zur Feuerstellung. gez. Mosel.«

Reisiger sieht nach der Uhr. Es ist kurz nach 3. Er hat also noch eine Stunde Zeit, bevor Rabs ihn ablösen muß. Was tun? Irgend etwas ist nicht ganz geheuer. Andererseits ist jetzt auf der ganzen Front Ruhe. An einen Angriff kann man eigentlich nicht glauben. Er zündet sich eine Zigarette an und schreibt einen Brief nach Hause. Zwischendurch ruft noch mehrmals das Telephon: Jedesmal denkt er, irgendeine interessante Nachricht erwischen zu können, aber es handelt sich immer wieder nur um Leitungsproben. Schließlich fragt er im Panzerturm um Neuigkeiten an. Unteroffizier Karl flüstert, er könne nicht viel erzählen, der Hauptmann hätte sich einen Augenblick hingelegt, aber es sei auch nichts los.

4 Uhr. Reisiger ist müde geworden. Ihn friert. Er geht zur Tür und spannt die Zeltbahn vor der Öffnung fester in den Rahmen. Er sieht einen Augenblick ins Freie. Es dämmert schon, man kann die Häuser von Lens erkennen.

Die Batterieposten hacken mit lauten Schritten die Straße.

Wie er sich wieder hinsetzen will, werden die Schritte schneller. Was ist?

Da reißt der eine Posten die Zeltbahn herunter und schreit: »Rote Leuchtkugeln!«

Und überall schreien Stimmen: »Rote Leuchtkugeln!«

Gleichzeitig summt das Telephon wie irr.

Reisiger nimmt den Hörer ab, gibt Rabs mit dem Fuß einen Tritt, hört Panzerturm, Unteroffizier Karl, kalt und ruhig: »Batterie an die Geschütze!«

Er wirft den Hörer auf den Tisch: »Rabs, geh du an den Apparat«. Kellertreppe hinauf, »Batterie an die Geschütze«, in das Zimmer des Unteroffiziers gebrüllt, zum ersten Stock hinauf, lauter dasselbe Kommando, Treppe herunter und auf die Straße: »Batterie an die Geschütze!«

Er ist noch nicht wieder unten im Fernsprechkeller, da erscheint Leutnant Fricke: »Melden Sie: Batterie feuerbereit!«

Eine Sekunde später vom Panzerturm her: »Ganze Batterie Sperrfeuer!«

Batterie schießt. Die Häuser wackeln, Kalk knistert an den Kellerwänden.

Rabs: »Herr Hauptmann läßt fragen, ob die Batterie Feuer bekommt?«

Fricke geht an den Apparat: »Ich möchte Herrn Hauptmann selber sprechen.«

Mosels Stimme ist so laut, daß Rabs und Reisiger jedes Wort verstehen.

»Hörst du? – Angriff«, sagt Rabs. Beide lauschen wieder. »Donnerwetter auf der ganzen Front, hast du gehört, Rabs? – Aber unsere Batterie pulvert ja nicht schlecht!«

In den Keller springt vom Hausflur aus ein Mann: »Herr Leutnant, wir kriegen Feuer, zwei Schüsse lagen direkt vor dem 6. Geschütz.«

Fricke unterbricht einen Augenblick das Gespräch mit dem Hauptmann. »Batterie feuert weiter!« – Dann: »Herr Hauptmann, Schüsse des Feindes liegen in der Stellung.«

Darauf reagiert der Hauptmann nicht. Man hört: »Herr Leutnant, Batterie soll schneller feuern und die Entfernung –«

»Schneller feuern!« brüllt Fricke. Dann wird er nervös: »Hallo, hallo – aus – Herr Gott Sakrament, ist denn euer verfluchter Apparat nicht in Ordnung, steht doch nicht herum, ihr blöden Affen.« Knallt den Hörer auf den Tisch: »Ich muß die Verbindung mit der Beobachtung wieder haben.«

Reisiger und Rabs untersuchen den Apparat. Alles in Ordnung. Aber drüben antwortet keiner. Also: die Leitung ist zerschossen.

»Dann schert euch gefälligst« – das ganze Haus fährt unter einem dumpfen Krach zusammen – »dann schert euch gefälligst sofort auf Leitungspatrouille. Ohne Telephon sitzen wir doch hier, verdammt noch mal, in einer Mausefalle. Was sollen wir denn –«

Ein neuer Krach hebt das Haus, daß der Erdboden des Kellers sich schräg stellt. Holz splittert. Güsse von zersprungenen Fensterscheiben schütten auf das Pflaster.

Rabs und Reisiger sind durch die Wut des Leutnants und durch die beiden Einschläge verwirrt. Endlich schnallen sie das Koppel um und nehmen das Prüfungsgerät. »Beeilt euch«, sagt Fricke etwas sanfter und schiebt sie nach der Straße zu vor sich her.

Im gleichen Augenblick schlägt eine schwarze Wolke ihnen entgegen. Ein Luftdruck haut sie an die Wand, sie taumeln zurück.

»Verdammt noch mal«, knirscht Fricke. »Dann müßt ihr versuchen, vorn an den Flinten vorbeizukommen.«

Sie gehen alle drei die Kellertreppe hinauf und treten auf den Hof. Vor ihnen im Waschhäuschen dampft das Dritte Geschütz. Das Dach ist abgerissen, die Ziegel liegen zwischen den Kanonieren. Das Geschütz feuert mit der Präzision der Maschine.

Fricke geht zu Burghardt, schreit ihm ins Ohr: »Ich habe keine Verbindung mit dem Hauptmann.«

Burghardt schreit zurück: »Dann müssen die Fernsprecher auf Leitungspatrouille; einen würde ich aber unten am Apparat lassen, vielleicht schickt Herr Hauptmann selber einen Trupp aus.«

Fricke winkt Rabs: »Ab!«

Rabs springt in langen Sätzen geduckt aus der Stellung.

Reisiger geht allein in den Keller zurück.

Es ist unheimlich, allein zu sein. Oben wird man wenigstens vom Lärm und vom Qualm betäubt und weiß, was Freund und Feind ist. Hier unten ist nur sinnloses Trommeln.

Das Telephon summt.

Wieso summt das Telephon? Das ist doch kaputt. Er nimmt den Hörer ab und meldet lächerlich korrekt: »Hier Dritte Batterie F.A.R. 96.«

Hauptmann Mosel, kaum noch zu erkennen, kaum noch menschlich, überbrüllt sich: »Gasangriff!«

2

Immer ist ein feines Pfeifen in der Luft. Und von der Tiefe des Feldhanges, der sich hinuntersenkt gegen das Tal, klingt ununterbrochen ein lustiges Knallen herauf; als stände da drunten die Schießstätte des Münchner Oktoberfestes. (Ludwig Ganghofer, »Reise zur deutschen Front 1915«)

3

Hauptmann Mosel steht am Scherenfernrohr im Panzerturm. Warum er soeben »Gasangriff« ins Telephon gebrüllt hatte, ist ihm nicht klar. Unterbewußtsein? Er begreift, versteht, übersieht im Augenblick durchaus nicht, was geschah und um was es geht. Gewiß, der Feind hatte die Gräben beschossen. Aber das war nichts Neues. Und es galt nicht einmal der Infanterie; die Mehrzahl der Schüsse sausten ja nach Lens hinüber.

Gasangriff? Wieso?

Aber – aber nun? Hört man nicht sehr deutlich ein scharfes pfeifendes Zischen?

Er preßt seine Augen an das Scherenfernrohr. Was, um Gottes willen, geschieht? – Deutlich sichtbar steigen unmittelbar vor der ersten feindlichen Linie geballte weiße Wölkchen auf, eins neben dem andern.

Und das Zischen? Ja! Immer deutlich das Zischen!

Die weißen Bällchen schieben sich über dem Erdboden ineinander; bilden schließlich vor dem ersten Graben des Feindes einen dicken schwer wogenden Vorhang.

Sieht denn das die Infanterie nicht?

Er nimmt die Augen vom Glas und rollt über sich die Klappe des Panzerturms ein wenig beiseite. Er horcht.

Immer nur das Zischen. Immer nur das Zischen.

Die Infanterie schießt nicht.

Es ist Totenstille.

Er reißt die Klappe des Panzerturms wieder zu.

»Karl, draußen ist eine unverständliche Stille – sehen Sie mal durchs Scherenfernrohr.«

Und während der Unteroffizier sich aufrichtet, »wenn doch bloß die Infanterie schießen wollte! Scheißer!«

Karl hat die Augen am Glas. Nach einer Weile dreht er sich gelähmt um und nickt unmilitärisch: »Herr Hauptmann können es glauben – Gasangriff.«

Das bringt Mosel wieder zur Besinnung. Er schiebt Karl beiseite. Die Wolke ist dichter geworden. Sie liegt jetzt wie eine Mauer auf der Erde. Nein, sie liegt nicht, sie kriecht. Sie kriecht langsam heran.

»Es hat keinen Sinn, daß unsere Batterie immer noch in den feindlichen Graben schießt. Telephonieren Sie: Schnellfeuer Zwölfhundert.«

Batterie! Niemand meldet sich. »Die Leitung ist schon wieder zerschossen, Herr Hauptmann.«

Die Wolke kommt näher.

Wenn man um des Himmels willen feststellen könnte, was hinter der Wolke los ist?

»Haben wir denn wenigstens Verbindung nach vorn? Es ist ja unbegreiflich, daß die Infanterie nicht schießt, Karl.«

Der Unteroffizier ruft an. – Keine Antwort.

Was tun? Was tun, was tun?

Da hebt Karl den Finger: »Herr Hauptmann, jetzt schießen sie.«

Ja, die Infanterie schießt. Es prasselt. Es knattert und pfeift. Mosel wird elastisch und fröhlich. Blickt durchs Scherenfernrohr: »Aber heftig schießt die Infanterie!« Er sieht, wie die Mannschaften vor dem Graben stehend die Flinte immer wieder an die Backe reißen, andere feuern kniend, andere haben sich bis zum Bauchnabel aus der Brustwehr gehoben, schwingen Handgranaten.

Das Toben der Hölle bricht los.

Bravo, großartig, denkt Mosel, jetzt kriegt die Sache endlich den richtigen Schwung.

Nur – die Wolke? Halblaut: »Die verfluchte Schweinerei ist bloß, Karl, daß man die Wolke nicht zerschießen kann. Sie ist bald am Graben, höchstens noch 5 Meter – die ganzen verfluchten deutschen Batterien schießen sinnlos 600 Meter oder was weiß ich wie weit hinter das Gas.«

Er reißt sich mit einem Ruck vom Scherenfernrohr weg: »Wir müssen in die Feuerstellung. Los, versuchen, daß wir unsere Pferde kriegen! Scherenfernrohr abbauen! Telephon mitnehmen! – Los!«

Karl: »Aber Leutnant Steuwer ist ja noch bei der Infanterie . . .«

»Darauf können wir nicht warten. Er wird sich schon selber helfen.«

Wie sie aus der kleinen Öffnung des Panzerturms herauskriechen, hören sie das pfeifende Zischen schärfer. Mosel sieht über den Laufgraben, zieht den Kopf ein: »Wenn wir nicht im Galopp die Batterie erreichen, ist die Gaswolke eher da als wir.«

Sie rennen hintereinander her. Der Annäherungsgraben ist zu Ende. Sie springen heraus.

Hier standen gestern sechs leidlich unversehrte Häuser. Jetzt sind sie ein Feuerherd, aus dem Flammen schlagen.

Weiter! Wenn die Hunde bloß nicht die Pferde erschossen haben!

Vorbei an der Fernsprechzentrale.

Mosel ist in Versuchung, hineinzuspringen. Dort sitzen ja auch von 1/96 einige Kanoniere.

Aber es genügt ein Blick: Der schwere betonierte Keller ist eingedrückt. – Also alle tot, denkt er.

Drüben das Offiziersquartier.

Es hat kein Dach mehr. Das Haus ist bis auf den Keller durchschlagen, trotzdem die Barrikade noch steht.

In der einen Ecke des Trümmerfeldes hockt eine Kommode mit grüner Plüschdecke. Darauf liegt ein Bild im Rahmen: Mosels Frau.

Sinnlos.

Ein Sprung – das Haus ist erreicht. Gott sei Dank, hinter der Barrikade stehen Burschen und Pferde.

»Herr Hauptmann, so ein Feuer haben wir effektiv noch nicht gehabt.« Mosel reißt ein Pferd an der Kandare herum, zieht sich in den Sattel, galoppiert ab.

4

Dem Soldaten ist das kalte Eisen in die Faust gegeben, und er soll es führen ohne Schwächlichkeit und Weichlichkeit. Der Soldat soll totschießen, soll dem Feinde das Bajonett in die Rippen bohren, soll die sausende Klinge auf den Gegner schmettern, das ist seine heilige Pflicht, ja, das ist sein Gottesdienst. (»In Gottes Namen durch« von Divisionspfarrer Lic. Schettler, Verlag Karl Siegismund, Leipzig. 1915.)

5

Hauptmann Mosel reitet:

Ja, ja, mein Junge, dir ist der Krieg wohl auch schon ungewohnt, komm, bleib hier, bocken gilt nicht. Nein, nein, hier links um die Ecke. So, also gut Galopp. Aber, wenn du dir das Bein brichst, hab ich keine Schuld, merk dir das gefälligst. Donnerwetter, ein anständiges Kaliber. Bums, da sitzt er. Verflucht noch mal, macht der Rauch. Ruhig, ruhig, du bist ja ganz naß geschwitzt. Au, auf ein Haar. Na, siehst du, da ist ja schon der Bahndamm. Ach, das Haus von Mademoiselle Lilli brennt nun auch, Gott sei Dank. Ich möchte wissen, was die Bengels für einen Gefallen dran finden, ihren eigenen Landsleuten das Dach über dem Kopf – Himmelherrgottsakrament! Nee, hier kommen wir nicht weiter. So, warte mal, nun komm, sei ruhig. Jawohl, du bist ein schönes Pferd. So, sei ruhig, wir bleiben hier hinter dem Giebel stehen, bis die Affen ihre lächerlichen Flinten woandershin gerichtet haben. Da wieder eine Lage. Au der ging zwischen die Telephondrähte. Ach, und da standen noch Zwiebeln im Garten. Ja, ja, c’est la guerre. Herr Gott noch mal, wo bleibt denn Steuwer? Schließlich haben sie den noch gewischt. Leutnant Steuwer! Sei doch nicht so nervös. Ach, daran gewöhnt man sich. Na, schlag nicht so mit dem Kopf. So, also komm schon, jetzt reiten wir einen anständigen Galopp bis zur Batterie. Freies Feld. Vielleicht ist es doch besser, im Chausseegraben zu kriechen. Du lieber Gott, natürlich ist das Gas. Sieht widerlich aus. Jetzt ist aber wirklich Eile. Wenn die Kerls bloß den Atemschützer vor die Schnauze gebunden haben. Um Gottes willen, die Wolke ist schon bis an die Sechste Batterie. Arme Jungens. Unverständlich, daß die Infanterie keine Reserve hier hat. Mit ein paar M.G.s ist der Laden zu schmeißen. Das Gas giftig? Wäre schon eine Sauerei. Los jetzt. Nein, du darfst nicht so bocken. So ist gut, Kopf geradeaus, siehst du, das ist ein anständiger Galopp. Herrgott, die Häuser in der Feuerstellung brennen. Ja, mein Junge, und wenn es das Leben kostet, das hilft nichts. Und die Wolke kommt immer näher. Wenn man bloß wüßte, was das für ein widerliches gelbes Zeug ist. Atemschützer, ob ich selber meinen umbinde? Schließlich doch zu albern. Nanu, wo ist denn das Bahnwärterhäuschen? Donnerwetter, weggepustet. Geh Schritt, hier kommt ja kein Mensch durch. Sieh an, die Aasbande schießt mit Maschinengewehren. Nee, warte mal, hier ist es brenzlig. So, komm. Na, hab doch keine Angst. Gleich sind wir da. Donnerwetter, daß die Affen gerade immer auf die Straße schießen müssen. Soll ich den Gaul laufen lassen? Steuwer? Der hat doch sonst keine Angst? Aha! Na, der hat Glück gehabt. Das war bestimmt kein Meter vor ihm. Steuwer, sieh da, mit Schnurrbartbinde. Die Küken sind immer schlauer als die Henne. Verflucht noch mal, das ist ja fast, als ob der Franzmann direkt richtet. Und wie das stinkt. Die Infanteristen sagen Krakauer dazu. Kra-kauer, eigentlich ein sehr nettes Wort. Kra-kauer. Poesie des Krieges, albern, außerdem haben wir ja wirklich andere Sorgen. Ja, lieber Fritz, wir trennen uns hier, wenn die Herren Burschen hinterherkommen, werden sie dich ja auffangen. Tut mir leid. Auf Wiedersehen. Eigentlich nicht sehr fein. Ich möchte ja überhaupt wissen, was so ein Pferd sich im Krieg denkt. Und nun sogar Gasangriff. Gasangriff. Herrgott ja, Gasangriff. Die Sechste Batterie schießt nicht mehr. Ja, das ist doch undenkbar. Gut, daß meine schießt.

Zwölfhundert, na wenn das man noch langt. Aber Fricke ist ja kein Esel. Zwölfhundert, zwölfhundert, das war vor einer Viertelstunde, oder vor einer halben, aber wenn der Franzmann rennen kann, dann könnte er . . . – Blöde Hunde! Wenn mich jetzt jemand sieht, aber was soll man machen? Immer rin mit der Nase in den Dreck, besser als, na Gott sei Dank, gleich werden wir die Sache regeln. »Wo ist Leutnant Fricke, Posten?« Ach schade um den armen Kerl. Einer von den Alten. Na, der hats besser als wir, hat keine Sorgen mehr. Aber blaß im Gesicht. Wir dürfen nicht vergessen, nachher seine Stiefeln auszuziehen. Wachtmeisterhaus brennt ja auch. Wo ist denn Leutnant Fricke?

6

Mosel springt mit einem Satz über den toten Posten hinweg.

Ein Blick nach rechts, nach links. Über dem Fernsprechunterstand ist das Haus bis auf die Grundmauer zusammengeschossen.

Aber sonst? – Gott sei Dank, Batterie ist noch im Schnellfeuer. Wachtmeister Burghardt kommt: »Herr Hauptmann, wir schießen auf 800, ich habe das Kommando selbständig gegeben. Fernsprechunterstand mit Leutnant Fricke und Kanonier Reisiger ist verschüttet. Ich habe keine Leute, um nachzugraben.«

Er macht eine verlegene Handbewegung. Mosel versteht.

Weg mit dem Pferd, soll es laufen, wohin es will.

Und aufrecht an den Geschützen entlang durch die Feuerstellung.

Die Bedienung vom linken Flügelgeschütz ist vollzählig, schießt, läßt sich nicht stören.

Beim nächsten Geschütz geht das Schießen langsamer. Auf dem Richtsitz hockt der Unteroffizier, auf dem Ladesitz ein alter Kanonier. Die beiden Menschen bedienen vollkommen allein. Die drei anderen liegen in einem Haufen neben dem Lafettenschwanz.

Mosel tritt vorsichtig darüber hinweg.

Fünftes und Sechstes Geschütz scheinen vollzählig zu sein. Nein. Der Unteroffizier Lahne liegt neben Rad des Sechsten mit aufgerissenem Leib. Aber geschossen wird.

Erstes und Zweites Geschütz sind in Ordnung.

»Wachtmeister, wir können doch nicht ohne Beobachtung immer auf 800 weiterschießen. Habt Ihr denn gar keine Verbindung?«

Burghardt kommt nicht zur Antwort. Halbrechts vor der Batterie tauchen Gestalten auf, die heftig mit weißen Tüchern winken. »Herr Hauptmann!«

Mosel reißt das Glas an die Augen: Es sind Deutsche, sie kommen mit langen Sprüngen näher. Nach einer Weile: Es sind deutsche Artilleristen.

»Batterie Feuerpause!« Ja, um Gottes willen, schießen wir denn auf unsere eigenen Soldaten?

»Herr Hauptmann, das sind Kanoniere der Sechsten Batterie.«

Aus der Gruppe der winkenden Menschen stürzt ein Unteroffizier: »Herr Hauptmann, der Feind ist durchgebrochen. Wir sind die einzigen, die er nicht geschnappt hat. Das Gas ist an allem schuld.«

Das Gas? Ach, verflucht, das Gas! Jetzt sieht Mosel, daß eine weiße Wolke bis auf 400 Meter an die Feuerstellung herangekommen ist.

»Geschützführer, Geschütze sofort auf die Straße bringen!«

Wie soll das geschehen? Die Räder stehen fußhoch im Geröll, dazwischen liegen die Toten.

Aber die 6. Batterie ist geschnappt und die Gaswolke wandert, und es muß gelingen.

An jedes einzelne Geschütz alle Mannschaften! Mit Langtauen ziehen, mit Spitzhacken Bahn frei machen!

Die Gaswolke kommt näher!

Es gelingt. Nur die Dritte Flinte will nicht weichen. Sie steht wie einbetoniert zwischen den Resten des zusammengesackten Hauses.

Man versucht es immer wieder. Eben spannen sich Burghardt und Mosel mit ins Tau. Da schlägt ein prasselnder Hagel auf das Schutzschild. Maschinengewehr!

Maschinengewehr, Maschinengewehr? Dann ist der Feind nicht nur vorn durchgebrochen, dann muß er in wenigen Minuten die Gaswolke zerreißen und in die Feuerstellung einfallen.

Alles liegt platt auf der Erde. Es sirrt über sie hinweg, klatscht auf die Steintrümmer. Noch eine Weile, noch eine Weile, verflucht dieses Sirren.

Da biegt Leutnant Steuwer keuchend um die Ecke am rechten Flügel. Er kriecht auf allen Vieren heran. »Höchste Zeit«, schreit Mosel durch die gewölbten Hände. »Ich rücke mit den Geschützen, die wir herausgekriegt haben, Richtung Lens ab. Sie sorgen dafür, daß die Flinte hier zerstört wird. Alles folgt mir, bis auf drei Mann, die mit dem Leutnant die Karre hier in Klump hauen.«

Wie Kaninchen huppen sie ab, einer hinter dem andern, verschwinden.

Steuwer schlägt mit einer Spitzhacke aufs Rohr des Geschützes. Die Hacke biegt sich krumm. Er wird blau vor Wut. Dann mit Gott den Verschluß raus. Er zerrt am Verschluß und haut ihn in den Dreck. Die Kanoniere schaufeln Sand und Steine ins Rohr. So, gut besorgt. Aus der Mündung kommt kein Schuß mehr.

Und ab, den andern nach. Sie springen über die Haustrümmer, stehen nun gedeckt auf der Straße.

Alle Häuser brennen. Die zersplitterten Fensterscheiben sehen wie Goldpapier aus. Schweinerei, adieu Bett und Tornister und Decke und Freßgeschirr.

Am letzten Giebel rechts hält der Meldereiter der Protzen, das Pferd am Halfter. Gerade zerspringt ein Schrapnell über ihnen. Der Gaul steckt den Kopf zwischen die Beine. Ehe der weiße Rauch abzieht, klatscht der zweite Schuß. Hier, solange die Häuser noch stehen, ist gegen Schrapnells alles leidlich gedeckt. Eine zusammengepferchte Herde hockt die Batterie beieinander.

Dritter, vierter Schuß.

Jetzt wirds dem Hauptmann zu dumm. »Wir müssen schießen! – Geschützführer!«

Und als sie um ihn knien: »Die Geschützführer handeln selbständig! Wir müssen zum Schuß kommen. Aufstellung Straße nach Lens, möglichst an Häusern gedeckt. Packt so viel Munition auf die Lafetten, wie ihr fahren könnt!«

Also noch einmal vor die brennende Stellung. Munitionskörbe wandern von Hand zu Hand. Dann: »Kanoniere an die Geschütze! Abschieben!«

Die Geschütze fahren an.

Mosel und Steuwer vorweg. »Protzen holen«, brüllt der Hauptmann zum Meldereiter. Der galoppiert gestreckt ab.

Die beiden Offiziere hinter ihm her. Sie laufen geduckt. Wie sie die Lenser Straße erreichen, jaulen überall Detonationen auf. Hinlegen, auf, bis endlich ein Hausflur zu fassen ist. Deckung. »Wie sollen bloß die Geschütze bis hierher kommen?«

Mosel sieht die Straße herauf.

Es glückt. Schon biegt das erste Geschütz auf die Straße ein. Ein Kanonier trägt auf der Schulter den Lafettenschwanz, die anderen schieben an den Sitzen und an den Radnarben. Bravo. Kein Mensch denkt an das feindliche Feuer. »Steuwer, die Batterie ist glänzend!«

Und nun die andern Geschütze. Schnell, schnell, ein paar hundert Schritt, dann werden wir zeigen, daß wir noch hier sind!

Der Führer des ersten Geschützes springt hoch. Das Blut schüttet aus seinem Mund. Schade.

Aber die andern machen einen kleinen Bogen um ihn, kommen näher.

Die beiden Offiziere haben die Deckung verlassen, gehen neben ihnen.

Die Schrapnells liegen viel zu weit jetzt und zu hoch. Sie sind harmlos.

Im Sturmschritt kommt Infanterie von Lens her ihnen entgegen. Zwei lange Reihen, an die Häuser gedrückt, Gewehr schußbereit im Arm.

Sie beachten einander nicht.

Endlich: »Batterie halt. So, Jungs, jetzt könnt ihr schießen!«

Zwei Geschütze stehen an der rechten, drei an der linken Straßenseite, eng gestaffelt. An einem Richtsitz hockt Mosel, drüben, bei der anderen Gruppe, Steuwer.

Alle Augen lauern.

Das Artilleriefeuer des Feindes ist von der Straße verschwunden. Es scheint um die Kirche von Lens vereinigt. Von dort her bellt es ununterbrochen.

Die Ruhe im Vorfeld martert. Irgend etwas muß doch geschehen. Das Gas muß doch sichtbar werden. Oder die Infanterie, die eben vorging, muß zurückkommen. Oder der Feind muß endlich erscheinen.

Nichts geschieht. – Warten.

Die Batterie wartet, eine Minute ist eine Stunde. Wartet zehn Minuten.

Dann ist das Gas da. Ja ist es das Gas? Ein dünner Nebel kriecht in die Straßenmündung.

Mosel reißt das Fernglas hoch. Schreit: »Atemschützer anlegen!«

Die Mullbinden werden umgebunden.

Das ist das Gas? Alle Augen saugen sich an der Wolke fest.

Unruhig ist sie. Sie schwankt, schaukelt, schwappt an manchen Stellen hoch, eine Gardine im Wind. Sie zerreißt.

»Herr Hauptmann!« Es erscheinen gedrängt Gruppen von Menschen.

Jetzt kommt unsere Infanterie zurück? Vereinzelt? Dann wird es wohl – –

Mosel hat das Glas noch an den Augen. Nun brüllt er, kochend: »Jungs, das ist der Feind! Engländer! Aufsatz tief – aber nur schießen, wenn ihr ordentlich einhauen könnt, Munition sparen!«

Richten, richten, richten!

»Schuß!«

Da fliegt eine ganze Gruppe von Menschen in die Luft. Vom ersten Schuß.

Alle Augen fressen sich fest an dieser Gruppe. Ein Engländer liegt noch in den Knien. Man sieht deutlich, daß er aufsteht. Dann fällt er, wie er zurückspringen will, mit dem Gesicht auf die Steine.

Eine neue Gruppe ist sichtbar.

Nun beginnt eine Jagd. Schuß! Schuß!

Die Geschütze werden eifersüchtig aufeinander. Bitte, ihr habt bereits, jetzt sind wir an der Reihe. Schuß!

Trotzdem stoppt der Feind nicht. Die Engländer scheinen fassungslos, denken nicht daran, selber zu schießen.

Moderner Schlachthof: man treibt Vieh in eine Gasse, breit am Anfang, dann enger, dann in den Tod, und keins kann zurück, weil das Drängen hinter ihm ist.

Und immer neue dichte Gruppen, immer neue. Jetzt sehen die vorderen endlich die toten Kameraden vor sich, wollen weichen. Aber hinter ihnen ist das Drängen. Der Wall über die Straße wird höher.

1/96 wird von Schuß zu Schuß lebhafter.

Hier ist keine Deckung nötig, keine Vorsicht, keine Furcht; alles wird wie auf dem Exerzierplatz behandelt: geradeaus vorgehende Infanterie!

Unfaßbar, daß das Ziel, lebende Menschen, sich ohne jede Gegenwehr abschießen läßt.

Endlich hat der Feind begriffen, woher der Tod kommt. Von halblinks, aus der Richtung der alten Feuerstellung, schlägt scharfes Maschinengewehrfeuer in die Batterie.

Flankenfeuer! Nun liegen die Kanoniere auf der Erde. Wenn man wüßte, wo das M.G. steht!

Mosel kriecht vor. Er versucht mehrmals, den Kopf zu heben. Aber die Kugeln rasieren das Gelände, ausgeschlossen, das Fernglas ans Auge zu heben. »Alles in Deckung! Nicht mehr feuern!«

Und schon meckert ein zweites M.G. Da, von rechts, ein drittes.

Mosel kann nicht einmal die paar Schritt rückwärts bis zum ersten Geschütz. Man ist festgenagelt.

Warten.

Einer am dritten Geschütz gellt plötzlich: »Muuuuter!«

Nicht einmal helfen kann man ihm. Dabei schlägt er wild um sich, und man müßte ihn verbinden.

Alles wie festgenagelt. Wer den Kopf hebt, hat für immer genug.

Warten.

Plötzlich Lärm. Von Lens her. Mosel schielt zurück. Um Himmels willen, die Protzen kommen. Wenn die zwischen die M.G.s hier geraten, ist alles aus.

Die Protzen? Ja. Das Rasseln ist laut genug: alle hören es. Es gibt nur eins, um eine Rettung zu versuchen: jedes Geschütz einzeln noch mehr zurückziehen. Wer fällt, fällt.

Kommando. Es wird weitergeschrien: Zurück! Den Protzen entgegen.

Und, wenn möglich, mit dem Taschentuch vorsichtig wedeln, daß Hollert es merkt.

Langsam, dicke Schildkröten, gehts mit den Geschützen rückwärts. An allen Rädern zerrt es, mit gestreckten Armen, schwer geruckt, um Zentimeter. Und Steuwer schlängelt sich, einen weißen Lappen zwischen den Zähnen, Nase beinahe im Rinnstein. Und gibt Signale.

Die Protzen halten!

Wenn nur die Garben der M.G.s nicht mitwandern.

Nein.

Batterie zurück, um Zentimeter. Dann, da die schweren Flinten ins Rollen gekommen sind, mit lebhafter Kraft um Meter. Und schnell mehr. Und schnell immer weiter rückwärts.

Protzen drücken sich an die Häuser, zwei rechts, drei links.

Die M.G.s schlagen Staub auf, Steinsplitter, immer an der gleichen Stelle.

Und – »Aufprotzen!!« – »Nach – rückwärts. Batterie Trab!«

Trab!

Da kommt um die Biegung der Hauptstraße der Regimentskommandeur. Mit Stab. Mosel meldet, auch für den Rest der Sechsten Batterie.

Kurze Überlegung: »1/96 bezieht Stellung dort im Garten, gedeckt. Beobachtung möglichst in Höhe der früheren Stellung. – Abwarten!«

Der Hauptmann gibt Steuwer den Befehl weiter. Da ist der Garten, hinter einem Holzzaun. Er wird eingeschlagen, Batterie galoppiert hinein, Geschütze heben Deckung aus, Protzen zurück auf Straße nach Annay. Telephonverbindung herstellen!

Vom Feind ist nichts mehr zu sehen. Er schweigt ganz. Die Gaswolke ist fort.

»Schade um die Sechste«, sagt der Kommandeur. »Das Regiment hat in den letzten Tagen viel geblutet. – Glauben Sie, daß wir die Geschütze retten können? Sorgen Sie heute Nacht dafür, Herr Hauptmann Mosel.«

»Zu Befehl, Herr Oberstleutnant.«

»Und suchen Sie sich sofort eine Beobachtung. Und Leitung zum Stabsquartier legen lassen. Hinter der Kirche, im früheren Pionierkasino.«

Er verschwindet.

Mosel reitet der Batterie nach.

7

Generalstab 3. Bureau
Nr. 8. 565

14. IX. 1915
Geheim.

An die kommandierenden Generäle:

Der Geist der Truppen und ihr Opfermut bilden die wichtigste Bindung des Angriffs. Der französische Soldat schlägt sich um so tapferer, je besser er die Wichtigkeit der Angriffshandlungen begreift, woran er beteiligt ist, und je mehr er Vertrauen hat zu den von den Führern getroffenen Maßnahmen. Es ist deshalb notwendig, daß die Offiziere aller Grade von heute an ihre Untergebenen über die günstigen Bedingungen aufklären, unter denen der nächste Angriff der französischen Streitkräfte vor sich gehen wird. Folgende Punkte müssen allen bekannt sein:

1. Auf dem französischen Kriegsschauplatz zum Angriff zu schreiten, ist für uns eine Notwendigkeit, um die Deutschen aus Frankreich zu verjagen. Wir werden sowohl unsere seit zwölf Monaten unterjochten Volksgenossen befreien als auch dem Feinde den wertvollen Besitz unserer besetzten Gebiete entreißen. Außerdem wird ein glänzender Sieg über die Deutschen die neutralen Völker bestimmen, sich zu unseren Gunsten zu entscheiden, und den Feind zwingen, sein Vorgehen gegen die russische Armee zu verlangsamen, um unseren Angriffen entgegenzutreten.

2. Alles ist geschehen, daß dieser Angriff mit erheblichen Kräften und gewaltigen materiellen Mitteln unternommen werden kann. Der ohne Unterbrechung gesteigerte Wert der Verteidigungseinrichtungen in erster Linie, die immer größere Verwendung von Territorialtruppen an der Front, die Vermehrung der in Frankreich gelandeten englischen Streitkräfte haben dem Oberbefehlshaber erlaubt, eine große Anzahl von Divisionen aus der Front herauszuziehen und für den Angriff bereitzuhalten, deren Stärke der mehrerer Armeen gleichkommt. Diese Streitkräfte, ebenso wie die in der Front gehaltenen, verfügen über neue und vollständige Kriegsmittel. Die Zahl der Maschinengewehre ist mehr als verdoppelt. Die Feldkanonen, die nach Maßgabe ihrer Abnutzung durch neue Kanonen ersetzt worden sind, verfügen über einen bedeutenden Munitionsvorrat. Die Kraftwagenkolonnen sind vermehrt worden, sowohl zur Verpflegung als zur Truppenverschiebung. Die schwere Artillerie, das wichtigste Angriffsmittel, war der Gegenstand erheblicher Anstrengung. Eine beträchtliche Menge von Batterien schweren Kalibers ist mit Rücksicht auf die nächsten Angriffshandlungen vereinigt und vorbereitet worden. Der für jedes Geschütz vorgesehene tägliche Munitionssatz übertrifft den bisher jemals festgestellten größten Verbrauch.

3. Der gegenwärtige Zeitpunkt ist für einen allgemeinen Angriff besonders günstig. Einerseits haben die Kitchener-Armeen ihre Landung in Frankreich beendet, und andererseits haben die Deutschen noch im letzten Moment von unserer Front Kräfte weggezogen, um sie an der russischen Front zu verwenden. Die Deutschen haben nur sehr dürftige Reserven hinter der dünnen Linie ihrer Grabenstellung.

4. Der Angriff soll ein allgemeiner sein. Er wird aus mehreren großen und gleichzeitigen Angriffen bestehen, die auf sehr großen Fronten vor sich gehen sollen. Die englischen Truppen werden mit bedeutenden Kräften daran teilnehmen. Auch die belgischen Truppen werden sich an den Angriffshandlungen beteiligen. Sobald der Feind erschüttert sein wird, werden die Truppen an den bis dahin untätig gehaltenen Teilen der Front ihrerseits angreifen, um die Unordnung zu vervollständigen und ihn zur Auflösung zu bringen. Es wird sich für alle Truppen, die angreifen, nicht darum handeln, die ersten feindlichen Gräben wegzunehmen, sondern ohne Ruhe Tag und Nacht durchzustoßen, über die zweite und dritte Linie bis in das freie Gelände. Die ganze Kavallerie wird an diesen Angriffen teilnehmen, um den Erfolg mit weitem Abstand vor der Infanterie auszunutzen. Die Gleichzeitigkeit der Angriffe, ihre Wucht und Ausdehnung werden den Feind hindern, seine Infanterie- und Artilleriereserven auf einen Punkt zu versammeln, wie er es im Norden von Arras tun konnte. Diese Umstände sichern den Erfolg.

Die Bekanntgabe dieser Mitteilungen an die Truppen wird nicht verfehlen, den Geist der Truppe zu der Höhe der Opfer zu erheben, die von ihr gefordert werden. Es ist daher unbedingt nötig, daß die Mitteilung mit Klugheit und Überzeugung geschieht.

gez. Joffre

8

Im Fernsprechkeller der verlassenen Stellung 1/96 sitzen Leutnant Fricke und Reisiger.

Sie haben immer wieder versucht, durchzubrechen, sich zu befreien. Es ist ihnen nicht geglückt. Die Kellertür nach dem Hof zu hat sich gesenkt, der Rahmen sperrt, die Last des zerschlagenen Hauses füllt die Treppe. Das Loch nach der Straße ist ebenfalls meterdick verschüttet. Also ein unsinniges Bemühen.

Es gibt nur einen Trost, einen schwachen: irgendwo im Schutt muß eine Lücke sein: von der Straße her fällt ein armdickes Bündel Licht ins Gefängnis. – Oder nein, keinen Trost. Man wird wahnsinnig vor Wut: Tageslicht zu sehen, ohne hinauszukommen.

Aus Wut wird allmählich Verzweiflung. – rettungslos gefangen. Untätig hier unten eingeschlossen. – Und wie wirds enden? Das ist eine glatte Rechnung: verhungern; oder, wenn es gut geht, auf einen zweiten Schuß warten, der der Sache ein schnelles Ende macht.

Fricke läuft seit einer halben Stunde hin und her. Er hat die Hände in die Hosentaschen gestoßen. Hin und her. Mit dem Fuß gegen die Kellertür, mit dem Fuß gegen die Wand nach der Straße. Hin und her.

Endlich setzt er sich auf den Fußboden in eine Ecke. Kreuzt die Beine, stiert vor sich hin.

Reisiger will die Trostlosigkeit der Gefangenschaft mildern. Er macht eine Festbeleuchtung. Überall auf den Tisch klebt er Lichter; den ganzen Vorrat. Es brennen schließlich sechzehn Flämmchen. Der Raum ist strahlend hell. Nun sieht man wenigstens das Tageslicht nicht mehr – Dann trabt Reisiger. Trabt, die Hände vor der Brust, trabt auf, trabt ab. Wenn nur nicht überall die Totenstille wäre.

Er tritt an den Lichtschacht und legt sein Ohr an die Öffnung. – Lebhaftes Maschinengewehrfeuer.

Was mag da draußen los sein? – Er schrickt zusammen. Wie, wer sagt da etwas? – Ach so, der Leutnant. Ganz vergessen.

»Reisiger, warum machen Sie eigentlich diese blödsinnige Beleuchtung? Das sieht ja wie eine Beerdigung aus.«

Reisiger löscht die Kerzen.

Wie nur noch zwei brennen –: »Nee, Reisiger, so ist es noch trostloser. Zünden Sie den Zimmt lieber wieder an.«

Wird gemacht.

Fricke erhebt sich: »Wie stellen Sie sich eigentlich den weiteren Verlauf dieser Kotzsituation vor?«

Reisiger steht stramm. »Das weiß ich nicht, Herr Leutnant.«

»Mir ist unklar, daß man nichts von unserer Batterie hört?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant. Meinen Herr Leutnant nicht, daß die weiterschießen? Man kann hier unten bloß nichts hören.«

Mit tierischer Wut brüllt Fricke los: »Das ist ja die Sauerei! Wir sitzen hier wie Affen im Käfig, und wer weiß, was da oben alles passiert.«

»Haben Herr Leutnant das Gas gesehen?«

Gas? Dann kann ja die Batterie auch längst überrannt sein. Vielleicht, denkt Fricke, sitzen wir jetzt zwischen zwei Feuern. Es fehlt also bloß noch, daß uns der Feind durch den Lichtschacht eine Handgranate ins Lokal schmeißt, und dann Gute Nacht.

»Ja Reisiger«, sagt er sachlich, »vielleicht ist es das Beste, wir erschießen uns. Raus kommen wir doch nicht mehr aus diesem Laden. Also warum wollen wir den Franzmännern das Vergnügen überlassen.«

Fricke ist für Reisiger der Inbegriff eines guten Offiziers. Keiner ist schneidiger.

Um so bestürzender wirkt der Vorschlag.

Dann steht es allerdings schlimmer, als ich mir habe träumen lassen.

Reisiger sieht Fricke mißtrauisch von der Seite an. Der stiert in die Kerze und spielt an der Revolvertasche: »Nun, Reisiger, was meinen Sie? Es ist doch wirklich . . . .«

Er spricht nicht weiter. Vor dem Lichtschacht sind deutlich Schritte hörbar. »Na, da steht doch jemand?« Er sieht hoch.

Prallt zurück, flüstert: »Braune Wickelgamaschen, Donnerwetter!«

Er schiebt Reisiger in die Ecke und schlägt die Kerzen aus. »Sie, das sind Tommis. Jetzt versteh ich das Ganze nicht mehr.« Er lehnt sich gegen die Wand, seufzt.

Reisiger zittern die Knie.

Überlegungen: Was ist um Gottes willen los, und, vor allen Dingen, was können wir tun? Wenn wir jetzt rufen, wird man uns vermutlich mit einer Handgranate die Schnauze stopfen. Wenn wir nicht rufen, kommen wir hinter die feindliche Linie und verrecken langsam. – Aber es besteht ja noch eine dritte Möglichkeit: daß der Feind aus der Stellung wieder herausgehauen wird. Das kann die Rettung sein.

Es bleibt also nichts übrig, als hier stille an der Wand gelehnt zu warten und zu warten.

Zuweilen schleicht Fricke wieder zum Lichtschacht. Nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören.

Man kann nur feststellen, daß die Sonne scheint. –

Später: daß sie, mit rotem Lichtbündel, untergeht.

Später: daß nun Dunkelheit ist.

Fricke und Reisiger befällt eine große Müdigkeit. Aber unmöglich, zu schlafen. Immer wieder rieseln Steine und Mörtel von der Wand. Und das macht immer wieder hellwach.

9

Divisionsbefehl der Garde-Division:

Am Vorabend der größten Schlacht aller Zeiten wünscht der Kommandeur der Garde-Division seinen Truppen viel Glück. Er hat den anfeuernden Worten des kommandierenden Generals von heute morgen nichts hinzuzufügen. Möchte sich aber jedermann zwei Dinge vor Augen halten:

1. daß von dem Ausgang dieser Schlacht das Schicksal kommender englischer Generationen abhängt,

2. daß von der Garde-Division Großes erwartet wird.

Als ein Gardist von über 30 Dienstjahren weiß er, daß er nichts mehr hinzuzufügen braucht.

gez. Lord Cavan

10

Wo steht der Feind jetzt, zwölf Stunden nach dem Beginn seines Angriffs, heute, am 25. September 15, 4 Uhr nachmittags?

Großes Rätselraten in der neuen Feuerstellung von 1/96. Alles ging so schnell, daß eigentlich noch niemand begriffen hat, was los ist. Gas? Ja, natürlich, darüber ist nicht zu reden. Alle haben die großen grauen Wolken gesehen, die mit dem Wind in die Stellung getrieben wurden. Wie die dicken Schwaden die 6. Batterie fraßen. Aber was sonst? Ist zum Beispiel die Infanterie im Gas erstickt und einfach überrannt?

An allen Geschützen wurde lebhaft diskutiert.

Das einzig Greifbare waren die Engländer gewesen, die man da von der Straße aus über den Haufen schoß. Alles andere war völlig unklar. Und vor allem blieb die Frage ungelöst, die lebensnotwendig ist: liegt vor uns noch deutsche Infanterie oder nicht? Oder konkreter: kann es uns passieren, daß plötzlich hier neben der Feuerstellung der Feind erscheint und uns das Bajonett in den Bauch stößt, oder wird er vorn aufgehalten? Vorgegangen ist die Infanterie, das hat jeder gesehen. Aber wenn man es jetzt überlegt: es kann höchstens ein Bataillon gewesen sein. Und ob das genügend Sicherung ist?

Eigentlich unverständlich, warum der Feind nicht schießt. Nichts, keinen einzigen Schuß. Nicht einmal mehr über die Feuerstellung hinweg in die Stadt hinein.

Wünsche wurden laut, Neugier und Besorgnis: man möchte am liebsten in die alte Feuerstellung zurückgehen, um zu sehen, was vorn nun eigentlich los ist.

Blödsinnige Situation. Der Hauptmann war mit Steuwer in einem der vorliegenden Häuser verschwunden. Von ihnen konnte man also keine Neuigkeiten erfahren. Umso mehr konzentrierte sich alles Interesse auf Wachtmeister Burghardt. Er saß auf dem Richtsitz des 4. Geschützes, bequem zurückgelehnt, die Unteroffiziere standen im Kreise um ihn. Er redete unaufhörlich. Ab und zu konnte man ein Wort erwischen.

Er tat sehr wichtig: »Durchgebrochen muß der Feind sein, sonst hätten keine Engländer neben der alten Feuerstellung erscheinen können. Aber dann haben die Idioten scheinbar den Mut verloren, und unsere Batterie hat ihnen ja auch gezeigt, was eine Harke ist. Ich taxiere, die Lümmels sitzen jetzt in unseren Kellern und fressen unser Büchsenfleisch. Gut, daß ihnen die Häuser über dem Kopf abgebrannt sind, sonst läge sicher irgendein Luder in meinem Bett.«

Der Feind in den Kellern der früheren Feuerstellung?

Die Mannschaften machten den Hals lang. »Wenn das stimmt,« sagte Aufricht zu Georgi, »dann werden wir Reisiger und Fricke nicht mal begraben können.«

Sie dachten zum erstenmal daran, daß allerhand Leute fehlen. Wer tot ist, ist tot; darüber bleibt wenig zu sagen, und wenn man die Toten nicht sofort begraben kann, sind sie auch nicht ungeduldig. Aber vielleicht – Georgi setzte seinen Helm auf – vielleicht sind Fricke und Reisiger gar nicht gefallen. Es ist ja nicht das erstemal, daß Leute tagelang im eingeschossenen Unterstand leben mußten.

Georgi nahm Aufricht bei der Hand: »Du, wir holen sie.«

Der Wachtmeister hielt sie für verrückt. Er lehnte glattweg ab. Es war taghell. »Wartet wenigstens bis Abend ist. Oder fragt meinetwegen den Hauptmann.«

Sie gingen zu Mosel. Er sah Steuwer an: »Hat das Sinn, Leutnant?«

Steuwer warf die Zigarette weg: »Wenn Herr Hauptmann gestatten, gehe ich mit.«

»Gut, aber dann versuchen Sie auch festzustellen, wo der Feind und wo unsere eigene Infanterie ist. Oder warten Sie, ich frage an, was man beim Regiment davon hält.«

Telephonverbindung mit dem Regimentsadjutanten: »Sagen Sie, Linnemann, was ist eigentlich los? Meine Batterie steht hier seit drei Stunden, und nichts geschieht. – Wie? Angriff? So: Ich wollte Leutnant Steuwer vorschicken. Der Fricke ist uns doch verschwunden. – Na gut! Ich melde sofort, was Steuwer erkundet hat. Wie gehts den anderen Batterien? Ja? Ja, die Sechste ist flöten. Das habe ich selber noch mit ansehen müssen. So? Alle übrigen vor Souchez. Na, ich glaube, da ist die Schweinerei auch nicht größer als bei uns. Danke schön. Grüß Sie Gott.«

Zu Steuwer: »Also, Sie können gehen. Aber seien Sie in einer Stunde zurück. Linnemann sagt mir eben, daß im Abschnitt ein Gegenangriff von uns heute abend 7 Uhr 30 geplant ist. Das Regiment sieht die Situation übrigens als harmlos an. – Na, denn Abfahrt.«

11

Wo ist der Feind?

Der Feind hatte heute früh hinter den Gaswolken die Infanterielinien überrannt. Die Kompagnien fielen zum größten Teil im Nahkampf. Die andern rissen aus, als sie das Gas sahen, und wurden dann durch Schrapnellfeuer vernichtet.

Der Feind stieß nach. Seine Kolonnen standen eine Viertelstunde, nachdem 1/96 die brennende Feuerstellung verlassen hatte, auf deren Trümmern. Dort blieb er, aus unbegreiflichen Gründen, stehen. Von dort zog er sich, aus unbegreiflichen Gründen, kurze Zeit danach, vom Kommando der eigenen Offiziere gerufen, in die vordersten Gräben zurück. Entscheidend dafür kann lediglich das direkte Feuer der auf der Straße nach Lens postierten Geschütze von 1/96 gewesen sein. Oder? – Nichts ist sinnloser als der Zufall!

Die als Ersatz vorgehende deutsche Infanteriereserve erreichte jedenfalls ziemlich verlustlos die ehemalige Feuerstellung 1/96 und setzte sich in ihr einstweilen fest.

Steuwer, Aufricht und Georgi erschienen zwischen dieser Infanterie.

Über dem eingeschossenen Keller des früheren Fernsprechunterstandes hockte eine Maschinengewehrgruppe.

Die Stellung lag unter der Sicht des Feindes. Es genügte, den Kopf zu heben, um ein M.G. des Engländers zum Bellen zu reizen.

Steuwer ließ sich dadurch nicht abschrecken. Er riß mit den Händen den Lichtschacht zum Fernsprechkeller in die Breite. Die Kanoniere halfen, bis ihnen die Finger bluteten. Rufen! – Keine Antwort von unten. Trotzdem: Balken weg, Sandsäcke weg! Hinein in den Unterstand! Ein Zündholz!

Da lagen Fricke und Reisiger. Tot? Als sie Fricke an den Schultern packten und ihn auf die Straße ziehen wollten, begann er ein fürchterliches Schimpfen. Sie hatten ihn aus dem Schlaf geweckt. Überraschung, Händeschütteln. »Gott sei Dank, daß ich aus der verfluchten Mausefalle rauskomme! Ich hoffe, die Batterie schießt wacker weiter.«

Steuwer klärte auf. Fricke steckte den Hals aus der Kelleröffnung und sah die Infanteristen. »Also dann kann ich Ihnen die heilige Versicherung geben, daß heute vormittag der Feind hier spazieren gegangen ist. Ich habe unter Garantie englische Stiefel und englische Wickelgamaschen gesehen. – Herr Gott ja, der Reisiger ist ja auch noch hier.«

Reisiger lag unter dem Tisch. Sie hoben ihn an.

Er reagierte wie Fricke. Noch heftiger wütete er. Er schlug Georgi mit der Faust mitten ins Gesicht und schnauzte. Aber er kam dann schnell zu sich und schüttelte den Kameraden die Hand: »Na also, Dusel muß man haben!«

»Wenn ihr mir jetzt nichts zu essen gebt, fresse ich ein Kind«, knurrte Fricke.

»So was von Hunger habe ich überhaupt noch nicht gehabt«, flüsterte Reisiger.

Georgi griff in seine Tasche: »Wenn ich Herrn Leutnant anbieten kann.« Er hatte etwas Schwarzes in der Hand. Das sei noch Edamer Käse, den er seit einigen Tagen bei sich trüge.

Ausgezeichnet! Mit einem Messer wurde der Dreck abgekratzt, Fricke zerbrach das Stück und teilte es mit Reisiger. Sie fraßen wie Tiere.

Dann zogen sie ab.

Sie gingen im Gänsemarsch an den Häusern entlang zur neuen Feuerstellung. Es pladderte M.G.-Schüsse! Aber sie kamen durch. Die Freude der Kameraden war echt. Niemand hatte geglaubt, daß sie noch lebten. Nur Mosel blieb sachlich. Als Fricke sich meldete, legte er nicht einmal die Zeitung aus der Hand. Er sagte: »Fricke, Sie haben mich in Stich gelassen. Mußte das sein? Na also gut, dann auf zum Dienst! Heute abend sollte Gegenangriff von uns kommen. Er ist auf morgen verschoben. Zeit wird noch bekannt gegeben. Die Mannschaften schlafen auf jeden Fall an den Geschützen, alarmbereit. Leutnant Steuwer bleibt die Nacht bei mir. Sie übernehmen eine Beobachtungsstelle auf dem Schornstein, der da rechts der Straße an der früheren Feuerstellung steht. Nehmen Sie Reisiger mit und noch einen Kriegsfreiwilligen. Sofort Fernsprechleitung zur Batterie legen lassen. Ich danke sehr.«

Merkwürdiger Empfang. Fricke war wütend. Er warf die Tür ziemlich heftig zu, sah Reisiger dann freundlich an: »Ja«, sagte er, »das hilft nichts. Aber wir haben uns ja gut aneinander gewöhnt. Dann werden wir auch die Nacht zusammen verbringen können. Sagen Sie dem Wachtmeister, daß außer Ihnen der Aufricht mit auf die Beobachtung kommt. Nehmt Fernsprecher mit und was zu essen. Oder – es soll ja Verpflegung von den Protzen kommen – gehen Sie zu Ihrem Geschütz. Ich lasse Sie dann rufen.«

Verpflegung kam. Das heißt, die Protzen und einige Wagen der Kolonne brachten Munition und nebenbei Brot, Marmelade und Käse. Hollert führte.

Er ließ die Batterie zusammentreten und verlas, nachdem er sich vorher bei Mosel gemeldet hatte, unter einer Taschenlampe den Batteriebefehl:

»1. Auf Urlaub gehen am 1. Oktober Unteroffizier Schulz und die Kanoniere Schlichting und Kunz.

2. Es ist verschiedentlich vorgekommen, daß von Soldaten bei den Zivilbewohnern von Lens selbständig Nahrungsmittel und Kleidung requiriert wurden. Das ist auf das strengste verboten.

3. Kanonier Reisiger wird zum überzähligen Gefreiten ernannt.

4. Die Entlausungsanstalt der Division ist bis zum 1. Oktober aus baulichen Gründen geschlossen.

Wegtreten.«

Leutnant Fricke ruft Reisiger und Aufricht und geht mit ihnen nach vorn.

Beobachtungsstelle ist also laut Befehl vom Hauptmann der Schornstein einer Fosse in Höhe der alten Feuerstellung. Reisiger und Aufricht knüpfen ein Kabel an den Fernsprecher der Feuerstellung und rollen es bis hierher ab.

Der Schornstein steht frei im Gelände. Er hat an seinem Fuß eine Tür. Fricke und die beiden Kanoniere öffnen sie. Das macht Schwierigkeiten, weil von überallher Infanteriegeschosse pfeifen. Schließlich glückt es: sie sind im Schornstein. Das ist ein schwarzes Loch. Als man ein Streichholz anzündet, sieht man wie einen Käfig die schwarze Ringmauer. Beobachten? Das kann man nur, wenn man oben auf der Spitze des Schornsteins sitzt. »Nein,« sagt Fricke, »ich bin doch nicht verrückt; wenn wir jetzt versuchen, hinaufzukriechen, brechen wir uns das Genick. Verbinden Sie mich mal mit der Feuerstellung.«

Gott sei Dank, die Verbindung klappt. Fricke versucht, Mosel klarzumachen, wie schwer es ist, jetzt in der Finsternis im Inneren eines Schornsteines emporzuklettern, der gut eine Höhe von 40 Metern hat.

Nichts zu machen, Mosel ist bockig. Er ärgert sich offenbar immer noch darüber, daß Fricke und Reisiger den Tag über nicht bei ihm waren. Die Kanoniere hören seine scharfe Stimme: »Dienstlicher Befehl! Punkt!« Es hilft also nichts. Sie zünden wieder ein Streichholz an. Sie stellen fest, daß an der inneren Wand Steigösen eingemauert sind. Nun gut, dann muß man eben langsam nach oben kriechen.

Das Telephon bleibt mit Aufricht einstweilen auf der Sohle. Fricke klettert, Reisiger folgt. Ein schlimmes Stück Arbeit. Weniger anstrengend als unangenehm, weil es so dunkel ist. Endlich sind sie an der Spitze. Sie hängen mit den Armen aufgestützt über den Rand, 40 Meter über der Erde, 40 Meter über dem Feld, das Freund und Feind birgt. Ein überwältigender Anblick. Sie vergessen, daß ein Fehltritt oder das Versagen der Arme genügt, um 40 Meter in den Schacht hinabzustürzen. Sie vergessen, daß Krieg ist. Sie schauen nur.

Man hat einen weiten Ausblick. Man sieht ein gewaltiges Feuerwerk. Der Horizont scheint ganz nahe gerückt. Überall blitzt es. Überall schlagen Flammen auf. Weiße Leuchtkugeln gehen in einem feinen Bogen gegen den schwarzen Himmel, entzünden sich zu einer großen Sonne, und schweben langsam wieder zur Erde. Rote Strahlen schießen hoch, werden leuchtende Bälle. Nach Souchez zu brennt die ganze Erde.

Fricke ist der erste, der sprechen kann: »Na, was sagen Sie jetzt, Reisiger. Ist das schön?«

»Jawohl, Herr Leutnant –« Reisiger möchte fortfahren: – es dürfte nur nicht Krieg sein. Aber das scheint ihm unpassend oder vielleicht auch falsch, und er verschluckt den Satz.

Fricke wieder: »Ja Reisiger, dann werden wir uns jetzt hier etablieren. Aber wie? Das beste ist, wir kriechen erst noch mal runter. Denn hier oben muß ein richtiger Sitz oder so etwas geschaffen werden. Man kann schließlich nicht 24 Stunden mit den Armen über den Balkon baumeln.«

Als sie unten sind, befiehlt er, daß man aus der Feuerstellung einen Tischler und einen Maurer mit Brettern schickt; außerdem soll das Scherenfernrohr heraufkommen.

Gegen Morgen ist die Beobachtungsstelle fertig. Etwa 1 ½ Meter unterhalb des Schornsteinrandes ist ein Boden eingesetzt, sicher genug, um drei Mann zu tragen. Das Scherenfernrohr steht genau über dem Rand.

Wie die Sonne aufgeht, kann Fricke feststellen, daß man das Gelände ausgezeichnet übersieht. Er meldet die Be-Stelle als fertig eingerichtet. Nach kurzem erscheint Mosel mit zwei Telephonisten: »Sie gehen in die Feuerstellung. Unser Gegenangriff erfolgt 7 Uhr 10, ohne Artillerievorbereitung.«

12

Nur ungern geht Fricke mit den beiden zurück. Denn nun sehen sie ja nichts von dem, was sich jetzt zwischen den Gräben abspielen wird.

Aber statt dessen sehen sie etwas anderes, etwas sehr Merkwürdiges. Die Straße, die sie passieren – dieselbe, auf der sie gestern die Engländer zusammengeschossen haben – wimmelt von Zivilisten.

Wo kommen sie her? Waren sie gestern in ihren Kellern verkrochen?

Sie stehen, breitbeinig, die Hände hinter dem Rücken, an die Wand gescheuert. Sie richten die Augen neugierig auf die Deutschen. Kneifen die Lippen ein, spöttisch, herausfordernd. Kinder lachen.

Die Fassaden der Häuser haben sich über Nacht verwandelt. An den Haken der Fensterläden, an Türgriffen, an jedem Nagel sind Blumen angebunden. Astern und später Flox leuchten. Wo in den Wänden ein Schußloch sitzt, ist es bepflanzt und mit Grün bedeckt. Neben mancher Haustür steht ein Stuhl, sorgsam mit einer weißen oder bunten Decke verziert. Und auch darauf Blumen, ein Topf mit Geranien, eine Vase mit Rosen.

Was ist denn nun los? Was bedeutet das? »Merkwürdiger Zauber«, sagt Fricke. »Habt ihr so etwas schon erlebt?«

Er tritt an eine Gruppe von Frauen heran. Er fragt in gutem Französisch, was das soll; zeigt mit hartem Finger auf die Blumen.

Viele Augen sehen ihn an, frech und stechend und so klar wie seit Monaten keine Frau und kein Mann der Zivilbevölkerung einen Soldaten angesehen hat.

Aber die Lippen bleiben zusammengebissen. Es gibt keine Antwort.

Die Situation ist peinlich und beschämend. Fricke sagt »Bande« und geht weiter. Einige Häuser dahinter der nächste Versuch. »Wozu die Blumen? Wenn ihrs nicht sagt, schlag ich euch zwischen die Löffel.«

Lächeln. Aber kein Wort.

Fricke reißt aus einem Fensterladen einen Büschel mit weißen Chrysanthemen und haut ihn einem Mädchen quer über das Gesicht. Dann stößt er mit dem Stiefel gegen einen Stuhl. Die Scherben einer Blumenvase klirren zu Boden.

Abermals Lächeln. Kein Wort.

Die Wut der Soldaten kocht. »Mit den Säuen ist nichts zu machen. Weiter.«

Fricke lacht, ein bekniffenes Lachen. »Wißt ihr, was die vorhaben? Die Schweine bilden sich ein, daß sie heute ihre Herren Landsleute hier feierlich mit Blumen empfangen können. Na kommt, damit wir bei der Batterie sind, wenns losgeht.« Er spuckt gegen die Fensterscheiben.

In der Stellung sind die Geschütze feuerbereit.

Die Batterie wartet.

7 Uhr. 7 Uhr 5, 7 Uhr 9. In einer Minute wird die Infanterie versuchen, ihre alte Stellung wieder zu gewinnen.

Niemand braucht mehr nach der Uhr zu sehen: Es prasselt Gewehrfeuer los. Es kläffen M.G.s. Dann hört man heftiges Bellen von Handgranaten. Die Luft zittert, zerspringt in Tausende von aufschreienden Fetzen.

Wenn man doch irgend etwas tun könnte!

Wenn man doch irgend etwas sehen könnte!

So lauern die Kanoniere, gelähmt etwas zu reden, und horchen nach vorn.

Wann kommt das Kommando vom Hauptmann!?

Am rechten Flügel neben dem Telephon stehen Fricke und Steuwer. Sie reden auch nicht.

Der Hagel da vorn schwankt in seiner Stärke. Einmal gellend laut, auf einen Punkt zusammengerissen, dann wieder löcheriger, verteilt, stotternd.

Wird es glücken?

Alle sind lange genug im Feld, um zu wissen, daß man einen Graben, der nur 3–400 Meter vor einem liegt, entweder innerhalb von zehn Minuten nehmen kann oder nie.

Zehn Minuten sind längst vorbei.

Das Feuer läßt nicht nach. Die Unruhe in der Batterie wird größer. Alles fiebert: wenn man nur einen Schuß abgeben könnte! Ganz gleichgültig wohin, nur, daß die blöde Spannung sich löst.

Aha, Leutnant Fricke nimmt das Telephon.

Die Augen der ganzen Batterie sind bei ihm.

Ein langes Gespräch. Endlich hängt er ab. Er wendet sich zu Steuwer. Man versteht bis zum letzten Geschütz jedes Wort. »Der Angriff scheint mißglückt. Der feindliche Graben ist nur an einigen Stellen erreicht worden. Wir dürfen einstweilen nicht schießen, um nicht die eigene Infanterie zu treffen.«

Immer dasselbe Knattern. Angriff mißglückt? Pech, da kann man nichts machen. Allmählich wird der Lärm langweilig.

Endlich hört man ein neues Geräusch. – Was ist?

Auf der Straße, zwischen zwei Häusern sichtbar, geht im Laufschritt neue Infanterie vor, das Gewehr halbhoch. Reserven.

Der Anblick ist lähmend: Die Bataillone, die heute früh eingesetzt wurden, sind also erledigt?

Reisiger sieht sich die keuchenden Menschen an. Viele Männer mit Bart, dazwischen fast nur ganz junge Offiziere, die Pistole in der Hand. Arme Hunde. Er muß an die Zivilisten auf der Straße denken mit den Blumen an den Fenstern und vor den Türen. Hoffentlich finden die Vorgehenden soviel Zeit, um den gottverdammten Plunder wegzufegen.

Da jault die Luft auf. Ein älterer Offizier schlägt die Arme hoch, kippt nach hinten. Sechs Infanteristen legen sich dazu, zucken, strecken sich. Die Nachdrängenden laufen daran vorbei.

Der Feind schießt mit Schrapnells! Er beginnt zu streuen, über den Häusern blaffen weiße Wolken auf. Wenigstens ist die Infanterie jetzt vorbei. Nun hat man wieder Zeit, auf andere Dinge zu achten.

Das Gewehrfeuer? Reisiger stößt seinen Nachbar an:

»Hörst du? Grabesruhe.«

– »Wenn der Hauptmann sagt, daß der Gegenangriff mißglückt ist – wer soll denn dann noch schießen! – Mensch, wir Artilleristen haben es doch besser als die Fußlatscher.«

Ja, denkt Reisiger, wir haben es besser. Die paar Schrapnells – und davor läuft man Sturm gegen M.G.s.

Er sieht zu Fricke. Der legt gerade wieder das Telephon aus der Hand. »Alle herhören! – Die Sache ist einstweilen zum Stehen gekommen. Batterie kann vorläufig abtreten!«

Einstweilen zum Stehen gekommen? Also schiefgegangen.

»Ein Saubetrieb.«

Der Nachbar versteht die Zusammenhänge nicht. »Mir wäre auch lieber, es käme bald Mittagessen.«

– Stunden vergehen. Die Feldküche klappert heran. Es gibt Bohnensuppe. Nach dem Essen holen die Kanoniere die Spielkarten aus der Rocktasche. Überall wird gemauschelt. Fricke und Steuwer schlendern herum und spielen Kiebitz. Reisiger, der vom Kartenspiel keine Ahnung hat, verliert im Nu die Löhnung des letzten Monats. »Du kriegst ja jetzt Zulage, Herr Gefreiter«, lacht ihn einer der Gewinner an. Alle meckern. »Du, das kostet noch eine Lage. Warte man, wenn wir in Ruhe sind.«

Ein Unteroffizier hat zwei Knöpfe in der Packtasche. »Die müssen Sie sich nun aber endlich an den Kragen machen!«

Fünf Minuten später sind sie mit Streichhölzern befestigt: Gefreiter Adolf Reisiger.

Was man nicht alles werden kann!

Reisiger denkt daran, daß von den Kriegsfreiwilligen, die mit ihm ins Feld gegangen sind, über die Hälfte schon Unteroffizier geworden ist, ein halbes Dutzend bereits Leutnant.

– Das Kartenspielen macht ihm keinen Spaß mehr.

Gegen Abend läßt der Hauptmann sagen, daß für die Nacht auf der Beobachtung kein Offizier nötig ist. Es genüge ein Unteroffizier und zwei Mann.

Als es gegen 8 Uhr ist, gibts Brot, Käse, Büchsenleberwurst, zwei große Kannen mit heißem Kaffee, und Feldpost. Später rollt man sich in die Decke. Eine kalte Nacht, nicht gut zum Schlafen. Reden mag auch keiner.

In einem der Häuser halblinks brennt Licht. Dort sitzt der Hauptmann mit den Leutnants. »Ich habe lange nicht so eine Schweinerei gesehen, wie heute früh; es war nicht möglich, die Bande aus dem Graben herauszukriegen. Die Frage ist, wie das weiter gehen soll. Fricke, von morgen früh um 4 Uhr bitte ich Sie, mit Reisiger und Aufricht wieder die Beobachtung zu übernehmen.«

13

Die Nacht wird nicht ruhig. Geräusche ziehen überall lange Furchen durch das Dunkel. Schüsse. Schreie. Flüstern. Poltern. Und Tritte. Marschtritte, am laufenden Band, eintönig, mit schlurfenden Absätzen. Reisiger streckt sich: alle Geräusche gehen durch ihn hindurch, über ihn hinweg. Tritte, Kolonnen. Das zieht an die Front, das zieht sich hier zusammen. Morgen wird es aufgehen.

Er denkt an die Zivilisten. Sie sind nicht mehr vorstellbar zwischen dem Drohen dieser Nacht. Wenn die Sonne aufgeht, wird statt ihrer Soldat an Soldat stehen und den Feind erwarten. Gut, daß dann die Blumen verschwinden!

Blumen. Daran beißen sich seine Gedanken jetzt fest. Daß die Geste der Frauen schön ist, und auch ihr Stolz, und auch ihre sinnlose Gewißheit, daß sie siegen werden.

Dann fällt ihm das Mädchen in Annay ein. Marie. Schläft sie? Hockt sie am Dorfeingang, neben der Alten, und wartet auch? – Als Fricke ihn um 3 Uhr ruft, ist er noch immer wach.

3 Uhr 30 stehen sie mit Aufricht bereits auf der Plattform des Schornsteins.

Der Himmel ist farblos. Nach Osten zu (Reisiger denkt: Deutschland) liegt ein glattes Gelb. Keine Wolken.

»Wenn es heute früh regnet, ist der Kram schon halb gewonnen«, sagt Fricke und schnüffelt. – »Na, wir werden das Kind schon schaukeln.«

Das Telephon summt. »Hier Beobachtung 1/96.«

Befehl vom Regiment: »Rotgrüne Leuchtkugeln im Abschnitt heißen Gasangriff.« Reisiger wiederholt halblaut.

Ach so, das hatten sie vergessen. Richtig, es gab ja Gasangriff, oder vielmehr, es hatte Gasangriff gegeben. Heute wieder?

Fricke läßt die Batterie feuerbereit machen, kommandiert einige Lagen. Reisiger und Aufricht sehen mit ihm über den Rand des Schornsteins. Da, mitten im Feld, gehen Flammen hoch, folgt ein Krach. »Das sind unsere Geschütze.«

Die weißen Kalkränder der vom Feind genommenen Stellung sind schwach sichtbar.

Neuer Feuerbefehl! Fricke legt die Schüsse so, daß sie zwei Annäherungsgräben flankieren.

Die feindliche Artillerie antwortet nicht. »Halt – Feuerpause!«

Mosel ruft an, ob es etwas Neues gibt? – Nein. – Das wiederholt sich nun öfter.

Es ist jetzt so hell geworden, daß man tief ins Land sieht. Da vorn liegt Loos. Da kauert ein kleines, weißes Gehöft in einer dicken Hecke. Da liegt ein schwarzer Rücken: Die Kohlenhalde. – Vor wenigen Tagen, denkt Reisiger, habe ich dort oben noch gestanden, jetzt wird der Tommy darin schlafen. – Ganz in der Ferne Häuser und Türme von Grenay. Das schwimmt wie Schiffe mit roten Segeln am Horizont. Ein Wellental ist vorgelagert, eine Mulde. Man kann auch vom Schornstein aus nicht auf ihren Grund sehen.

Fricke schnüffelt wieder zum Himmel. Die Sonne geht auf, ein dicker roter Ball. »Das wird Essig mit dem Regen, schade.«

Kalter Wind aus Richtung vom Feind her.

Oho, Wind vom Feind her? Fricke preßt die Augen gegen das Scherenfernrohr. »Wind vom Feind her«, sagt er laut.

Er will sich eben abdrehen, da schreit Reisiger auf. »Herr Leutnant –!« Mehr kann er nicht sagen. Vor seinen Augen tanzen grünrote Leuchtkugeln. Das Grün gegen den Morgenhimmel nur schwach zu sehen, um so bedrohlicher das Rot. Überall Grünrot. Von Loos bis an die Halde wie ein Schleier spritzt auf, tanzt, taumelt Grünrot. Gleichzeitig ein irrsinniges Gewehrfeuer.

»Gas!« Sie sagen es alle drei gleichzeitig.

Wie anders sieht das von hier oben aus, als vorgestern von der Feuerstellung. Man erkennt mit bloßem Auge, daß aus der früheren ersten feindlichen Linie die Gaswolke aufsteigt. Sie treibt sehr schnell nach vorn. In der alten deutschen Infanteriestellung stehen die Engländer aufgereiht, Gewehr bei Fuß, aufgepflanzt das Bajonett. Stahlhelm. Vor dem Gesicht einen gelblichen Maulkorb. Sie haben Gasmasken! Man sieht nur Augengläser, handtellergroß, und einen Rüssel.

Ein unheimliches Bild. Keiner rührt sich, sie lassen offenbar die Gaswolke über sich hinwegtreiben.

Telephon. Ohne Überlegung: »Batterie an die Geschütze! Festgelegtes Ziel. Feind macht Gasangriff!« Die ersten Schüsse von 1/96 hauen in die bereitstehenden Engländer hinein. Fricke läßt die Geschütze nach jedem Schuß um einige Meter schwenken. Er bricht in Freudengeheul aus, wenn er Volltreffer erzielt. Die Gaswolke kümmert ihn nicht. Er behält die Augen hart am Scherenfernrohr. »Donnerwetter, der saß!« – »Da haben wir mindestens ein halbes Dutzend in die Hölle geschickt.« – »Ha, da sieht man ordentlich, wie die Beine fliegen!« – »Na Gott sei Dank, jetzt schießen noch andere Batterien.«

Aufricht hockt am Telephon, Reisiger sieht über den Schornsteinrand.

Der Feind liegt unter schwerem Feuer. Die Gaswolke macht keinen Eindruck. Sie ist dünn; kaum ist sie mannshoch, da wird sie schon durchsichtig wie ein kümmerliches Gewebe. Die Sonnenstrahlen durchleuchten sie in breiten goldigen Streifen. Jetzt taucht die Wolke in die Mulde ein. Sie wird aufgeschluckt. Nun ist also der Vorhang fortgezogen, die Sicht freigegeben.

14

Vorhang auf!

Vorhang auf, Fricke vom Scherenfernrohr weg, die die Hand packt Reisiger am Kragen: »Kavallerie!!«

Kavallerie. Der Feind greift mit Kavallerie an. Aus der Mulde steigt Kavallerie. Es kommen graue glänzende Bläschen: Stahlhelme, eine Kette, von Loos bis zur Halde. Es kommen wippend Pferdeköpfe, wippend eine Kette braun und schwarz und weiß, von Loos bis zur Halde. Es kommt braun und schwarz und weiß, dicht massiert eine Last, aufdrängend lückenlos gepreßt von Loos bis zur Halde.

Es wächst aus der Mulde hoch geschoben hastend anspringend eine Walze Kavallerie in geschlossener Front! Hoch, und nun sichtbar. Und steht, unbegreiflich, langsam verharrend, zwischen Hagel und Regen und Gewitter der deutschen Infanterie, der deutschen Batterien.

Fricke ans Glas: »Es kommt eine zweite Reihe!«

Vor bloßen Augen das gleiche. Aus der Mulde, hinter dem langsam verharrenden Massiv der schiebenden Pferdeleiber, abermals Pferde und Reiter. Von Loos bis zur Halde.

»Herr Leutnant!« Aufricht hat das Telephon hingelegt, starrt neben Reisiger.

Fricke: »Laßt sie, laßt sie – sie müssen herankommen.«

Er sagt das heiser, unheimlich, röhrend. – »Sie müssen herankommen.« Reisiger zittert in den Knien: »Da!«

Noch liegt kein Artillerieschuß in der wartenden, in der aufsteigenden Phalanx der Reiter.

Und Reisiger, den Arm unvermittelt unter dem Arm des Leutnants: »Sie reiten an!«

Sie reiten an. Das erste Massiv hebt sich kurz. Senkt sich. Hebt sich. Ab. Auf, ab, auf, ab auf, Trab. Dahinter das zweite, auf, ab, auf, Trab, gleichzeitig zwei Glieder, eng gepreßt, Trab. Und Trab. Und, ausholend, ein Ansprung der ganzen Front, Pferdebeine ausgreifend die Hufe gestreckt in die Luft und auf und gestreckt ab und Galopp und die Bäuche auf dem Boden, Hals vor, Karriere! Heran, zwei Reihen, an die Gräben. Und die Reiter, die Lanzen noch halbhoch und nun gesenkt heran, Karriere.

Da fällt ein Tier, da bricht eins ins Knie, da wirft eins den Kopf hintenüber, da rollt ein Reiter ab, da schleift einer im Bügel.

Karriere heran.

Da reißt eine Lücke auf, vierpferdbreit, im ersten Glied. Da kippen sechs, acht, neun seitwärts und zucken in einem schlagenden Haufen. Karriere. Unhemmbare, unkorrigierbare, unaufhaltbare lebendige Wucht Karriere. Näher, heran, näher. Über die Stellung der englischen Infanterie hinweg, vor, näher, heran. – Die Drei auf dem Schornstein keuchen. Die Augen hin und her, erstes Glied, zweites Glied, hin und her, Reiter, Pferde, erstes Glied, zweites Glied heran, heran, Karriere.

Und –

Feuer zwischen das Ganze!

Wie viele Fernsprecher summen in dieser Sekunde?

Wie viele Stimmen schreien: »Zwischen den Gräben Kavallerie?«

Wie viele Kommandos, hart, Metall im Ton, lassen stoppen, Entfernung abbrechen, das Sperrfeuer kurz vor der deutschen Stellung einfahren als Wall aus stechenden Flammen?

»Kavallerie zwischen den Gräben!« Jeder Ansprung bedeutet Näherkommen auf drei Meter. Näher, Karriere –

Und da beginnt das Halt.

Alles vergessen bei den Deutschen, heraus aus Loch und Graben, hoch aus der Deckung, stehend freihändig, Blick brennend in Pferdeaugen, in Reiteraugen, das Blutrot aus flackernden Pupillen auf sich gerichtet. Visier – Feuer! Leichte Maschinengewehre, schwere, Feuer! Feldartillerie, Feuer!

Und alles gierige Bisse, hineingebissen in die andonnernde dumpf ächzende dicke Masse Kavalleriekarriere.

Die Drei auf dem Schornstein, Kommando hervorgestoßen, heiser weitergegeben, und nun überhängend über den Rand.

Dieses Drama mit ungeheuersten Ausmaßen! Die erste Reihe, die zweite Reihe, nicht mehr geteilt jetzt, ineinandergeprallt, schon aufgelaufen, schon ein Glied, schon zu dicht zur gewollten Bewegung. Und es sägt und stampft und quetscht und wühlt und frißt.

Maschinengewehre zwischen die schlagenden Beine der Pferde, daß die zerzackten Stümpfe über die Erde schlurren, Schrapnells vor die Brust, Granaten unter den Bauch, Bündel schwefelgelber Stichflammen, Säulen aus braunem Rauch, Fontänen armdick Blut und Gedärme, hochgeschleudert Glieder und Rümpfe aus Menschen und Tieren. Das alles, soweit sich das Massiv dehnt, von Loos bis zur Halde.

Das Ganze zerfällt zu Quadern jetzt, Lücken dazwischen. Die Quadern, noch schwerfällig im Druck nach vorn, brechen, türmen sich ungefügig, lösen sich, daß überall etwas hochspringt, hoch, absackt, um sich schlägt, liegt. Das alles: zermalmte Pferde, zermalmte Reiter von Loos bis zur Halde.

Und noch kein Ende. Noch versucht eine Gruppe, die Pferdehälse herumzureißen, fort, zurück! Und da prescht etwas ab. Und da kriecht etwas mit flatternden Bewegungen.

Fricke, gellend: »Da, Reisiger – sie wollen ausreißen, da –« Und gellender: »Batterie Schnellfeuer, hundert Meter zulegen!« Wie viele Kommandos sind durch die Drähte gejagt: Schnellfeuer! Keinen entkommen lassen!

Schnellfeuer. Wie will auch nur Ein Reiter entfliehen?

Der Irrsinn ist wach, die letzte Angst, das entsetzlichste Entsetzen. Nicht Ein Pferd wendet. Noch das Tote drängt nur nach vorn.

Alle Batterien und jedes Gewehr bleiben ihnen vor der Nase. Hundert brechen immer wieder zusammen, hundert versuchen immer wieder hochzuklettern. Alle Batterien, alle Gewehre dagegen.

Noch das Tote wird immer wieder, immer wieder zerfleischt.

Hände heben sich aus dem zähen, blutüberströmten Wall; Gesichter, unkenntlich, heben sich; Gebärden flattern.

Stehend freihändig bringt die deutsche Infanterie ihre Fangschüsse an. Bis Alles reglos im Blutbrei erstickt.

Und die englische Infanterie dahinter, im Graben, nur durch diesen dampfenden Wall von den Deutschen getrennt? Hat sie das ansehen müssen, Untergang ihrer Leute, Tod ihrer Brüder bis zum letzten Mann? Ist sie geflohen?

Die Drei auf dem Schornstein, gierig: »Wo ist die englische Infanterie?«

Das Telephon surrt. Aufricht nimmt die Meldung ab. »Unsere Infanterie tritt in vier Minuten zum Sturm auf die verlorene Stellung an. Alle Batterien Vernichtungsfeuer.«

Fricke, ruhig: »Feuer vorverlegen, altes Ziel!«

Wie viele Drähte geben im gleichen Augenblick das gleiche Kommando? – Die gesamte Artillerie des Abschnitts legt Vernichtungsfeuer auf die englische Infanterie.

Fricke: »Wie viele Minuten noch?«

Aufricht: »In einer Minute beginnt der Sturm.«

Der Graben der Engländer wird mit Vernichtung gepflügt. Und jetzt springt die deutsche Infanterie an, vor, sicher, watet durch den Blutsumpf, bis zum Gürtel in glitschigen Leichen.

Schießt der Feind?

Da reißen welche das Gewehr an die Backe, auf 10 Meter kaum ein einzelner Mann, und werden von Granaten zerhackt. Kein M.G., Artillerie ganz zaghaft, nur Schrapnells, und die Schüsse viel zu hoch, um den Angreifer zu packen.

Und die Deutschen, da auf die Sekunde ihre Artillerie den Feuervorhang fallen läßt, sicher hinein in den Graben, in die alte Stellung.

Es wird mit dem Bajonett niedergemacht, was den Arm hebt. Mit Handgranaten, was überrascht die Stufen der Unterstände heraufwill. »Das Unternehmen«, sagen die Fernsprechleitungen auf dem Abschnitt Loos-Kohlenhalde, »ist befehlsgemäß durchgeführt.« Die Drei auf dem Schornstein werden gegen Mittag abgelöst. In den Straßen von Lens und in der Feuerstellung ist Ruhe.

1/96 hat heute vier Stunden gefeuert, ohne selber einen Schuß zu bekommen.

15

. . . . sondern ohne Ruhe Tag und Nacht durchzustoßen, über die zweite und dritte Linie bis in das freie Gelände . . . . Diese Umstände sichern den Erfolg . . . . .


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