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Sechzehntes Kapitel

Der Schutzengel

Emil ließ keinen Tag mehr vorübergehen, ohne zu Madame Dolbert zu gehen; die Großmutter empfing ihn wie einen Mann, dem man bald den Namen Sohn zu geben hofft, und Stephanie mit jenem bezaubernden Lächeln, welches Aller Augen die geheimsten Gedanken des Herzens offenbart.

Aber nicht auf solche Weise wollte Stephaniens Liebhaber geliebt werden; er fuhr fort, sich vor der Welt mit der äußersten Zurückhaltung zu benehmen, und nur im Verstohlenen, ganz leise und ferne von den Blicken ihrer Großmutter sprach Emil Worte der Liebe zu dem jungen Mädchen; dann aber waren diese Worte glühend, seine Augen nahmen einen Ausdruck an, welcher Stephanie zwang, die ihrigen niederzuschlagen; dann suchten seine liebkosenden Hände sich ihr zu nähern, das Kleid, den Arm oder das Knie des jungen Mädchens zu berühren, das sich bisweilen plötzlich umschlungen und gewaltsam an ein Herz gedrückt fühlte, dessen heftige Schläge die glühendste Begierde verrieten.

Stephanie erwiderte die Ausbrüche des Mannes, der in ihrer Nähe so glücklich schien, mit argloser Liebe. Dennoch empfand sie, wenn Emil, einen Augenblick benutzend, in dem sie allein waren, sie zärtlich in seine Arme schloss, eine Unruhe, eine Bewegung, welche der Furcht glichen, und sie entzog sich den Armen, welche sie festhalten wollten, indem sie sagte: »Aber, lieber Freund, wenn Sie mich so sehr lieben, warum sagen Sie mir das nie vor meiner Großmutter? Wenn Leute da sind, sehen Sie mich kaum an und scheinen zu fürchten, man möchte unsere Liebe erraten; warum denn das? Wir tun ja kein Unrecht, uns zu lieben ... Sie haben es mir ja selbst gesagt; wozu es also verbergen?«

Auf diese Frage antwortete Emil: »Ich kann meine Liebe noch nicht eingestehen ... Familienrücksichten hindern mich daran; aber, teure Stephanie, das darf uns nicht abhalten, uns zu lieben. Da jedoch die Welt böse ist und von den Handlungen anderer immer schlecht urteilt, so dürfen wir sie nicht in das Vertrauen unserer geheimsten Gefühle ziehen. Glauben Sie mir, das Geheimnis verleiht der Liebe noch mehr Reize. Ist man nicht hundertmal mehr durch ein Glück beseligt, das alle andern nicht kennen? Teure Stephanie, lassen Sie mich Sie insgeheim besuchen ... erlauben Sie mir, mit Ihnen jene süßen Unterhaltungen zu pflegen, bei denen wir wenigstens die zärtlichen Liebkosungen austauschen können, welche die Welt missdeuten würden und die mich so glücklich machen.«

Stephanie seufzte und stotterte: »Insgeheim? Wie? ... ich verstehe Sie nicht.«

Aber als Delaberge versuchte, sich verständlich zu machen, trat Zizine oder die Großmutter hinzu und verhinderte ihn durch ihre Gegenwart, mehr zu sprechen.

Ein mehrmonatlicher Aufenthalt bei den Damen Dolbert hatte in Zizinens Manieren und in ihrer Sprache schon eine große Veränderung hervorgebracht; sie war noch immer das zarte, blasse und ernste kleine Mädchen, aber sie war nicht mehr das Kind eines Wasserträgers. Geschickt aufzufassen, was nöthig war, um ihren Beschützerinnen zu gefallen, hatte Zizine bald das abgelegt, was ein Kind aus dem Volke verrieth; aber ihr Herz war immer dasselbe geblieben, sie vergaß Jerome nicht, und wenn ein Monat verflossen war, ohne daß sie ihn gesehen hatte, wurde sie traurig und verbarg sich manchmal, um zu weinen.

Ohne die Ursache davon zu errathen, bemerkte Zizine doch sehr wohl, daß Stephanie nicht mehr dieselbe gegen sie war. Ihre junge Beschützerin küßte sie noch, aber sie sprach nicht mehr so oft mit ihr. Die Spiele, die Puppen waren gänzlich bei Seite geworfen worden; Stephanie, beinahe immer zerstreut oder träumerisch, hörte manchmal gar nicht auf die Worte des kleinen Mädchens, das ihr oft wiederholte: »An was denkst Du denn?«

Eines Tages endlich, als Stephanie durchaus keine Antwort gab, fing das Kind an zu weinen. Beim Anblick seiner Thränen lief Stephanie zu ihm, nahm es in ihre Arme und sagte: »Warum weinst Du, Zizine? Was hat man Dir gethan?«

»Man hat mir nichts gethan ... Ich weine, weil Du mich nicht mehr liebst.«

»Ich Dich nicht mehr lieben, meine Zizine! Und weßhalb sagst Du das?«

»Weil ich es wohl sehe ... Du sprichst nicht mehr mit mir ... Du spielst nicht mehr mit mir ... Du bist immer traurig ... ich sehe, daß ich Dir lästig bin ... deßhalb will ich wieder zu meinem Vater, dem Wasserträger, zurückkehren.«

»Du mich verlassen! O nein, nein, das leide ich nicht, denn ich liebe Dich noch immer ... O ja, noch immer! Aber siehst Du, es ist ... wenn man groß ist, denkt man an so viele Dinge ... man hat Ideen, die ... kurz, ich kann Dir das Alles jetzt noch nicht so sagen, weil Du noch zu klein bist. Aber das verhindert mich nicht, Dich recht zu lieben; vergib mir, wenn ich zuweilen verdrießlich bin; aber verlasse mich nicht … o, verlasse mich nie, denn in der Tiefe meines Herzens bin ich immer dieselbe für Dich.«

Zizine wurde durch diese süßen Worte leicht getröstet, und seidem sie die Versicherung hatte, daß ihr Anblick Stephanien nicht lästig war, fürchtete sie sich nicht mehr, an ihrer Seite zu bleiben, selbst wenn diese nicht mit ihr sprach.

Emil hatte mehr als einmal seine üble Laune geäußert, das Kind beständig bei Stephanien zu finden; eines Abends sagte er halblaut zu ihr: »Welche Pein, immer dieses kleine Mädchen in Ihrer Nähe zu sehen! Man möchte glauben, daß sie den Auftrag habe, Ihnen nachzugehen, Ihre geringsten Handlungen auszuspähen.

»O, das ist nicht der Fall,« erwiderte Stephanie; »sie liebt mich nur so sehr, daß es ihr größtes Glück ist, um mich zu sein.«

»Sie liebt Sie ... das ist möglich ... Aber ich liebe Sie auch, und es scheint mir, daß ich den Vorzug erhalten sollte.«

»Mein lieber Emil, es liegt nur bei Ihnen, in meiner Nähe zu sein, so oft Sie hieher kommen ... Es ist nicht Zizine, die Sie daran verhindert.«

»Verzeihen Sie mir ... dieses kleine Mädchen genirt mich; es ist mir zuwider. Wenn Ihre Mama beschäftigt ist, könnte ich mit Ihnen in diesem kleinen Kabinete allein sein, wenn diese Zizine nicht ohne Unterlaß an Ihrer Seite wäre.«

»Aber sie hindert uns ja nicht, mit einander zu sprechen ... uns anzusehen ... bei einander zu sein.«

»Das ist nicht dasselbe ... In der That, Stephanie, ich begreife nicht, daß Sie, so gut erzogen, in der großen Welt geboren, die Tochter eines Wasserträgers so lieb gewonnen haben ... die gar nichts Anziehendes hat; denn sie ist nicht einmal schön.«

»Sie irren sich, mein Freund; wenn Sie Zizinen kennen würden, wie ich, so würden Sie einsehen, daß sie es verdient, geliebt zu werden ... sie ist so gut ... und dann hat sie so viel Verstand! ... O, das ist kein gewöhnliches Kind! Arme Kleine! sie hatte fast an Allem Mangel, als ich sie zu mir nahm.«

»Thun Sie ihr Gutes ... ich bin weit entfernt, Sie deßhalb zu tadeln ... Aber thun Sie sie in irgend eine Pension ;...«

»Sie von mir entfernen ... o niemals ... und ... wenn ich mich eines Tages verheirathe ... so darf mich das nicht verhindern, Zizinen immer bei mir zu behalten.«

Stephanie erröthete, als sie die letzten Worte sprach; aber so unschuldig auch ein Mädchen immer sein mag, so weiß sie doch, daß sie einst den Titel einer Frau erhalten muß, und wenn sie liebt, wird sie noch weit häufiger von dem Heirathen träumen.

Emil sagte nichts mehr. Das Wort Heirath, das Stephanie ausgesprochen hatte, schien ihn in Verlegenheit zu sehen; er sah auch, daß er sich vergeblich damit geschmeichelt hatte, sie von Zizinen zu trennen; er mußte daher auf ein anderes Mittel sinnen, um zu seinem Ziele zu gelangen.

Seit einiger Zeit war Stephaniens Großmutter leidend, bald brach ein hitziges Fieber aus und der Arzt fürchtete für das Leben der Madame Dolbert; da ließ sich Stephanie an dem Bette ihrer Großmutter nieder und verließ sie keine Minute; von Zizinen unterstützt, die Allem aufbot, um sich nützlich zu machen, wachte das junge Mädchen bei der Kranken mit so vieler Sorgfalt, so vielem Eifer, daß sie nach wenigen Tagen außer Gefahr war.

Aber während dieser ganzen Zeit hatte sie keinen Augenblick gefunden, um mit Emil von Liebe zu sprechen. Stephanie würde sich schuldig geglaubt haben, wenn sie sich mit irgend etwas Anderem als mit der Gesundheit ihrer Großmutter beschäftigt hätte. Wenn sich Delaberge au der Thüre des Krankenzimmers zeigte, begnügte sich Stephanie damit, ihn stillschweigend zu betrachten oder ihm zuzulächeln, weil sich ihre Großmutter besser befand.

Emil wagte nicht, sich zu beklagen; er wartete, er lauerte auf den Augenblick, wo er würde handeln können.

Madame Dolbert war außer Gefahr, aber ihre Wiederherstellung zog sich sehr in die Länge, und der Arzt hatte ihr große Schonung anempfohlen. Sie mußte besonders spät aufstehen und sich früh niederlegen, da die Ruhe ihre Genesung vollenden sollte.

Stephanie wollte ihrer Großmutter immer Gesellschaft leisten, Madame Dolbert aber, von der Sorgfalt, welche ihre Enkelin ihr hatte angedeihen lassen, gerührt, wollte im Gegentheil, Stephanie sollte sich einige Zerstreuung machen, und oft schickte sie dieselbe von ihrem Bette fort, indem sie sagte: »Ich bin nicht mehr krank, man verlangt nur, daß ich mich ruhig verhalte; aber Dir, theures Kind, Dir ist es nicht vorgeschrieben, beständig an meinem Bette sitzen zu bleiben. Dein Alter verlangt Bewegung. Kehre zu Deinem Piano, zu Deinen Zeichnungen zurück; geh und lache mit Deinem kleinen Schützling, empfange unsere Freunde, kurz, mache Dir irgend ein Vergnügen; ich will es, und Du mußt mir gehorchen, wie ich dem Arzte.«

Stephanie gab den dringenden Bitten ihrer Großmutter nach, sie kehrte in den Salon zurück und empfing dort die Besuche Emils häufiger als je; bisweilen kamen auch einige andere Bekannte von Madame Dolbert, um einen Augenblick bei Stephanien zuzubringen; aber indem er länger blieb als Andere, fand Emil immer Mittel, mit Stephanien allein zu sein.

Allein? Nein, Zizine war auch da, unaufhörlich da; wenn sie eine Minute aus dem Salon ging, kehrte sie fast sogleich dahin zurück; kaum hatte Stephaniens Liebhaber eine von den zarten Händen, die man ihm freiwillig überließ, ergreifen und an seine Lippen drücken können, so kam das Kind zurück und eilte, sich neben seine Beschützerin niederzusetzen.

»Welche Pein!« murmelte Emil, indem er Stephaniens Hand fahren ließ und dem Kinde einen grimmigen Blick zuwarf; aber Stephanie, die den Aerger ihres Geliebten nicht zu bemerken schien, zog Zizinens Kopf auf ihre Kniee und gefiel sich darin, mit ihren Fingern in ihren weichen Haaren zu spielen.

Indeß hatte Emil bemerkt, daß das Kind seit einigen Tagen traurig war, und er erfuhr bald den Grund davon; Zizine hatte seit langer als einem Monat Jerome nicht gesehen, denn sie besuchte ihn niemals, ohne daß Stephanie mitging, und da die Krankheit der Madame Dolbert ihre Enkelin verhindert hatte, auszugehen, so konnte sich auch die arme Zizine nicht zu ihrem Vater begeben.

»Wir werden bald zu Jerome gehen,« sagte Stephanie zu dem Kinde; »aber ich will nicht ausgehen, bis meine gute Großmutter völlig hergestellt ist.«

»Aber wenn mein Vater krank wäre?« sagte Zizine seufzend.

»Warum vermuthest Du das?«

»Weil ich ihn schon so lange nicht gesehen habe. Er kommt nicht mehr hierher.«

»Du weißt wohl, daß er uns immer sagt, er habe keine Zeit.«

»Ja ... aber er wird glauben, ich denke nicht mehr an ihn ... und das wird ihm Kummer machen ;...«

Emil hatte diese Unterhaltung angehört, ohne sie zu unterbrechen. Plötzlich sagte er zu Zizinen: »Wo wohnt Dein Vater, Kleine?«

»In der Straße St. ;Honoré, mein Herr ... Warten Sie, hier ist seine Adresse. Ich habe mich damit amüsirt, sie zu schreiben ... jetzt, da ich ein wenig schreiben kann.«

»Gib sie mir; morgen werde ich an der Wohnung Deines Vaters vorbeigehen und mich nach ihm erkundigen. Wenn ich wieder hierher komme, werde ich Dir Nachricht von ihm geben können.«

»Ah, mein Herr, Sie sind sehr gut; ich danke Ihnen sehr!«

Und Zizine wäre in ihrer Freude dem schönen Herrn an den Hals gesprungen, wenn dieser nicht den Kopf rasch umgewandt hätte, um Stephanien anzusehen, die ihm die Hand reichte, indem sie zu ihm sagte: »Ah, das ist sehr liebenswürdig, was Sie da thun ... und es macht mir Vergnügen, Sie so gefällig zu sehen.«

Emil nahm bald von Stephanien Abschied, denn er war zerstreut, nachdenklich; er hätte schon gerne den nächsten Morgen da gehabt, denn nun hatte er seinen Plan entworfen und endlich das Mittel gefunden, jene Kleine zu entfernen, deren Gegenwart allein seinen Sieg hemmte; indem er sich entfernte, sagte er zu sich: noch einige Stunden, und Stephanie gehört mir.

Der folgende Tag brach an, und bei Madame Dolbert erwartete man Delaberge mit noch größerer Ungeduld als gewöhnlich. Zizine hoffte auf Nachrichten von ihrem Vater, und Stephanie rechnete darauf, daß dadurch die Traurigkeit ihres kleinen Schützlings würde zerstreut werden. Aber der Tag verstrich und Emil erschien nicht.

»Er kommt nicht!« sagte Zizine seufzend.

»Er wird diesen Abend kommen,« sagte Stephanie; »Du weißt, daß er sehr selten verfehlt, uns Gesellschaft zu leisten, wenn meine gute Mutter zu Bette gegangen ist.«

Das war auch in der That der Zeitpunkt, den Emil vorzugsweise wählte, weil sich Abends außer dem seinigen nur sehr selten andere Besuche einfanden; diesen Abend kam Delaberge viel später als gewöhnlich, weil er gewiß sein wollte, daß nichts seinen Absichten hinderlich sei.

Stephanie und Zizine waren in dem Salon; sie stießen einen leichten Freudenruf aus, als sie Emil eintreten sahen, und das kleine Mädchen fragte lebhaft: »Mein Herr, bringen Sie mir Nachrichten von meinem Vater?«

»Verzeihen Sie mir, daß ich so spät komme,« antwortete Emil, sich die Stirne trocknend, wie Einer, der abgemattet ist; »aber ich habe Geschäfte, nicht aufzuschiebende Gänge gehabt ... aufdringliche Leute, die mich zurückgehalten haben ... sonst wäre ich schon längst hier.«

»Und mein Vater, lieber Herr,« murmelte Zizine, »haben Sie nicht zu ihm gehen können?«

»Doch, mein Kind, ich hatte es Dir ja versprochen und ich breche mein Wort niemals ... Ich war in seiner Wohnung ... ich habe sie leicht gefunden.«

»Ach, mein Herr, wie gut Sie sind! ... Sie haben ihn gesehen?«

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen ... aber eine Nachbarin hat mir meine Fragen sogleich beantworten können. Es thut mir leid, Dir sagen zu müssen, meine liebe Freundin, daß Deine Befürchtungen gegründet waren: Dein Vater ist krank ;...«

»Krank! ... O mein Gott! mein Gott! Siehst Du, meine gute Freundin ... ich hatte es mir wohl gedacht ... Aber was fehlt ihm denn?«

»Ich weiß es nicht genau ... die Frau hat es mir nicht mit Bestimmtheit sagen können ... Aber es scheint, daß es ihm besonders vielen Kummer macht, sein Kind nicht sehen zu können.«

»Er will mich sehen ... mein armer Vater ... O ja! auch ich will ihn sehen ... O, sogleich! sogleich! ... Nicht wahr, meine liebe Freundin, Du lässest mich gleich zu meinem Vater gehen?«

Zizine faltete ihre Hände, während sie Stephanien ansah, und große Thränen flossen über ihre Wangen herab; ihre junge Beschützerin küßte sie ihrerseits und gab sich Mühe, sie zu trösten.

»Du sollst zu ihm gehen ... gewiß ... aber diesen Abend ... wie willst Du das machen? Es ist schon neun Uhr vorüber.«

»Das ist gleich ... Mein Vater ist krank; ich muß zu ihm gehen, um ihn zu pflegen; Du hast ja auch Deine Großmutter gepflegt ... und überdies war sie nicht allein, sie hatte Dienstboten, um sie zu bedienen. Aber mein Vater ist ganz allein, Du siehst wohl, daß er meiner sehr bedarf!«

Dabei war in den Zügen des Kindes ein Ausdruck, der eine für dessen Alter sehr ungewöhnliche Energie kundgab; es schien, als hätte die kindliche Liebe diesem schwachen Geschöpfe plötzlich eine starke Seele, einen festen Willen verliehen.

»Aber was ist zu thun?« fragte Stephanie; »meine gute Mutter schläft schon, wie ich glaube. Ich kann sie doch nicht aufwecken, um sie um die Erlaubniß zu bitten, auszugehen.«

»Das ist Alles sehr leicht zu machen,« sagte Emil. »Mein Kabriolet steht unten mit einem Bedienten, er wird Zizinen zu ihrem Vater begleiten. Er ist vielleicht nicht so sehr krank ... sie wird ihn jedenfalls sehen ... sie kann eine Zeitlang bei ihm bleiben, und dann wird sie mein Wagen, der solange, als sie will, auf sie warten wird, wieder herbringen.«

»In der That,« sagte Stephanie, »auf diese Art ist es nicht nöthig, daß ich sie begleite. Hast Du keine Furcht, Zizine?«

»O nein, meine liebe Freundin ... O mein Herr, ich danke Ihnen sehr.«

»Ihr Diener ist doch zuverlässig?« sagte Stephanie, die sich einigermaßen fürchtete, das Kind fortzulassen.

»Ich stehe für ihn wie für mich selbst ... Was sollte denn auch dieser Kleinen begegnen?«

»Zizine, Du kehrst doch zurück?«

»Ja ... außer wenn mein Vater sehr krank ist ;...«

»Es ist möglich, daß Dein Anblick allein ihn heilen wird ... Diese Nachbarin hat sich so unverständlich ausgedrückt ;...«

»Adieu, beste Freundin!«

»Aber warte doch ... Ich will Dir wenigstens einen Shawl ... oder sonst etwas umwerfen ... Du wirst kalt haben ;...«

»Nein ... O! ich bin wohl verwahrt. Mein Herr, wird mich Ihr Diener in den Wagen steigen lassen? ;...«

»Komm, liebe Kleine, ich will mit Dir hinabgehen und Dich ihm empfehlen ... Komm ... Aber mache mir kein Geräusch ... Wir dürfen Madame Dolbert nicht aufwecken ... All' das könnte sie beunruhigen.«

»O! ja, Sie haben Recht! Nehmen Sie sich in Acht, daß Sie meine Mutter nicht aufwecken ;...«

Stephanie küßte Zizinen und empfahl sie nochmals Emil, der sich beeilte, mit dem Kinde hinabzusteigen. Zizine folgte dem eleganten jungen Manne so schnell es ihre kleinen Beine erlaubten; unten angekommen, nahm Emil die Kleine in seine Arme, trug sie in sein Kabriolet, sagte seinem Diener einige Worte und beeilte sich dann, zu Stephanien zurückzukehren.

Das liebenswürdige Mädchen war über die Entfernung ihrer kleinen Freundin ganz betrübt; sie zwang sich indeß zu lächeln, als sie Emil wieder sah; dieser hatte die Thüre des Salons sorgfältig hinter sich zugemacht und setzte sich Stephanien zur Seite.

»Ist sie nun fort?« fragte das junge Mädchen seufzend.

»Ja, ich selbst habe sie in meinen Wagen gehoben und sie meinem Diener anempfohlen. Sie können vollkommen beruhigt sein.«

»Ich glaube Ihnen ... Und doch ... Es ist sonderbar ... Ich bin ganz bekümmert ... ganz unruhig ... Ich bin schon so daran gewöhnt, dieses Kind um mich zu haben ;...«

»Daß Sie keinen Augenblick mehr leben können, ohne es zu sehen ... Ach! Sie lieben dieses kleine Mädchen mehr als mich ... Ich merke es wohl ;...«

»O nein ... überdies bei ihr ... ist es Freundschaft ... Und bei Ihnen ;...«

»Nun ... bei mir?«

»Sie wissen wohl, daß ... ich Sie liebe ;...«

»Theure Stephanie! ... O! wiederholen Sie mir, daß Sie mich lieben ... Sagen Sie mir es unaufhörlich ;...«

»Zweifeln Sie daran? ... Ah, ich kann nicht lügen, ich ... Und dann könnte ich auch nicht verbergen, was ich empfinde.«

»Wie glücklich ich bin! ... Und welch Vergnügen, dieses entzückende Bekenntniß ohne Zeugen austauschen zu können ... Ach! Stephanie, seit langer Zeit sehnte ich mich nach diesem Augenblicke ... Endlich kann ich doch ungestört diese so weichen Hände küssen ... diesen so weißen Hals ... alle diese Reize, nach denen sich meine Augen schon so lange sehnten! ;...«

Indem er diese Worte sprach, schlang Emil, der seinen Stuhl ganz nahe an den von Stephanien gerückt hatte, seinen Arm um ihren Leib, drückte sie zärtlich, indem er sie an sich heranzog, und seine glühenden Lippen streiften ihren Hals, ihre Arme, ihre Hände und selbst ihr Kleid ... Stephanie, ganz aufgeregt, da sie zum erstenmal so feurige Liebkosungen empfing, fühlte, daß sie erröthete und zu gleicher Zeit zitterte; sie stieß Emil sanft von sich, indem sie sagte: »Aber warum drücken Sie mich so sehr? ;...«

»Theure Stephanie, man befindet sich so wohl ... ganz nahe bei Ihnen ;...«

»Aber es ist vielleicht nicht Recht, mich zu umarmen, wie Sie es thun ;...«

»Und warum nicht Recht, da wir uns lieben? ... und uns immer lieben werden ;...«

»Immer ... O! ja ... das ist sehr wahr ... Und werden Sie sich niemals ändern, Emil?«

»Niemals ... Ich schwöre es Ihnen bei diesem Kusse ;...«

Dabei drückte der kühne Emil seine Lippen auf die jungfräulichen des jungen Mädchens. Stephanie fühlte sich erglühen; von einem bis dahin unbekannten Gefühl überwältigt, hatte sie doch noch die Kraft, rasch aufzuspringen und sich den Armen ihres Liebhabers zu entwinden.

Emil, ganz erstaunt, Stephanien sich entschlüpfen zu sehen, war auf dem Stuhle sitzen geblieben, von wo er das junge Mädchen betrachtete, welches sich in die entgegengesetzte Ecke des Saales geflüchtet hatte.

»Stephanie ... Sie fliehen mich! ;...« sagte der junge Mann mit sehr sanftem Tone.

»Nein ... ich fliehe Sie nicht!« erwiderte Stephanie, indem sie die Augen niederschlug; »aber ... ich weiß selbst nicht, was ich empfand ... Es war wie Furcht ;...«

»Furcht vor mir! ... Ach! ... Stephanie, ich bin sehr unglücklich, wenn ich Ihnen ein solches Gefühl einflöße ... Ich, der ich Sie so sehr liebe! ... Ich, der ich nur für Sie athme!«

Diese Worte wurden mit so rührender Stimme gesprochen, daß Stephanie sich Vorwürfe machte, Emil Kummer verursacht zu haben; sie erhob ihre schönen Augen zu ihm, die keinen Zorn ausdrückten; der junge Mann sprang vom Stuhle auf, lief zu ihr hin, ergriff eine ihrer Hände, die er in den seinigen drückte, und suchte mit seinen Blicken alle die begehrlichen Wünsche, die er selbst empfand, der Seele des jungen Mädchens einzuflößen; Stephanie aber schlug ganz beschämt aufs Neue die Augen nieder.

»Können Sie mir ein Verbrechen daraus machen, daß ich Sie liebe! ;...« sprach Emil, das reizende Mädchen sanft auf einen Divan ziehend, der sich in ihrer Nähe befand.

»Nein ... gewiß nicht!« erwiderte Stephanie, indem sie sich ganz bewegt neben ihren Geliebten niedersetzte; »aber es scheint mir ... daß es nicht nöthig ist, zu ... daß das kein Grund ist ... um ;...«

Das Schamgefühl verhinderte das junge Mädchen, weiter zu sprechen; sie wagte nicht, zu sagen: Sie dürfen mich nicht so umarmen, wie Sie es thun; aber sie dachte es sich; denn in der Tiefe unseres Herzens lebt immer ein Gefühl, welches uns das Böse von dem Guten unterscheiden läßt.

Emil, der errieth, was Stephanie nicht zu sagen wagte, drückte sie in seine Arme und rief: »Aber wenn man sich liebt, ist es dann nicht natürlich, es sich zu beweisen? Die Liebkosungen zweier Liebenden gegen einander machen die größte Glückseligkeit aus, die uns kennen zu lernen erlaubt ist ... Stephanie ... Ich, ich zittere vor Vergnügen, wenn ich Ihre Hand, Ihren Arm berühre ... wenn ich Sie an mein Herz drücke ... wenn Sie mich ebenso liebten, wie ich Sie, würden Sie das Gleiche empfinden.«

»O! Ich liebe Sie sehr, aber ... Wie Sie mich drücken! ;...«

»Stephanie, bin ich nicht der, dem Du Dein Herz geschenkt hast ... O! laß mich Dich so halten ... laß mich einen Kuß auf diesen Mund drücken, der mir geschworen hat, nur mich allein zu lieben!«

Stephanie wußte nicht, was sie erwidern sollte, Emil aber hatte die Erlaubniß nicht abgewartet, um sie von Neuem zu umarmen; das junge Mädchen fühlte sich erglühen; ihr Geliebter wurde unternehmender, sie wollte ihn zurückstoßen, aber hatte nicht mehr die Kraft dazu.

»Gnade! Gnade!« murmelte Stephanie, die jetzt die ganze Gefahr begriff, in welcher sie schwebte, aber Emil hörte nicht mehr auf sie; noch einen Augenblick und er hätte über den schwachen Widerstand, den man ihm entgegensetzte, triumphirt, da ließen sich in dem anstoßenden Zimmer Schritte vernehmen; es näherte sich Jemand ... In einem Augenblick hatte sich Emil von Stephanien entfernt, und fast in demselben Momente öffnete sich die Thüre des Salons: Zizine kam zurück und eilte, sich in Stephaniens Arme zu werfen.

»Die Kleine! ... jetzt schon! ;...« murmelte Emil, indem er seine Fäuste vor Wuth ballte. »O! ... Aber das ist mein böser Geist ... Und dieser elende Düpré hat sie zurückkehren lassen! ;...«

»Hier bin ich, meine liebe Freundin,« sagte das Kind, die Arme um Stephaniens Hals schlingend. »Ich war nicht lange aus, nicht wahr? ... Und Du hast mich nicht so bald zurückerwartet? ;...«

»Theure Zizine! Ach! der Himmel schickt Dich ... Jetzt wirst Du mich nimmermehr verlassen ... Niemals ... Nein, niemals ... O! ... Wie wohl hast Du daran gethan, zurückzukehren!«

Und Stephanie küßte und zog das kleine Mädchen in ihre Arme, indem sie auf Zizinens Wangen die Röthe ihrer Stirn und die Thränen, welche ihre Augen benetzten, verbarg, während Emil, am andern Ende des Zimmers sitzend, unwillig mit dem Fuße stampfte und seinen Aerger und seinen Widerwillen gar nicht zu verbergen suchte.

»Es wundert Dich, mich schon wieder hier zu sehen?« sagte Zizine; »ich will Dir erzählen, wie das Alles gekommen ist ... O! Aber zuerst bin ich sehr vergnügt, denn, denke Dir, mein Vater ist nicht krank und ist es nicht gewesen; das ist recht schlecht von jener Nachbarin, die das erfunden hat, um es dem Herrn zu sagen und mir Kummer zu machen ... Höre also, ich saß im Wagen; da fuhren wir durch eine Straße ... ich weiß nicht durch welche; ich kenne die Wege nicht genau; aber der Bediente des Herrn sagte mir: Ich weiß, wohin ich Sie führen soll. Plötzlich, als wir an einem hell erleuchteten Laden vorüberfuhren, erblickte ich meinen Vater. O! ich erkannte ihn augenblicklich und rief: Vater, Vater! Ich bin es, und darauf sagte ich zu dem Bedienten: mein Herr, haben Sie die Güte anzuhalten, denn ich sehe eben meinen Vater; aber ich mochte ihm das noch so oft wiederholen, er hielt nicht an, sondern fuhr immer weiter, und ich hatte schon Lust zu weinen ... Glücklicherweise hatte mein Vater meine Stimme erkannt, er war dem Wagen nachgelaufen, und auf die Gefahr hin, überfahren zu werden, war er dem Pferde in die Zügel gefallen, und so mußte es wohl stehen bleiben. Darauf erzählte ich meinem Vater, wohin ich gehen wollte ... und verlangte auch gleich aus dem Wagen zu steigen, das aber wollte der Diener des Herrn nicht zugeben, indem er sagte: er sei für mich verantwortlich. Mein Vater aber nahm mich in seine Arme und sagte dann zu dem Bedienten: Sie werden wohl einsehen, daß, wenn ich bei ihr bin, kein Anderer über sie zu wachen braucht. Mein armer Vater! Er konnte gar nicht begreifen, was das zu bedeuten hatte, mich Abends allein in einem Kabriolet zu erblicken. Als er erfuhr, daß ich ihn krank geglaubt, küßte er mich zärtlich und dankte mir sehr. Hierauf fragte er mich, ob ich mit ihm nach Hause zurückkehren wolle ... Aber ich sagte ihm, daß Du mich noch immer liebtest, und daß ich Dir versprochen hätte, zurückzukommen, wenn er nicht krank wäre. Hierauf machte ihm der Bediente des Herrn, der noch immer da war, den Vorschlag, mich zurückzuführen, mein Vater aber sagte ihm: ich werde meine Tochter schon selbst zu ihren Beschützerinnen zurückbringen: auch hat er mich in der That bis hieher geführt, und mich erst in dem Vorsaale verlassen, indem er mir beim Weggehen noch besonders empfahl, nicht mehr allein in einem Kabriolet auszufahren.«

»Theure Kleine!« rief Stephanie, das Kind nochmals küssend, »ja, Dein Vater hat Recht ... ich hätte Dich nicht allein fahren lassen sollen ... Aber in Zukunft wird das nicht mehr vorkommen! ... Ich verspreche es Dir ;...«

»Aber was hast Du denn, meine liebe Freundin? ... Du hast ja geweint ... Hast Du Kummer? ... Sieh, Dein Halstuch ist ganz in Unordnung ;...«

»Ah! ... Ich ... Ich habe eben ... Es war mir zu heiß ... Es war mir nicht recht wohl ... Aber es ist vorüber ... Du bist wieder da ... Ich befinde mich jetzt wohl ... Setze Dich hieher ... ganz zu mir her ;...«

Stephanie setzte das Kind an ihre Seite. Seitdem Zizine zurückgekehrt war, hatte sie die Blicke nicht mehr auf Emil gerichtet. In den Armen der Kleinen suchte sie ihre Aufregung zu besänftigen, sich von ihrer Verwirrung zu erholen; und Zizine, welche in Stephaniens Zügen etwas Außerordentliches bemerkte, betrachtete sie ebenfalls mit besorgter Miene.

Ziemlich lange Zeit hindurch schwiegen Alle. Endlich entschloß sich Emil, den Winkel zu verlassen, in welchen er sich geflüchtet hatte; er näherte sich dem Divan, auf welchem Stephanie sitzen geblieben war; diese konnte eine Bewegung des Schreckens nicht bemeistern; und, indem sie Zizinen mit ihren Armen umschlang, hielt sie sie fest an ihr Herz gedrückt, als ob ihr das Kind zum Schilde dienen sollte.

Emil blieb stehen, indem er leise sagte: »Was haben Sie denn, mein Fräulein? ... Sie scheinen erschreckt ... Sie zittern ... Was kann Ihnen Schrecken verursachen? ;...«

Stephanie antwortete nicht; sie hielt fortwährend Zizinen in ihren Armen und erhob die Augen nicht zu Emil.

Dieser entschloß sich endlich, sich auch auf den Divan niederzusetzen, aber auf der entgegengesetzten Seite des Kindes, und indem er sich gegen Stephaniens Ohr neigte, flüsterte er ihr leise zu: »Was habe ich denn gethan, daß Sie mich so behandeln? ... Wie! ... Sie wollen mir nicht einmal Ihre Blicke zuwenden ... Stephanie, lieben Sie mich nicht mehr? ... Sie sehen Wohl, daß wir uns nicht mehr aussprechen ... uns nicht mehr verständigen können, wenn diese Kleine gegenwärtig ist ... O! erlauben Sie mir, noch einen Augenblick mit Ihnen allein zu sprechen ... mein Benehmen zu rechtfertigen ... Sie um Verzeihung zu bitten; es ist spät ... Sie könnten dieses Kind ... zu Bette schicken ;...«

Stephanie, die bisher geschwiegen hatte, erhob den Kopf, und indem sie sich gegen Emil wandte, warf sie ihm einen Blick zu, der die Worte auf seinen Lippen ersterben machte; denn es war nicht mehr jenes furchtsame, liebende junge Mädchen, welches ihn scharf ansah, es war eine beschimpfte Frau, ein auf ihre Tugend stolzes Mädchen, das den Abgrund gesehen hatte, in welchen man sie hineinstürzen wollte, allein jetzt den Fallen Trotz zu bieten schien, die man ihr etwa stellen konnte. Ihr Blick hatte dies Alles ausgesprochen, denn Emil konnte ihn nicht ertragen; und dieser so anmaßende Mensch, dem es zur Gewohnheit geworden war, die Frauen zu betrügen, hatte den Kopf sinken lassen und blieb ganz verblüfft vor einem jungen Mädchen, das er zu entehren nicht im Stande war.

Stephanie hatte ihre Blicke bald wieder auf Zizinen gerichtet; denn sie schien mit der Verwirrung ihres Geliebten Mitleid zu haben. Dieser machte noch mehrere Gänge durch das Zimmer, er fing einige Sätze an, die er nicht beendete, blieb vor Stephanien stehen, wollte sich einer ihrer Hände bemächtigen, die man ihm alsbald wieder entzog, und entschloß sich endlich, Abschied zu nehmen.

Mit trostloser Miene, mit zitternder Stimme sagte Emil Fräulein Dolbert Adieu; dann stotterte er so leise, daß nur sie ihn verstehen konnte: »Wenn Sie mich nicht einmal eines Blickes würdigen, so muß ich glauben, meine Gegenwart sei Ihnen verhaßt, und ich werde nicht mehr wagen, vor Ihnen zu erscheinen.«

Stephanie zauderte, schwankte ... doch ihr Herz war so gut; sie glaubte den Klagen der Verzweiflung Emils; und, die Augen sanft erhebend, richtete sie einen milden Blick auf ihn, in welchem eben so viel Liebe als Kummer lag. Für einen gewöhnlichen Liebhaber wäre das viel gewesen; für denjenigen aber, der sich geschmeichelt hatte, dieser Abend würde Zeuge seines Triumphes sein, war es viel zu wenig.

Nachdem er Stephanien verlassen und nicht mehr genöthigt war, sich Zwang anzuthun, ließ Delaberge seinem Zorne freien Lauf; denn niemals war er noch so schrecklich in seinen Hoffnungen getäuscht worden; und der Aerger, einen Plan, den er so scharfsinnig gefaßt, so gut eingeleitet hatte, scheitern zusehen, brachte ihn außer sich und versetzte ihn in Wuth.

Er war in sein Kabriolet gestiegen, und sein Diener, der vor ihm zitterte, versuchte es vergebens, sich zu rechtfertigen.

»Du bist ein Esel, ein Dummkopf!« sagte Emil, »ich hatte Dir so bestimmte Befehle gegeben; Du mußtest die Kleine zurückhalten, gleichviel durch welches Mittel, durch welche Lüge! ... Du durftest sie nicht früher, als nach Verfluß von wenigstens zwei Stunden zu den Damen Dolbert zurückbringen ... Und es waren kaum zwanzig Minuten verflossen, als das Kind wieder erschien.«

»Mein Herr, ist es meine Schuld, daß wir ihrem Vater begegnet sind?«

»Du hättest Dich nicht aufhalten sollen ;...«

»Ich hätte also diesen Mann, der sich an mein Pferd gehängt hatte, überfahren sollen?«

»Du hättest mir auf alle Fälle gehorchen sollen ;...«

»Aber, mein Herr ;...«

»Schon gut, ich jage Dich fort, Du bist nicht mehr in meinem Dienste.«

Zu Hause angelangt, zog sich Emil in sein innerstes Zimmer zurück und überließ sich dort von Neuem seiner Leidenschaft; er zerbrach und zerschmetterte Alles, was ihm unter die Hände kam; kostbare Möbeln, herrliche Vasen, eine Menge niedlicher Kleinigkeiten, die zur Ausschmückung der Zimmer der Reichen dienen, wurden von diesem Menschen, der niemals in seinen Wünschen Widerstand gefunden hatte, und sie zum erstenmale nicht befriedigen konnte, unbarmherzig zertrümmert und auf die Erde geschleudert. Einem verzogenen Kinde ähnlich, das ungehorsam ist und sein Spielzeug zerbricht, wenn man ihm die Erfüllung seiner Wünsche verweigert, ließ Emil seine Wuth an Allem aus, was er erfassen konnte; denn die Menschen sind große Kinder, besonders wenn sie das Glück verdorben hat.

»Ohne die Rückkunft dieser Kleinen wäre Stephanie mein gewesen! ;...« sagte sich Emil, indem er sich ganz erschöpft auf einen Sopha warf; »sie wäre mein gewesen ... dieses so hübsche ... so naive ... so liebende Mädchen! ... Wie schön war sie, als sie zu mir flehte ... Und ein Kind hat alle meine Hoffnungen zerstört ... mein Glück verhindert! ... Ein Kind ... die Tochter eines Wasserträgers ... hat sich mir in den Weg gestellt ... mir ... Emil Delaberge ... mir, der ich Gold genug habe, meine Leidenschaften zu befriedigen ... mir! ... der ich, seit ich in dem Alter bin, sie zu empfinden, keinen Widerstand gefunden habe, indem ich den Einen dieses Gold im Ueberflusse hinwarf und die Andern mit Schwüren abfertigte. Und ein Kind hält mich zurück ... verhindert mich, glücklich zu sein; denn was hinfüro beginnen? ... Stephanie hat die Gefahr begriffen ... Sie wird sich in Zukunft in Acht nehmen. Verdammte Zizine! ... Ich verabscheute sie längst! ... Ah! jetzt hasse ich sie womöglich noch mehr! ... Könnte ich sie doch zerbrechen, wie dieses Glas!«

Dabei schlug Emil mit aller Gewalt auf ein Glas, das auf einem Tische neben ihm stand; das Glas zerbrach, aber er schnitt sich tief in die Hand, so daß Blut floß; da hielt er endlich, ganz beschämt über sich selbst, inne, verband seine Wunde mit einem Taschentuche und sagte, rings herumblickend: »Welch ein Thor bin ich! ... Welche Unordnung ... Werde ich mich denn nie bezwingen lernen! ... Ich bin dreißig Jahre vorüber ... und was habe ich seit zwölf Jahren schon für Thorheiten, für Fehler begangen! ... Wäre es nicht Zeit, aufzuhören?«

Emil blieb lange Zeit in seine Betrachtungen versunken; sie schienen nicht angenehmer Natur zu sein; denn seine Stirne hatte sich verdüstert, seine Augen wurden trüb und starr, sein Athem kurz und schwer. Man hätte jetzt in ihm nicht mehr jenen so glänzenden, so prachtvollen Mann erkannt, den Gegenstand der Bewunderung der Salons, den Abgott der Frauen und den Beneideten aller Männer.

Endlich fuhr Delaberge mit seiner Hand über die Stirn, stand auf, machte einige Gänge durch sein Zimmer und nahm seine gewohnte Miene wieder an, indem er zu sich sagte: »Es gibt tausend andere eben so schöne Frauenzimmer als Stephanie ... ich will sie vergessen ... mich mit einer Andern beschäftigen ... das ist sehr leicht.«

Während vier Tagen kehrte Emil nicht zu den Damen Dolbert zurück; er versuchte Stephanien zu vergessen, er erneuerte seine alten Bekanntschaften und knüpfte neue an; aber in Gesellschaft der schönsten Frauen, der lockendsten Koketten, verfolgte ihn unaufhörlich Stephaniens Bild; er fand, daß das Vergessen nicht so leicht ist, wenn die Liebe unbefriedigt blieb.

Am fünften Tage hielt er es nicht länger aus, er stieg in sein Kabriolet und begab sich zu Madame Dolbert.

Seit ihrem Tête-à-Tête mit Emil war Stephanie traurig, schweigend, und selbst Zizinens freundliche Worte konnten nicht einmal ein Lächeln auf ihre Lippen zurückbringen; sie fühlte, das Betragen ihres Geliebten sei verdammenswerth gewesen, aber sie liebte ihn immer noch und beklagte, daß er es selbst verschuldet, daß sie ihn jetzt fürchten müsse; sie seufzte und weinte insgeheim, ihn nicht mehr wiederkommen zu sehen; in der Tiefe ihrer Seele dachte sie, Emil liebe sie nicht mehr, weil er versucht hatte, sie ihrer Unschuld zu berauben, statt bei ihrer Großmutter um ihre Hand anzuhalten.

Wenn aber ein Liebender Unrecht hat, so ist das noch kein Grund, ihn weniger zu lieben; oft bringt das sogar die entgegengesetzte Wirkung hervor; die Liebe muß sich mit Eifersucht, mit Unruhe und mit Thränen verbinden, sonst würde sie statt eine Flamme zu sein, nichts weiter als ein Dampf bleiben!

So auch wurde Stephanie vor Freude fast ohnmächtig, als Delaberge bei ihrer Großmutter wieder zum Besuche erschien; sie saß gerade bei der guten Mama, deren Gesundheit sich täglich mehr stärkte und die nun schon weniger Zeit im Bette zubrachte.

Emil wurde durch Stephaniens Blässe lebhaft ergriffen; sie schien ihm noch schöner zu sein; beide wechselten nur einen flüchtigen Blick, aber wie viel lag in demselben für diejenigen, die ihn verstanden; auf der einen Seite Liebe, Hoffnung und Reue, auf der andern Beständigkeit, Kummer und Verzeihung.

Die gute Mama machte Delaberge freundliche Vorwürfe, daß er sie ein wenig vernachlässige, Stephanie sprach nichts, sie fürchtete durch den Ton ihrer Stimme ihre Bewegung zu verrathen.

Emil benützte einen kurzen Augenblick, wo das Mädchen in ein anderes Zimmer ging, um ganz leise zu sagen: »Lieben Sie mich noch?«

Stephanie antwortete nichts, aber zwei große Thränen entschlüpften ihren Augen, und sie versuchte umsonst, sie ihrem Geliebten zu verbergen.

Indeß suchte Emil vergebens Gelegenheit, mit Stephanien allein zu sein; man sah, daß diese dieselbe mit eben so großer Sorgfalt floh, als jener sich bemühte, sie herbeizuführen.

So verstrichen mehrere Wochen; zuweilen ging Emil drei bis vier Tage nicht zu Stephanien, dann konnte er die folgenden Tage nicht mehr von ihr wegkommen. Bald wollte er sie vergessen, dann überließ er sich wieder seiner Leidenschaft, bald hoffte er noch auf ein Tête-à-Tête, dann verzweifelte er wieder daran, jemals zum Ziele zu gelangen, so daß er am Ende gar nicht mehr wußte, welche Partie er ergreifen sollte.

Eines Abends endlich benützte Emil einen Augenblick, wo Zizine am Piano beschäftigt war, ergriff Stephaniens Hand, und sie heftig in den seinen drückend, sagte er mit dem Tone der Leidenschaft zu ihr: »Ich kann so nicht mehr leben ... Stephanie, man schlägt dem Manne, den man liebt, nicht Alles ab ... Sie versichern mich, ich sei Ihnen immer noch theuer, und doch kann ich nicht die mindeste Gunstbezeigung von Ihnen erlangen ... bewilligen Sie mir ein Rendezvous ... ein kurzes Gespräch ... wenn Sie mir das verweigern, so lieben Sie mich nicht und Sie werden mich nicht wieder sehen.«

»Dann werde ich Sie nicht wieder sehen, mein Herr,« erwiderte Stephanie, indem sie ihre Hand aus den seinigen zog; »denn ich will lieber den Verlust Ihrer Liebe, als den meiner Ehre beweinen.«

Emil war durch diese Antwort und den Ton, mit welchem man ihm bewies, daß er nicht mehr die mindeste Hoffnung für seine lasterhaften Pläne haben dürfe, zu Boden geschmettert. Er entfernte sich wüthend und verzweifelnd, indem er schwur, diejenige niemals wieder zu sehen, welche die Kraft hatte, ihm zu widerstehen.

Einige Tage verstoßen, Delaberge ließ sich bei Madame Dolbert nicht mehr sehen; Wochen vergingen, man hörte nichts mehr von Emil.

Die Großmama konnte Emils Betragen nicht begreifen, denn sie zweifelte gar nicht an seiner Liebe zu ihrer Enkelin; jeden Tag erwartete sie, daß er sich darüber erklären werde; sie dachte nur, er habe, bevor er sich an sie wendete, sich versichern wollen, daß er Stephanien nicht mißfalle, und nun, da er die Gewißheit davon erlangt haben mußte, stellte er seine Besuche ein; dieses Benehmen mußte der Madame Dolbert unerklärlich sein.

Stephanie litt im Stillen, aber niemals kam der Name Emil über ihre Lippen, und wenn die Großmutter von ihm sprach, suchte das Mädchen immer die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand zu lenken.

»Es ist doch recht sonderbar!« sagte Madame Dolbert zu ihrer Enkelin, »Hast Du denn mit Herrn Delaberge einen Wortwechsel gehabt? Seid ihr böse mit einander? ... Denn sein Wegbleiben muß doch einen Grund haben.«

»Wir haben uns über nichts gestritten,« antwortete Stephanie, »und ich weiß nicht, gute Mama, warum Emil nicht mehr kommt.«

Die gute Mama schüttelte den Kopf, denn sie vermuthete, daß ihre Enkelin ihr nicht Alles sage.

Dann ging Stephanie fort, um sich im Verborgenen auszuweinen, und, als Zizine mehrere Male ihre junge Beschützerin mit Thränen in den Augen überrascht hatte, sagte letztere zu ihr: »Wenn Du willst, daß ich Dich immer gleich lieben soll, so darfst Du meiner guten Mutter nicht sagen, daß Du mich hast weinen sehen.«

Sechs Wochen waren verflossen, und diese Zeit hatte dem jungen Mädchen sehr lange geschienen, da Stephanie die Stunden und die Tage zählte, oft weinend, aber immer noch hoffend.

Um die Mitte eines Tages, der eben so traurig angefangen hatte wie die andern, wurde ein Besuch angemeldet. Delaberge erschien bei Madame Dolbert und zeigte sich Stephanien, die gerade ihrer Großmutter zur Seite saß und ihren Augen kaum trauen wollte, als sie den Mann wieder sah, der ihr ein ewiges Lebewohl gesagt hatte.

Das Auftreten Emils hatte etwas Wichtiges, Feierliches; nach einigen gewöhnlichen Begrüßungen näherte er sich der Madame Dolbert und sagte: »Sie haben mich lange Zeit nicht gesehen, Madame; ich habe zuvor einige Familienangelegenheiten in Ordnung bringen wollen, ehe ich die Bitte an Sie stellen wollte, wegen welcher ich heute hergekommen bin. Madame ... ich liebe Fräulein Stephanien ... Sie kennen meine Familie ... Mein Vermögen beläuft sich auf fast hunderttausend Franken Rente ... ich bitte Sie um die Hand Ihrer Enkelin ... Wenn mich diese nämlich als Gatten nicht verschmäht.«

Es wäre schwer, die Wirkung zu beschreiben, welche diese Worte auf Stephanien machten; ganz außer sich, zitternd vor Freude, von Liebe durchdrungen, weinte und lachte sie zu gleicher Zeit, dann reichte sie Emil ihre Hand und rief: »O! Ja ... ja ... ich will Sie zu meinem Gatten haben!«

Die Großmama lächelte, denn für sie hatte dieser Auftritt nichts Außergewöhnliches; sie hatte diese Frage schon seit langer Zeit erwartet, ergriff die Hand ihrer Enkelin und legte sie in die Emils, indem sie sagte: »Seid glücklich ... seid einig, meine lieben Kinde«; ohne Euch etwas davon zu sagen, habe ich diese Liebe wohl errathen ... Herr Delaberge, ich bewillige Ihnen die Hand meiner Stephanie.«

Emil küßte ehrerbietig die Hand, welche man in die seinige gelegt hatte, und Stephanie, die sich nun nicht mehr fürchtete, ihre volle Liebe an den Tag zu legen, sagte halblaut zu ihm: »Bösewicht! ... Sechs Wochen auszubleiben! ... O! ich war recht unglücklich! ... Aber ich will nicht mehr an das denken ... Theurer Emil ... Ach! welches Glück erwartet mich, ich werde also Ihre Frau! ;...«

»Ja!« erwiderte Emil, »ja ... Sie werden meine Frau ;...« und in Gedanken fügte er hinzu: »Es muß wohl sein! da es das einzige Mittel ist, sie zu besitzen.«


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