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Fünfzehntes Kapitel

Eine Erzählung

Kaum hatten sich Agathe und Julius von Herrn Guerreville entfernt, als dieser seinem Diener rief und ihm befahl, Niemanden mehr eintreten zu lassen, da er in seinem Gespräche mit dem Doktor nicht unterbrochen werden wolle.

Nachdem er nun mit Jenneval allein war, setzte er sich zu ihm hin und begann, ohne weitere Einleitung, seine Erzählung: »Ich werde über das, was auf meinen Kummer keinen Bezug hat, rasch hinweggehen. Ich bin der Sohn eines hohen Beamten und besitze zwanzigtausend Franken Rente. Sehr frühe verwaist, hatte ich es meinem Namen zu verdanken, daß ich ohne Mühe eine wichtige Anstellung bei einer Verwaltungsbehörde erhielt; da ich aber die Freiheit liebte und keinen Ehrgeiz besaß, kam ich nach einigen Jahren um meine Entlassung ein; übrigens machten mich mein etwas schroffer Charakter und meine Freimüthigkeit zu einem schlechten Hofmann, und wären mir auf dem Wege zur Größe immer hinderlich gewesen.

»So viel über meine Stellung in der Welt; jetzt will ich von meinen Gefühlen sprechen. In meiner Jugend hatte die Liebe für mich tausend Reize; mit einem glühenden Herzen, mit einer flammenden Seele geboren, überließ ich mich vielleicht zu schnell dem Zauber eines ersten Eindrucks, welchen mich bald ein anderer, wenn auch nicht vergessen, doch sehr vernachlässigen ließ. Kurz, ich hatte solche Verhältnisse, welche für den größten Theil der jungen Leute nur Launen sind, denen aber bei mir immer Liebe zu Grunde lag. Wenigstens glaubte ich es.

»Ich war kaum fünfundzwanzig Jahre alt, als ich in der Gesellschaft ein Fräulein Demontfort kennen lernte, sterblich in sie verliebt wurde und sie heirathete, fest überzeugt, meine Liebe werde ewig währen. Meine Frau war sanft, gut, liebenswürdig ... und trotz dem wurde ich ihr nach einiger Zeit untreu ... Doktor, ich gestehe meine Schuld ein ... denn ich habe die Gewohnheit, offen zu sein und habe mir nie Tugenden angemaßt, die ich nicht hatte.

»Ich besaß ein sehr hübsches Gut in der Nähe von Orleans; meine Frau liebte den Aufenthalt auf diesem Landgute und wollte sich dort niederlassen; ich aber kam oft nach Paris und bediente mich dann aller Freiheiten eines Unverheiratheten. Um diese Zeit machte ich die Bekanntschaft eines jungen und liebenswürdigen Mädchens ... Namens Marie ... ich verliebte mich in sie ... und hatte das Unglück, ihr zu gefallen ... Ich wandte indeß keine List an, und verbarg ihr auch nicht, daß ich nicht mehr frei war ... Trotz dem gestand mir Marie, daß sie mich liebe ... Ach! Doktor, die Vernunft ist sehr schwach in jenem Alter, wo die Liebe so große Gewalt hat ... Wir wurden schuldig ... Bald fühlte Marie, daß sie ein Pfand unserer Liebe unter ihrem Herzen trug ... Glücklicherweise war ich reich, ich konnte das Schicksal des jungen Mädchens sicher stellen und sie aller Sorgen überheben; aber Marie war sehr schön! ... In dem Augenblick, wo ich ihr ein Geschäft kaufen wollte, bot ihr ein Mann seine Hand an. Marie war unfähig, ihn betrügen zu wollen, sie verbarg ihm ihre Lage nicht, demungeachtet beharrte dieser Mann auf seinem Entschluß, sie zu heirathen. Marie fragte mich um Rath ... sie hätte vorgezogen, nur für mich zu leben, aber ich bewog sie, das Schicksal ihres Kindes zu sichern, und sie gehorchte mir ;...«

»Ich wollte wetten,« sagte der Doktor, »daß dieser junge Julius das Kind dieser zärtlichen Marie ist.«

Guerreville antwortete Jenneval nur durch einen starken Druck der Hand und fuhr dann in seiner Erzählung fort: »Um diese Zeit lernte ich auch in Gesellschaft eine junge und hübsche Frau kennen, die gegen ihren Willen an einen Mann verheirathet war, den sie, wie sie mir wenigstens sagte, niemals geliebt hatte ... Ich habe mich später überzeugt, daß sich damit alle Frauen entschuldigen, wenn sie sich eine Schwachheit vorzuwerfen haben. Ich tröstete diese Frau in ihrer Langeweile; ihr Mann war damals abwesend; seine Reise zog sich in die Länge, und die Lage dieser Dame wurde kritisch ... Sie verstehen mich, Doktor?«

»Vollkommen ... Der Mann kam endlich zurück, Alles glich sich aus, denn die Ehemänner sind die besten Leute von der Welt, und Sie wurden selbstverständlich der Pathe der kleinen Agathe: war das nicht das Ende Ihrer Geschichte?«

»Ja, Teufelsdoktor, so ist's ... Das sind meine Fehler; doch ich wollte Ihnen Alles sagen, und Ihnen ein vollständiges Bekenntniß ablegen. Indeß hatte mir meine Frau, ein Jahr nach unserer Verheiratung, eine Tochter geschenkt ... Sie kam so schwächlich, so zart auf die Welt, daß man meiner Frau rieth, sie in der Franche-Comté aufziehen zu lassen, wo wir eine Tante hatten, die über unser Kind wachen sollte. Wir befolgten diesen Rath und besuchten jedes Jahr unsere Tochter. Ich kann Ihnen nicht sagen, mit welcher Wonne ich sie küßte! ... Jedesmal wollte ich sie mit fortnehmen, aber ich gab dem Rath des Doktors nach. Erst als sie ihr sechstes Jahr erreicht hatte, nahmen wir unsere Pauline mit uns. Damals ... O! damals fing ich an, mich seltener zu entfernen; meine Ausflüge nach Paris kamen minder oft vor, es war mir so wohl in der Nähe meiner Tochter! ... wenn ich sie an mein Herz drückte, empfand ich ein so reines, ein so neues Vergnügen! ... Ach! mein lieber Jenneval, damals lernte ich begreifen, daß es ein unwandelbares Gefühl gibt, welches uns eines Tages für den Verlust aller übrigen entschädigen kann! ... Es ist das Gefühl, das man für seine Kinder empfindet ... Ich hegte für meine Frau die aufrichtigste Freundschaft, aber meine Tochter machte sie mir noch theurer. Als Pauline heranwuchs, wurde sie so liebenswürdig, so einnehmend; meine Gedanken veränderten sich, ich wurde solid, vernünftig ... das Glück, die Zukunft meiner Tochter zu sichern, nur darauf war ich bedacht. Wenn ich bisweilen noch nach Paris ging, so war ich kaum dort, als ich mich wieder fort und nach meiner Tochter sehnte; und doch lebten in Paris auch Julius und Agathe. Aber werden Sie wohl glauben Doktor, daß mir der Anblick dieser beiden Kinder eher lästig als angenehm war? Zuweilen, in Gegenwart ihrer Mütter, konnte ich nicht umhin, sie zu küssen ... dann aber schien es mir, als ob ich Liebkosungen an sie verschwendete, die meiner Tochter gehörten; und weit entfernt, daß mein Herz Theil daran genommen hätte, war das immer widerwärtig für mich. Und doch hätten, den Rechten der Natur gemäß, Julius und Agathe eben so viele Ansprüche auf meine Liebe haben müssen, als Pauline. Woher kommt es nun, daß das nicht der Fall war? Doktor, erklären Sie mir diese Eigenthümlichkeit, die, ich bin es überzeugt, nicht bei mir allein vorkommt, sondern viele Andere gleich mir bemerkt haben. Wie kommt es, daß die Früchte der Liebe, der Intrigue, des Geheimnisses von uns nur mit Gleichgültigkeit angesehen werden, während wir diejenigen Kinder, welche uns Hymen gibt, lieben, obgleich die Liebe oft sehr wenig Antheil an ihrem Entstehen gehabt hat. Ist es deßwegen, weil uns jene an einen Fehler, an eine Schwachheit erinnern, die wir gern vergessen möchten?«

»Nein, mein lieber Guerreville; es kommt daher, wie ich glaube, weil sich unser Herz nur denen öffnet, welche uns den süßen Namen Vater geben. Ja, mein Freund, dieser Name, welcher von uns zu gleicher Zeit Liebe und Schutz verlangt, erweckt in unserer Seele die zartesten Gefühle der Natur, und ich versichere Sie, unser Gedächtniß kann uns noch so sehr an eine alte Neigung erinnern, eine liebenswürdige und schöne Frau kann uns mit noch so bedeutungsvoller Miene ansehen, während sie uns einen kleinen, hübschen Jungen vorstellt, niemals werden wir unsere väterlichen Gefühle für ein Kind erwachen sehen, das uns nicht seinen Vater nennen darf.«

Guerreville dachte einige Augenblicke über Jennevals Worte nach, dann fuhr er in seiner Erzählung fort: »Meine Tochter war nahezu elf Jahre alt, als wir ihre Mutter verloren. Ich war über diesen Verlust doppelt betrübt, da er mich einer guten und aufrichtigen Freundin, welche immer nachsichtig gegen meine Fehler gewesen war, und meine Pauline einer Führerin, einer Stütze in allen Verhältnissen beraubte. Damals that ich den Schwur, mich ganz meiner Tochter zu widmen, und ich habe Wort gehalten. Ich hörte auf, in die Hauptstadt zu gehen, wohin mich nichts mehr zog; ich blieb bei meinem geliebten Kinde, das meine ganze Zärtlichkeit besaß; ich verwandte meine Mußestunden dazu, ihre Erziehung zu überwachen; ich gab ihr alle Lehrer, welche sie zu wünschen schien; ich suchte auch alle Vergnügungen ihres Alters um sie zu vereinen; kurz, ich war darauf bedacht, ihr die Mutter zu ersetzen; und wenn zuweilen meine etwas rauhe Sprache meine Tochter einzuschüchtern schien, so beeilte ich mich, durch eine Liebkosung die Freude auf ihre Stirn und das Lächeln auf ihre Lippen zurückzubringen.

»Meine Pauline hatte ihr sechzehntes Jahr erreicht. Schon sagte ich mir in Gedanken: ich werde ihr einen Gatten wählen müssen, der diese sanfte, gefühlvolle und furchtsame Seele wohl zu verstehen wisse, der sich gleich mir ihrem Glücke widme; denn ich würde dem nie verzeihen, der meiner Tochter eine Thräne erpressen könnte. Aber dieser Gedanke ging nur flüchtig an meinem Geiste vorüber. Pauline war noch so jung! Beseligt in ihrer Nähe, genoß ich meines Glückes, ihres Glückes, denn meine Tochter liebte mich zärtlich. O! ja, sie liebte ihren Vater, obgleich meine manchmal strenge Miene sie oft furchtsam und schüchtern in meiner Nähe machte. Unglückselige Schüchternheit! sie verhinderte meine Tochter, mir ihr ganzes Vertrauen zu schenken.«

Guerreville stützte einige Augenblicke seinen Kopf in die Hände; man sah, daß er an die schmerzvollste Stelle seiner Erzählung gekommen war; endlich sammelte er seinen Muth und fuhr fort: »Wir erhielten oft Gesellschaft. Einwohner von Orleans, Gutsbesitzer aus der Umgegend; ich wollte nicht, daß meine Tochter in der Einsamkeit leben sollte. Pauline war allerliebst, Jedermann sagte es mir, und in meinen Augen war es meine Tochter von jeher gewesen.

»Eines Tages machten wir bei einem reichen Gutsbesitzer aus unserer Nachbarschaft die Bekanntschaft eines jungen Mannes, Namens Daubray, der aus Paris kam und zu seiner Ausbildung reisen wollte. Noch sehr jung, denn dieser Daubray zählte kaum dreiundzwanzig Jahre, nahm Alles bei ihm zu seinen Gunsten ein: sein Aeußeres, seinem Manieren, seine Unterhaltung; es war schwer, sich nicht zu ihm hingezogen zu fühlen. Er wußte sich zu benehmen, besaß alle Talente und war, wie man sagte, aus einer reichen Familie; kurz, Jedermann suchte seine Gesellschaft. Er kam auch zu mir. Ich empfing ihn mit Vergnügen; er zeichnete vortrefflich und musicirte mit meiner Tochter: ich konnte in diesem Umgang durchaus nichts Gefährliches ahnen. Ueberdies, wenn ich zufällig abwesend war, hatte eine Frau, in die ich mein ganzes Vertrauen setzte, den Befehl von mir erhalten, meine Tochter nicht zu verlassen. So verflossen einige Monate. Plötzlich wurde Pauline nachdenklich, schwermüthig, und mehr als einmal hatte ich, beunruhigt über die Veränderung, welche ich in ihrem Wesen wahrnahm, sie gefragt, ob sie irgend einen Kummer habe; aber immer waren ein Lächeln und ein Kuß ihre Antwort; und ich drückte ihr dann die Hand, überzeugt, daß sie vor ihrem Vater kein Geheimniß haben könne.

»Eines Abends verließ sie mich trauriger und blässer als gewöhnlich; als sie mich umarmte, schien es mir, als ob sie zittere. Ich ergriff ihre Hand und behielt sie lange in der meinigen, indem ich zu ihr sagte: »Theures Kind, wenn Du irgend einen Kummer hast, so wäre es sehr Unrecht von Dir, ihn mir nicht anzuvertrauen; denn es gibt kein Opfer, das ich nicht bringen würde, um Dein Glück zu sichern.«

»Sie schlug die Augen nieder und floh, als wenn sie sich zu sprechen gescheut hätte. Als ich allein war, dachte ich darüber nach, woher die Unruhe meiner Tochter kommen könnte, und zum erstenmale kam mir der Gedanke, daß sie den jungen Mann, der uns fast täglich besuchte, lieben könnte. Aber wenn dies der Fall war, warum mir ihre Liebe nicht eingestehen? Und wenn dieser Daubray meine Tochter liebte, warum ihr Hand nicht von mir verlangen? So dachte ich und wartete mit Ungeduld auf den kommenden Morgen, um Paulinen zu nöthigen, mir ihr Herz zu öffnen. Aber der Morgen kam, und ich sah meine Tochter nicht wieder; sie war abgereist, sie hatte ihren Vater verlassen, sie war fort ... für immer. O mein Gott! Warten Sie, lieber Freund, lassen Sie mich zuerst Athem schöpfen. Die Erinnerung an jenen traurigen Tag bleibt mir immer schrecklich!

»Ich war gewohnt, jeden Tag, sobald ich aufgestanden war, meine Tochter zu küssen. Ich begab mich in ihr Zimmer, Pauline war nicht darin; ich ging hinunter, ich rief Madame Armand, die Frau, welche fortwährend um meine Tochter war, und die ich, ihres gesetzten Alters wegen, meines Vertrauens für würdig gehalten hatte; ich fand sie nicht. Ich ging in den Garten, meine Nachsuchungen waren nutzlos. Ich fragte den Gärtner, während mein treuer Georg schon in der Umgegend umherlief, um die Frauenzimmer aufzusuchen. Der Gärtner hatte Niemand gesehen; er sagte mir aber, daß, als er am Morgen sich an sein Geschäft begeben, er eine Gartenthüre, die auf das Feld führte und die gewöhnlich von innen doppelt verschlossen war, nur angelehnt gefunden habe.

»Dieser Umstand setzte mich in Erstaunen; durch diese Thüre, welche auf einen Weg führte, der an die Landstraße grenzte, ging man fast nie; durch welchen Zufall sollte meine Tochter und ihre Gouvernante gerade diesen Weg genommen haben? Unruhig, gepeinigt, kehrte ich in das Zimmer meiner Tochter zurück. Indem ich es mit den Augen durchlief, erblickte ich auf einem Tische einen Brief: er war an mich adressirt und ich erkannte die Handschrift meiner Tochter. O! da ahnete ich ein schreckliches Unglück! Hier ... das ist jener unheilvolle Brief; lesen Sie, mein Freund.«

Jenneval nahm einen Brief, welchen Guerreville aus einer Brieftasche zog, die er immer bei sich trug; die Schriftzüge schienen mit zitternder Hand gezogen, und man sah noch die Spuren von Thränen, die beim Schreiben vergossen worden waren. Der Doktor las mit bewegter Stimme:

»Theurer Vater, verzeihen Sie mir! O! verzeihen Sie mir, wenn ich gefehlt habe, indem ich Ihnen meine Liebe zu Daubray nicht eingestand; aber er hat mir gesagt, daß Sie ihm meine Hand verweigert hätten, und ich ihm, um Ihre Einwilligung zu unserer Verbindung zu erlangen, durchaus folgen und Sie auf einige Zeit verlassen müßte ... Sie verlassen ... es scheint mir, daß das sehr Unrecht ist, aber Madame Armand, die in das Geheimniß unserer Liebe gezogen wurde, war auch der Ansicht, daß das der einzige Weg sei, Sie zur Zustimmung zu bewegen. Daubray dringt in mich, beschwört mich ... O mein Gott! ... ich werde Ihnen großen Kummer verursachen; aber ich werde zurückkommen. O! ja, mein Vater, seien Sie gewiß, daß ich zurückkommen werde, und ich bin vollkommen überzeugt, daß Sie Ihre Pauline nicht verstoßen werden.«

Herr Guerreville, der diesen Brief nicht hatte anhören können, ohne abermals Thränen zu vergießen, nahm ihn wieder zu sich, legte ihn sorgfältig in seine Brieftasche und rief: »Als ich dieses las, begriff ich den ganzen Umfang meines Unglücks. Ich war auf eine schändliche Weise von diesem Daubray und dieser Frau, der ich aufgetragen hatte, über meine Tochter zu wachen, getäuscht, verrathen worden; aber dieser junge Mann hatte auch meine Pauline betrogen, indem er ihr gesagt hatte, ich hätte ihm ihre Hand verweigert; niemals hatte er ein Wort mit mir über diesen Gegenstand gesprochen. Warum diese Lüge? Warum meine Tochter verleiten, sich entführen zu lassen? Wenn er sie aufrichtig liebte, warum nicht ihre Hand in Wirklichkeit von mir begehren? ... Wäre er auch ohne Vermögen, ohne Aussichten gewesen, ich hätte doch den Bitten meiner Tochter niemals widerstehen können. Meine Vermuthungen waren gräßlich; denn es wurde mir klar, daß meine Pauline wie ich betrogen worden war. In den ersten Augenblicken meiner Verzweiflung wollte ich den Vorfall an die Behörden berichten und den Flüchtlingen nachsetzen lassen; aber bald fühlte ich den großen Nachtheil, den ein solcher Schritt meiner Tochter hätte bringen müssen. Ich! ihren Fehltritt, vielleicht ihre Entehrung veröffentlichen? O! nein, ich entschloß mich im Gegentheil, alle meine Sorgfalt anzuwenden, um ihn zu verbergen, und ich sagte mir: wenn meine Tochter wieder zu mir zurückkommt, soll sie nicht gezwungen sein, vor der Welt zu erröthen. Indeß begab ich mich doch zu dem Manne, bei dem ich Daubray zum erstenmal gesehen hatte, und indem ich meiner Aufregung Herr zu werden suchte, sagte ich, ich möchte, da ich von der Abreise dieses jungen Mannes gehört hätte, gerne seine Adresse in Paris wissen, ober wenigstens die eines Mitgliedes seiner Familie, um mich nach ihm zu erkundigen, wenn ich hinkäme. Da gestand man mir, daß man von ihm eben so wenig wisse, als ich; Daubray sei von einem jungen Manne, den man sehr genau kannte, eingeführt und vorgestellt worden; aber dieser sei nach Rußland gegangen und gleich nach seiner Ankunft dort gestorben; es war demnach nicht möglich, irgend eine bestimmte Nachricht über diesen Daubray und seine Familie zu erhalten, in Betreff welcher er uns vielleicht ebenfalls getäuscht hatte; und auf solche Weise empfängt man in der Gesellschaft nur zu oft Unbekannte und kettet sich an Personen, über deren Umgang man erröthen würde, wenn man ihre früheren Handlungen genau kennte. Ich kehrte nach Hause zurück und überlegte nun, wie ich's anzugreifen hätte, um das Vergehen meiner Tochter vor der Welt zu verbergen. Ich erblickte nur einen Ausweg, den, auf der Stelle mit meinem treuen Georg abzureisen, jenen Aufenthaltsort zu verlassen, an dem ich während so langer Zeit in der Nähe meiner Pauline glücklich gelebt hatte, und das Gerücht auszusprengen, ich sei mit meiner Tochter auf Reisen. Mein Gärtner erhielt meine Verhaltungsbefehle; dieser brave Mann war mir ergeben; er schwur mir, es sollte niemals Jemand erfahren, daß meine Tochter mich verlassen habe, und ich möchte ihm nur immer meinen Aufenthaltsort anzeigen und ihm meine Adresse schicken, damit er mir die Briefe, welche für mich einlaufen würden, auf der Stelle nachsenden könnte. Nun reiste ich ab. Ich verließ meine Besitzung. Ich ging zuerst nach Paris, denn dort hoffte ich meine Tochter wiederzufinden. Ueberall erkundigte ich mich, ob man einen Namens Daubray kenne; ich erfuhr nichts. Diese Familie war unbekannt. Nach Verfluß einiger Tage schickte mir mein Gärtner einen Brief, er war von meiner Tochter; man hatte aber die Vorsicht gehabt, ihn einem Reisenden zu übergeben, und er hatte nur das Postzeichen von Orleans. Meine Pauline bat mich von Neuem wegen ihres Fehlers um Verzeihung; sie weine vor Kummer, schrieb sie mir, ihren Vater nicht mehr küssen zu können; aber sie schmeichle sich, bald mit ihrem Gatten kommen zu können, um meine Verzeihung anzustehen. Dieser Brief gab nur ein wenig Hoffnung, und wie groß auch der Fehler meiner Tochter sein mochte, ich sehnte mich, sie in meine Arme zu schließen. Ich fühlte wohl, daß ich diesen Daubray nicht würde achten können, der, um mich zu zwingen, ihm die Hand meiner Pauline zu geben, es für unumgänglich nothwendig gehalten hatte, sie zu entführen, sie dem väterlichen Hause zu entreißen; denn inmitten der Verirrungen meiner Jugend hatte ich mir doch niemals solche Fehler vorzuwerfen. Und wenn ich auch einige Frauen, einige junge Mädchen verführt habe, so hatten sie wenigstens keinen Vater, keine Mutter mehr um sich, die ich ihrer Stütze, des Trostes ihrer alten Tage beraubt hätte. Aber ich sagte mir: Um meiner Tochter willen werde ich ihrem Geliebten vergeben, und vielleicht wird es dieser Mensch in meiner Gegenwart nicht wagen, sie unglücklich zu machen.

»Ich setzte meine Nachforschungen fort; ich begab mich incognito nach Orleans; doch ich war dort nicht glücklicher; ich kehrte nach Paris zurück; sechs Wochen waren verflossen. Ich erhielt wieder Nachrichten von meiner Tochter, sie versprach mir immer, zu mir zurückzukehren; aber ich glaubte in ihren Briefen schon einen Anstrich von größerer Traurigkeit zu bemerken; sie schrieb mir nicht Alles, was sie empfand ... ich errieth es aus den unbedeutendsten Worten, die sie hingeworfen hatte; ich kannte das Herz, die Seele meiner Tochter so gut, diese furchtsame und liebevolle Seele, die man auf eine so schändliche Weise mißbraucht hatte, um sie glauben zu machen, daß sie sich von ihrem Vater entfernen müßte.

»Ich war aufs Höchste beunruhigt; aber die Hoffnung hatte mich nicht verlassen. Jeden Morgen schmeichelte ich mir, der Tag würde nicht enden, ohne meine Tochter in meine Arme zurückgeführt zu haben. Mein Gärtner hatte meine Befehle erhalten, er durfte mir meine Pauline auf der Stelle schicken, sie im Voraus versichern, daß ich bereit sei, ihr zu vergeben. Mehr als zwei Monate vergingen; endlich erhielt ich wieder einen Brief von Paulinen; sie klagte sich noch mehr an; sie warf sich ihr Vergehen bitterer vor; ich sah, daß ihre Thränen auf dieses Schreiben geflossen waren, und sagte mir: meine Tochter ist unglücklich. Aber sie schloß mit dem Versprechen, zurückzukehren, sich zu meinen Füßen zu werfen, und sich nie wieder von mir zu entfernen. Ach! ... dieser Brief war der letzte! ... Ja, mein Freund, seit jener Zeit habe ich keine Nachricht mehr von meiner Tochter erhalten, und das sind bald acht Jahre. Acht Jahre sind verflossen, seitdem ich zum letztenmal ihr Versprechen erhielt, in meine Arme zurückzukehren. Ach! urtheilen Sie über meinen Schmerz ... meine Verzweiflung! Ich fing meine Nachforschungen aufs Neue an, reiste mehrere Jahre hindurch, habe Italien, die Schweiz, England durchlaufen, mich überall erkundigt, nachgefragt, die ängstlichsten Nachforschungen angestellt, die Spuren von Personen verfolgt, welche mich einige Zeichen von Ähnlichkeit für die halten ließen, die ich suchte ... aber ich sah mich stets getäuscht in meinen Hoffnungen! Ermüdet von meinen Reisen, zog ich mich nach Château-Thierry zurück. Ich floh die Welt. Sie kennen nun die Ursache. Nicht allein mein Schmerz verhindert mich, den geringsten Reiz an ihr zu finden, sondern auch der Umstand, daß wenn ich mit Jemand zusammentreffe, der mich kennt, ich unaufhörlich lügen muß; denn ich will noch immer den Fehler meiner Tochter verbergen. Wenn man sich bei mir nach ihr erkundigt, sage ich, sie sei verheirathet, sie wohne weit von mir! Sie, Doktor, Sie sind der Einzige, der ihren Fehler kennt; doch Sie werden ihn nie bekannt machen; o! niemals, nicht wahr? Aber seit acht Jahren nichts mehr zu hören, nicht ein Wort über ihr Geschick. Sollte sie todt sein! ... Todt! O! nein, nein, sie ist nicht fern von ihrem Vater gestorben, ohne daß ich sie wieder gesehen, sie umarmt, ohne daß sie die Versicherung von mir gehört hätte, daß ich ihr allen Kummer, den sie mir gemacht, verzeihe! Todt! o, mein Gott! das wäre zu schrecklich! ... O! meine arme Tochter! Wenn das wäre, so bitte doch den Himmel, daß er mich bald zu Dir rufe.«

Als er diese Worte mit dem Tone der Verzweiflung gesprochen hatte, ließ Herr Guerreville den Kopf auf seine Brust sinken. Jenneval näherte sich ihm, faßte ihn in seine Arme und sprach zu ihm mit jenem Tone, der aus dem Herzen kommt: »Muth, mein Freund, verlieren Sie nicht alle Hoffnung! ... Jetzt sind wir zu Zwei, um Ihre Tochter zu suchen und die Spuren ihres feigen Räubers zu entdecken, und der schönste Tag meines Lebens wird der sein, an dem es mir gelingen wird, Ihre Thränen zu trocknen.«


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