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Achtes Kapitel

Ein Freund und ein Ueberlästiger

Es war schon eine beträchtliche Zeit verflossen, seit Agathe Herrn Guerreville verlassen, und dieser saß noch immer in seine Gedanken versunken und unter der Last eines Kummers seufzend, dem selbst die Hoffnung zu fehlen anfing, in derselben Stellung auf seinem Stuhle, Stunde und Gegenwart, Alles vergessend, um nur an seine Tochter zu denken.

Georg, an die Gemüthsart seines Herrn gewöhnt, erlaubte sich niemals, ihn in seinen Betrachtungen zu stören, denn er wußte, daß ihm dann ein schlechter Empfang zu Theil würde. Mehr als einmal hatte Guerreville schon auf diese Art die gewöhnliche Speisestunde verstreichen lassen. An solchen Tagen hütete sich Georg wohl, ihn daran zu erinnern; er sagte sich dann: »Wahrscheinlich hat der Herr keinen Hunger, weil er nicht daran denkt, zu Tische zu gehen. Allein da er in einer Restauration speist, steht es ihm ja frei, hinzugehen, wann es ihm gefällt ;...«

Diesmal öffnete Georg gegen seine Gewohnheit halb die Thüre zum Zimmer seines Herrn, und da er ihn unbeweglich auf dem Stuhle sitzen sah, so hustete er, um sich bemerklich zu machen, und Herr Guerreville, der durch dieses Geräusch an seine gegenwärtige Lage erinnert wurde und sich nun wieder allein sah, während ihn seine Träume mit seiner Tochter vereinigt hatten, wandte sich heftig gegen seinen Diener und rief mit zorniger Stimme aus: »Was wollt Ihr von mir, warum tretet Ihr ein, ohne daß ich Euch gerufen habe?«

Der arme Georg war ganz bestürzt und im Begriff, sich zurückzuziehen, ohne etwas zu sagen, aber sein Herr fuhr fort: »Nun gut! Werdet Ihr sprechen? ... Weßhalb stört Ihr mich? ;...«

»O! mein Herr, es ist wahr; ich hätte bedenken sollen ... aber ich werde diesem Herrn sagen, daß es Sie stört, und daß Sie ihn heute nicht annehmen können.«

»Wie! noch Jemand! ... aber will man mich denn gar nicht in Ruhe lassen! ... Wer ist da?«

»Es ist der Herr von da drunten ... von Château-Thierry ... der Doktor Jenneval ... er behauptet, ein Arzt habe jeder Zeit das Recht, bei seinen Freunden einzutreten ... selbst wenn sie nicht krank sind ;...«

»Der Doktor ... der Doktor Jenneval!«

Herr Guerreville erhob sich, strich sich mit der Hand über die Stirne und sagte zu Georg: »Herr Jenneval kann eintreten.«

Der Doktor trat ein, lief auf Herrn Guerreville zu und drückte ihm herzlich die Hand, während dieser seinem Bedienten ein Zeichen gab, sich zu entfernen.

»Da bin ich,« sprach Jenneval, indem er sich mit froher Miene auf einem Stuhle niederließ. »Ich habe ein wenig gezögert ... aber ich mußte meine Angelegenheiten beenden, mit meinen Patienten liquidiren! ... Diese waren so gütig, mich gar nicht loslassen zu wollen, und ich weiß in der That nicht recht warum; denn ich habe mich sehr oft über sie und über ihre Krankheiten lustig gemacht ... Aber vielleicht gerade deßhalb ... Ich glaube, daß ich mehrere eher dadurch geheilt habe, daß ich sie zum Lachen brachte, als durch Rezepte. Endlich habe ich mich losgerissen, der Provinz Adieu gesagt und bin nun in Paris, um hier die Leute vom Leben zum Tod zu kuriren.«

»Sie wollen sich hier niederlassen, Doktor?«

»Ja; das Leben in einer kleinen Stadt ... ihre Klatschereien, ihre Vergnügungen, ihre Gebräuche, das Alles behagt mir nicht mehr. Es lebe Paris! für die Künste und Wissenschaften, für die Theorie und Praxis! Indeß habe ich in Château-Thierry schöne Stücke ausgeführt ... und noch zu guter Letzt herrliche Kuren vollbracht ... zum Beispiel Madame Blanmignon ganz von ihren Krämpfen geheilt, indem ich ihr Pillen eingab, die nur aus Mehl bestanden, und den alten Herrn Benoit, der eine Magenentzündung zu haben glaubte, dadurch wieder hergestellt, daß ich ihn fünfzehn Tage lang nichts als Lebkuchen essen ließ ... Wahrhaftig, diese Leute hatten den rechten Glauben! ;...«

»Es scheint, mein lieber Doktor, daß Sie Ihre Heiterkeit noch nicht verloren haben ;...«

»Ich werde mich wohl hüten, denn damit heile ich meine Kranken. Uebrigens komme ich mit Empfehlungsbriefen beladen an ... habe auch überdies einige Bekanntschaften hier ... und vielleicht wissen Sie, daß ich fast eben so sehr aus Neigung, als aus Interesse praktizire. Ich habe viertausend Franken Rente, bescheidene Wünsche, keinen Ehrgeiz: Mit diesem kann ein Arzt, der noch unverheiratet ist, ganz gut auf Patienten warten, ohne ein epidemisches Fieber oder die Cholera herbeizuwünschen. Aber wie steht es mit Ihnen, mit Ihrer Gesundheit? ... Ich hätte mich eigentlich zuerst darnach erkundigen sollen.«

»Ich danke, Doktor; mit meiner Gesundheit steht es gut ;...«

»Aber Sie sind noch immer traurig, noch immer insgeheim betrübt ... O! ich sehe das wohl, bei Ihnen leidet die Seele. Wohlan! ich werde Sie zu zerstreuen ... ein wenig zu beschäftigen suchen ... Ich werde nicht nach Ihren Geheimnissen fragen ... o! ich will mich nicht in Ihr Vertrauen eindrängen ... Das Vertrauen muß von selbst kommen ... und dann gibt es auch Kummer, den man lieber geheim hält; wahrscheinlich gehört der Ihrige zu dieser Gattung ... Später vielleicht, wenn Sie mich besser kennen werden ... denn da Sie mir einmal erlaubt haben, Ihre Bekanntschaft zu pflegen, so hieße es Ihnen schlecht für Ihr Vertrauen danken, wenn ich Sie mit meinen Fragen belästigen wollte. Also abgemacht: Ich werde nie auf diesen Gegenstand zurückkommen. Aber ich werde es versuchen, Ihnen die Falten der Sorge und Bekümmerniß von der Stirne zu streichen, denn das gehört zu meinen Funktionen.«

»Mein lieber Jenneval, ich bin wahrhaft vergnügt, Sie wieder zu sehen.«

»Ich muß Ihnen sagen, daß ich die Reise von Château-Thierry nach Paris mit einem Manne gemacht habe, der auch sehr wünscht, Ihre Bekanntschaft zu machen ... Aber ach! es ist das neugierigste Geschöpf, das ich jemals getroffen. Es ist Herr Vadevant, einer von denen, die Ihnen ihre Karten zuschickten, als sie gehört hatten, daß Sie mit dem Unterpräfekten befreundet seien. Kaum hatte er erfahren, daß ich mich in Paris niederlassen wollte, so wußte er es auch zu veranstalten, die Reise mit mir zu machen. Unterwegs sprach er viel von Ihnen. Um ihn recht aufzustacheln, ließ ich durchblicken, daß ich darauf rechnete, Sie oft zu sehen, da bat er mich auf der Stelle, ihn bei Ihnen einzuführen.«

»Das werden Sie aber nicht thun, lieber Doktor?«

»O! seien Sie ruhig; Herr Vadevant ist einer von den Menschen, bei denen man sich nicht fürchten darf, ihnen etwas abzuschlagen, da sie sich dadurch nicht abhalten lassen, Einem dieselbe Bitte hundertmal zu wiederholen; er gehört zu denen, welche glauben, daß man vermittelst der Zudringlichkeit am Ende Alles von den Leuten erhält. Es ist wahr, daß man damit bisweilen durchdringt; man gewährt Leuten, die uns lästig sind, manchmal Etwas, was man einem bescheidenen Freunde verweigert hätte ... die Welt ist nun einmal so ... aber ich bin deßhalb nicht geneigter, die Bekanntschaft mit Herrn Vadevant fortzusetzen, obgleich dieser mir bereits das Anerbieten gemacht hat, der Arzt mehrerer seiner hiesigen Freunde zu werden, und unter Anderem auch einer seiner Cousinen, einer sehr reichen Dame, wie er sagt, mit zwei allerliebsten Töchtern, die sie bald verheirathen wird: Er behauptet sogar, nur deßhalb nach Paris gekommen zu sein, um einer dieser Hochzeiten beizuwohnen und seiner Cousine bei den hiezu nöthigen Einkäufen an die Hand zu gehen. Auch hat er mir schon den Vorschlag gemacht, mich bei dieser Cousine einzuführen.«

»Mein lieber Doktor, lassen wir Ihren Herrn Vadevant, der mich durchaus nicht interessirt ... späterhin werde ich Sie mit einigen Personen bekannt machen, die mich näher angehen; inzwischen könnten Sie mir schon einen großen Gefallen erweisen.«

»Sprechen Sie, ich stehe ganz zu Ihren Diensten.«

»Es war ungefähr vor drei Monaten, daß ich eine Wohnung suchte; ich trat in ein Haus der Montmartrestraße, wo ich, nachdem ich mehrere Gelasse angesehen, von einem armen Teufel sprechen hörte, der in einer Dachkammer krank lag ... es war ein Wasserträger ... er hatte zu seiner Verpflegung nur seine Tochter bei sich, ein Mädchen von sechs bis sieben Jahren; und da man davon sprach, ihn aus seiner Wohnung zu werfen, und seine Möbeln zu verkaufen, befiel mich die Neugier, zu ihm hinaufzusteigen.«

»Die Neugier! ... ich verstehe ;...«

»Ich sah den Mann ... er nannte sich Jerome ... er sah wie ein ordentlicher Mann aus; aber er war noch krank ... sein armes, kleines Mädchen war sehr schwächlich ... sehr zart ... aber es liebte seinen Vater zärtlich und wich nicht von seinem Lager ... und er, ach! auch er liebte seine Tochter ... er nannte sie seinen Schutzengel.«

Herr Guerreville hielt inne, von tausend Erinnerungen bewegt, die sein Herz bestürmten; endlich fügte er mit halber Stimme, und indem er seine Blicke auf die Erde heftete, bei: »Man ist so glücklich, wenn man seine Tochter bei sich hat.«

Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein, das Jenneval nicht zu unterbrechen wagte: denn schon hatte er einen Theil der Sorgen von Herrn Guerreville errathen. Endlich fuhr dieser fort: »Ich gab dem Kinde einiges Geld ... damit sein Vater nicht wegen der Miethe beunruhigt würde; aber nun möchte ich doch wissen, ob der arme Jerome völlig hergestellt worden ist ;...«

»Und was hielt Sie ab, ihn wieder zu besuchen?«

»Ich weiß nicht ... die Zeit verstrich mir so ;...«

»Sagen Sie vielmehr, daß Sie sich nicht den Dank für Ihre Wohlthaten holen wollten ... O! ich errathe Sie, ich lese in Ihrer Seele. Nun gut! ich, der ich dem Jerome nichts gegeben habe, ich werde ihn besuchen, und wenn er noch nicht hergestellt wäre, sein Arzt sein.«

»Sie wollten diese Güte haben, Doktor?«

»Diese Güte! und warum nicht; weil ich gerne lache und spaße, werden Sie doch bei mir kein unempfindliches Herz suchen, das für das Vergnügen, Anderen zu dienen, unempfänglich ist?«

»O nein, wenn ich Sie so beurtheilt hätte, so würde ich Sie nicht aufgefordert haben, mich wieder zu besuchen.«

»Die Adresse dieses Jerome?«

»Hier ist sie ... ich habe sie auf dieses Papier geschrieben.«

»Sehr gut ... ich werde morgen früh hingehen und Ihnen alsbald Bericht abstatten.«

»Ich danke Ihnen, mein lieber Doktor.«

»Indeß, das ist noch nicht Alles ... Haben Sie schon gespeist?«

»Nein ... ich dachte noch nicht daran.«

»Aber ich denke sehr daran, denn es ist spät, und ich habe Hunger. Speisen wir zusammen, Sie sollen nicht gezwungen sein, zu essen; aber vielleicht bekommen Sie Lust dazu, während Sie mit mir plaudern.«

»Ich bin zu Ihren Diensten.«

»Das ist brav gesprochen. Nehmen Sie Ihren Hut und gehen wir.«

Herr Guerreville ging mit dem Doktor weg, der seinen Arm in den seines Freundes legte, indem er sagte: »Wo speisen Sie gewöhnlich?«

»Ich habe keinen bestimmten Ort, ich speise in der Regel in dem Quartier, wo ich mich gerade befinde ... und da ich die Absicht habe, in Paris einen gewissen Jemand aufzufinden, so ist es mir nicht unangenehm, immer wieder andere Orte zu besuchen, weil man da auch wieder andere Gesichter sieht.«

»Vortrefflich, auch ich gestehe Ihnen, daß ich bei meiner Niederlassung in Paris einen Restaurations-Cursus durchzumachen wünsche; und zwar weit weniger aus Leckerei, als aus Neugierde; aber ich liebe es sehr, zu beobachten, und ich möchte wissen, wie man in Paris in den verschiedenen Klassen der Gesellschaft lebt. Werden Sie mich begleiten? Während ich meine Betrachtungen mache, werden Sie prüfen, ob Sie demjenigen, oder derjenigen, die Sie suchen, auf der Spur sind.«

»Sehr gerne, Doktor.«

»Aber ich sage Ihnen zum Voraus, daß ich Alles sehen will, von der kleinsten Garküche bis zur vornehmsten Restauration. Wenn man sich unterrichten will, muß man sich entschließen, manchmal in eigenthümliche Gesellschaft zu gehen.«

»Ich wiederhole es Ihnen, ich werde gehen, wohin Sie wollen, und vielleicht werde ich wirklich in meinen Nachforschungen glücklicher sein.«

»So ist es recht. Wir wollen gleich heute den Anfang machen; wir werden ja nicht gezwungen sein, da zu bleiben, wo es uns gar zu schlecht scheint. Man behauptet, in Paris sei nichts leichter, als zu Mittag zu speisen; ein Mittagsessen findet sich für jedes Vermögensverhältniß vor ... in der That, hier ist schon ein Anschlagzettel, lesen wir: Dîner zu sechzehn Sous ... Zu sechzehn Sous! ... sollte man es glauben? ... In diesem modernen Babylon, wohin man aus allen Ecken des Erdballs zusammenströmt, speist man um sechzehn Sous zu Mittag! ... Man braucht also keine fünfzigtausend Franken Rente, um in Paris zu leben?«

»Doktor, die Restaurationen, oder vielmehr die Orte, wo man zu essen bekommt, wuchern in dieser Stadt; denn es wäre lächerlich, schlechte Garküchen, aus denen man fortgeht, ohne sich restaurirt zu haben, Restaurationen zu nennen. Es gibt Speisewirthe, Wein- und Speisewirthe, bürgerliche Pensionen, Restaurationen zu festen Preisen und endlich Häuser, in denen man zu jedem Preis speist; diese letzteren Anstalten werden namentlich von Maurern, Steinhauern und überhaupt von Handwerkern besucht, welche vier Sous zahlen und sich dafür eine Suppe anrichten lassen, in welche sie ihr Brod einbrocken. Ich ehre die menschenfreundlichen Ideen und finde es sehr zweckmäßig, daß ein Steinhauer eine Suppe billig essen kann; Jedermann muß leben, der, welcher ein Haus bauen läßt, wie der, der es baut; aber ich glaube doch nicht, daß Sie Lust haben, in Gesellschaft von Maurern zu speisen.«

»Nein, wir wollen, ohne uns aufzuhalten, an den Restaurationen vorübergehen, in denen man zu jedem Preis essen kann; aber ein Mittagsessen um sechzehn Sous, das muß interessant sein ;...«

»Sie werden in Paris nicht dreißig Schritte machen, ohne Anschlagzettel zu bemerken, auf denen, zu sehr niedrigem Preise eine vollständige Mahlzeit angeboten wird. Für dreiundzwanzig Sous bekommen Sie eine Suppe, drei Platten nach Ihrer Wahl, Dessert, ein Fläschchen Wein und Brod nach Belieben. Für sechzehn Sous, sehen wir, was man dafür anbietet: Suppe, zwei Platten und Dessert ... keinen Wein, aber Brod auch nach Belieben ... Lockt Sie das nicht, Doktor?«

»Mich wundert nur das Dessert bei einer Mahlzeit, bei der man nichts als Wasser trinkt: das heiße ich ein verschossenes Kleid auf eine kokette Weise tragen; das ist immer Luxus bei Dürftigkeit. Fremde müßten lachen, wenn sie uns gedörrte Pflaumen oder Mandeln anstatt des Weines nehmen sähen. Aber ich habe mir vorgenommen, mich zu unterrichten und werde in einer Restauration zu sechzehn Sous speisen, wenn ich einmal eines Tags gerade keinen Hunger habe. Heute wollen wir bei Véfour im Palais-Royal zu Mittag essen.«

Herr Guerreville und der Doktor schlugen die Richtung nach dem Palais-Royal ein, und bald saßen sie an der Tafel in einem Salon bei Véfour; sehr gut gekleidete Herren und sogar einige Damen speisten um sie herum. Während Herr Guerreville seine Blicke langsam über die Personen, welche sich im Salon befanden, gleiten ließ, und Jenneval die Speisekarte durchging, die ihm ein Kellner gebracht hatte, öffnete ein kleiner Mann die Thüre des Salons, trat lächelnd, sich die Hände reibend, herein, und verneigte sich gegen das Comptoir; dann näherte er sich dem Tische, an welchem der Doktor saß und brach in einen Ausruf des Erstaunens aus. Jenneval erhob die Augen und sah seinen Reisegefährten, Herrn Vadevant, vor sich.

»Wahrhaftig! das ist schön! das ist köstlich!« schrie der kleine Mann, indem er dem Doktor auf die Schulter klopfte. »O! dieses Zusammentreffen ist herrlich! Wenn wir ein Rendezvous verabredet hätten, könnten wir uns nicht besser zusammen finden! Ich ging in dem Garten, vor der Rotunde, spazieren, ich schlenderte umher, wartete, bis sich der Appetit einstellen würde, und als er sich zeigte, sagte ich zu mir: »Speisen wir heute bei Véfour! ... Aeußerst erfreut, Sie hier zu finden!«

Jenneval neigte sich zu Guerreville und sagte ihm ins Ohr: »Ich wette, daß er sich vor die Rotunde in der Hoffnung hingestellt hatte, mir dort zu begegnen; denn dort gibt man sich, wenn man nach Paris kommt, gewöhnlich Rendezvous, um in Gesellschaft zu Tische zu gehen. Ich hatte sein Anerbieten, mit ihm zu speisen, abgelehnt, und er wird sich in den Kopf gesetzt haben, mich wiederzufinden; nun thut es mir leid, daß wir es nicht mit der Mahlzeit zu sechzehn Sous versucht haben, dann wäre Vadevant vor der Rotunde vergeblich Schildwache gestanden.«

Während der Doktor leise sprach, grüßte Vadevant Herrn Guerreville mehrmals sehr tief und sagte zu jedem vorübergehenden Kellner: »Ein Couvert ... rasch ein Couvert hierher, an die Seite dieser Herren ... wenn es Ihnen nämlich nicht unangenehm ist, meine Herren, daß ich neben Ihnen speise.«

Diese Frage gehört zur Zahl derjenigen, auf die es fast unmöglich ist, eine verneinende Antwort zu geben; wenn es einem aber Vergnügen macht, nur mit einem oder zwei Freunden zu speisen, so sieht man es immer mit Widerwillen, wenn sich Ungeladene eindrängen. Leute, die sich zu benehmen wissen, werden sich niemals auf solche Weise in die Mitte einer Gesellschaft hineinwerfen, welche sie nicht erwartet, sondern vorziehen, daß man sie einlade, und das mit Recht.

Herr Guerreville verneigte sich nur mit dem Kopfe gegen Vadevant, während Jenneval zu ihm sagte: »Setzen Sie sich hierher, Herr Vadevant, Ihre Nachbarschaft kann uns nur sehr angenehm sein.«

»Sie haben noch nicht angefangen zu speisen?«

»Nein ... Mein Gott, wir sind auch erst vor wenigen Augenblicken angekommen. Es scheint, als seien Sie uns auf dem Fuße gefolgt.«

»O, das findet sich sehr leicht ... Wenn es Ihnen beliebt, wollen wir gemeinschaftlich speisen; man bekommt mehr Gerichte und es ist angenehmer und billiger; übrigens bezahlt jeder seinen Antheil, das versteht sich von selbst ... Wenn dieser Herr nämlich nichts dagegen hat ;...«

Diese Frage, von einer Verbeugung begleitet, wurde abermals an Herrn Guerreville gerichtet, der jedoch wieder nur mit einem Nicken des Kopfes antwortete; aber Jenneval sagte lächelnd: »Es sei, Herr Vadevant, speisen wir zusammen ... Wahrhaftig, unsere Mahlzeit wird dadurch nur um so größeren Reiz erhalten! ... Wir ließen uns das Vergnügen nicht träumen, das Sie uns bereiten; aber wir sind sehr diffizil ... und so werde ich Sie zum Beispiel um die Erlaubniß bitten, essen zu dürfen, was mir gefällt.«

»Mit größtem Vergnügen; denn ich esse Alles gerne, ich bin ganz und gar nicht wählerisch ... und dann glaube ich auch, daß Sie gerade so denken, wie ich: ich gehe zum Essen, um zu essen, nicht um mir ein besonderes Bene zu thun. Wenn man überhaupt regelmäßig in einem Gasthause ißt, so muß man es betrachten, als speise man zu Hause.«

»Das ist ganz richtig. Kellner, Beaune erster Qualität.«

»Trinken Sie gewöhnlich Beaune erster Qualität?« fragte Vadevant mit betroffener Miene.

»Ja, ich liebe den guten Wein, auch in diätetischer Beziehung, und befinde mich wohl dabei.«

Vadevant wollte nicht den Anschein haben, als habe er eine andere Ansicht; er rieb sich die Hände, indem er sagte: »Also mir auch Beaune erster Qualität ... ich verachte ebenfalls den guten Wein nicht.«

Alsdann neigte sich der kleine Mann zu Jenneval und flüsterte ihm ins Ohr: »Ist das Herr Guerreville, der mit uns speist?«

»Er selbst!«

»O! ich habe ihn auf der Stelle wiedererkannt. Das kommt mir sehr gelegen, da ich vor Begierde brenne, seine Bekanntschaft zu machen. Bei Tische lernt man sich schnell kennen. Sagen Sie mir doch, spricht er immer nur durch Zeichen mit dem Kopfe?«

»Er spricht sehr wenig, aber ich rechne darauf, daß Ihre Liebenswürdigkeit ihn in Zug bringen wird.«

»Ich werde Allem aufbieten ... und sollte er nur im geringsten wünschen, auf die Hochzeit einer meiner jungen Cousinen zu kommen, so hat er nur darüber zu bestimmen.«

»Sie können ihm ja den Vorschlag machen.«

Jenneval zog sich zurück und nahm die Speisekarte in die Hand, die er zu durchlesen schien. Herr Guerreville schien wieder in seine Betrachtungen versunken zu sein und sich nicht mehr mit dem, was um ihn her vorging, zu beschäftigen. Vadevant bot vergeblich Allem auf, um sich angenehm zu machen; er schob das Salzfäßchen, den Senftopf vor ihn hin, bot ihm zu trinken und reichte ihm ein weniger hart gebackenes Brod; alle seine Anstrengungen halfen zu nichts; endlich begann er Kügelchen aus weichem Brod zu formen und machte sich wieder an den Doktor.

»Ei, mein lieber Doktor, wie sind Sie doch in die Speisekarte vertieft ... Man sollte glauben. Sie hätten über eine Mahlzeit von zwanzig Couverts nachzudenken.«

»Herr Vadevant, ich sehe nicht ein, warum drei Personen nicht eben so gut als zwanzig essen sollten. In Paris, wo man der Gastronomie Altäre erbaut, wo in der Kochkunst täglich neue Entdeckungen gemacht werden, ist das Studium der Speisekarte in den Restaurationen kein unwichtiger Punkt; es reicht nicht hin, bei einer guten Mahlzeit tapfer einzuhauen, den Vortheil versteht am Ende der erste beste Bauer; aber es zu verstehen, ein feines Diner zu commandiren; dabei entwickelt sich Genie, Takt und Geschmack ... Dieses Talent ist weit seltener, als man glaubt! ... Kellner, frische Austern und Sauterne!«

Vadevant machte eine Bewegung auf seinem Stuhle und stotterte: »Ich halte nichts auf Austern, ich ;...«

»Ich aber um so mehr; bestellen Sie übrigens was Ihnen gefällt, geniren Sie sich nicht ... Sie sind nicht gezwungen, Austern zu essen. Kellner, serviren Sie diesem Herrn keine!«

»Verdammt!« sagte Vadevant zu sich, »ich werde mich doch nicht auf Butter und Radieschen setzen lassen, während er Austern ißt, und man doch gemeinschaftlich bezahlt!« Er rief dem Kellner nach: »He, Kellner, he! ich habe mich anders besonnen, ich nehme auch Austern, wie diese Herren.«

Man setzte Austern auf, die der Doktor mit einer Gewandtheit verschlang, welche Vadevant außer Athem brachte, da er vergeblich alle seine Kräfte aufbot, ebensoviel davon zu verzehren, wie sein Nachbar. Die Anstrengung, welche der kleine Mann machte, verursachte Jenneval vielen Spaß, der aber seine Lachlust unterdrückte und das Wort wieder nahm, als die Austern von der Tafel verschwunden waren.

»Mein lieber Herr Vadevant, Sie müssen gewiß, wie ich, mitleidig lächeln, wenn Sie so einen guten Bürgersmann speisen sehen, der die Feinschmeckerei in ihrer Vollendung zu kennen glaubt, wenn ihm seine Köchin eine Crème oder zu Schnee geschlagenes Eiweiß aufträgt.«

»Aber ich esse das zu Schnee geschlagene Eiweiß nicht ungerne.«

»Kellner! spanische Wachteln, ein Salmis von Rebhühnern mit Trüffeln, Lachs, Sauce anglaise ;...«

Vadevant schnitt eine Grimasse und wollte den Kellner zurückhalten, indem er sagte: »Aber ... Teufel ... das sind viel Sachen! Salmis mit Trüffeln ... Ich bin nicht sehr für die Trüffeln ... Wollen wir nicht etwas Anderes nehmen?«

»Nehmen Sie, was Ihnen beliebt, Herr Vadevant; ich nehme, was mir schmeckt.«

»Aber besprechen Sie sich nicht mit diesem Herrn?«

»O! Herr Guerreville läßt mir hierin freie Hand. Uebrigens, ich wiederhole es Ihnen, fordern Sie, was Sie wünschen; Sie werden vielleicht Sauerkraut und Schweinefleisch vorziehen?«

»Nein, nein, ich werde essen, was Sie essen!« Und Vadevant begann wieder Brodkugeln zu kneten, indem er zu sich sagte: Ich soll mir Sauerkraut und Schweinefleisch geben lassen, während sie Rebhühner mit Trüffeln verzehren! Und dann sollen wir gemeinschaftlich bezahlen ... ja Prosit die Mahlzeit, die hätten es gut vor!«

Man brachte die verlangten Platten; der Doktor legte vor und that dem Essen alle Ehre an; Vadevant hatte weniger Appetit, weil er ärgerlich war, wenn er daran dachte, daß er mehr, als ihm lieb war, werde bezahlen müssen; Herr Guerreville aß, ohne ein Wort zu sprechen; Jenneval allein führte die Unterhaltung.

»Glauben Sie mir, Herr Vadevant, man kann sich bei Anordnung eines Diners auf mich verlassen. Ich schmeichle mir, bereits einigen Geschmack zu haben, und dann liebe ich es, meine kulinarischen Kenntnisse zu erweitern, nach Allem zu forschen und von Allem zu kosten, was ich noch nicht kenne ... Kellner, bringen Sie uns eine Chipolata, aber vorher einen gebratenen Fasan.«

»Einen Fasan!« schrie Vadevant, indem er von seinem Stuhle aufsprang; »Sie scherzen wohl? ... Wir werden doch nicht auch noch einen Fasan verzehren können!«

»O, der ist nicht sehr groß ... Ich liebe die Fasanen leidenschaftlich. Aber wenn Sie vielleicht lieber einen Gansschlägel essen, so dürfen Sie ja nur verlangen. Wir können mit dem Fasan ganz gut ohne Sie fertig werden. Kellner, dem Herrn einen Gansschlägel!«

»O nein, nein! ... den Teufel auch! ich will keinen Gansschlägel ... ich kann die Gänse nicht leiden; ich werde suchen, noch ein wenig Appetit für den Fasan zu finden ... Aber wissen Sie auch, Doktor, daß Sie ein fermer Esser sind! ... Donner und Doria! was für ein Appetit!«

»O, das ist noch nichts ... ich bin heute nicht recht im Zuge; aber sobald wir das nächste Mal wieder zusammen speisen, will ich Ihnen ein Diner arrangiren lassen, an dem Sie Ihr Wunder sehen werden.«

»Ja, Du mußt es schlau anfangen, wenn Du mich noch einmal daran kriegen willst,« dachte Vadevant, indem er wieder eine Brodkugel knetete.

Man brachte den Fasan. Jenneval verlangte Bordeaux-Lafitte, dann Champagner; manchmal wechselte er einen Blick mit Herrn Guerreville, der nur lächelte und den Kopf wegwandte, wenn er glaubte, Vadevant könnte das Wort an ihn richten wollen. Dieser wagte es nicht mehr, sich irgend eine Bemerkung gegen den Doktor zu erlauben; er entschloß sich, zu essen und zu trinken, selbst auf die Gefahr hin, sich krank zu machen.

Durch die Absicht, für sein Geld so viel als möglich zu verzehren, bekam Vadevant einen kleinen Hieb, welcher übrigens bei Leuten von guten Sitten nie in Trunkenheit ausartet, aber das Gespräch sehr erhitzt. Der kleine Mann war nicht eigentlich munter gestimmt, weil es ihn verdroß, mehr ausgegeben zu haben, als er gewollt; aber er suchte sich zu betäuben und wollte durchaus durch dieses Diner eine Art Bekanntschaft zwischen sich und Herrn Guerreville herbeiführen. Man kam zum Dessert, und Vadevant, dessen Wangen glühten und dessen Augen fast aus dem Kopfe sprangen, hörte nicht auf zu schwatzen, während er sich abwechselnd an Herrn Guerreville, der ihm nicht antwortete, oder an den Doktor wandte, welcher lachen mußte, wenn er ihn ansah.

»Ich bin entzückt, die Bekanntschaft des Herrn gemacht zu haben,« sagte Vadevant, indem er zum drittenmale Herrn Guerreville sein Glas zum Anstoßen hinhielt. »Ich habe es schon lange gewünscht, der Doktor ist mein Zeuge ... Nicht wahr, Doktor, ich habe in Château-Thierry mehrmals mit Ihnen von dem großen Vergnügen gesprochen, das mir der nähere Umgang mit Herrn Guerreville gewähren würde, dessen großes Lob ich aus dem Munde unseres hochverehrten Herrn Unterpräfekten hörte? ... Es war nur eine Stimme in der Stadt, um dem Herrn die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die er verdient. Man sagte überall: O, Herr Guerreville! ... das ist ein sehr ausgezeichneter Mann ... voll Fähigkeiten ... voll ;...«

»Und wie konnte man das Alles von mir sagen, mein Herr?« erwiderte Herr Guerreville achselzuckend. »Wußte man denn, wer ich war? Was konnte Ihnen den Wunsch einflößen, meine Bekanntschaft zu machen? Konnte ich nicht ein Intriguant, ein Schelm sein?«

»O, niemals! Sie ein Freund des Herrn Unterpräfekten! Ueberdies sieht man ja gleich an dem Benehmen, an den Manieren ... Nicht wahr, Doktor, noch ehe ich den Namen des Herrn wußte, sagte ich: der Herr, der das Haus von Tricot gemiethet hat, ist, was man nur anständig nennen kann.«

»Ja, wahrhaftig!« erwiderte Jenneval lachend, »Sie hatten die beste Meinung von Herrn Guerreville; es ging ja sogar so weit, daß Sie ihm eines Abends eine Serenade bringen wollten. Ich erinnere mich, daß Alles bereits mit mehreren Mitgliedern der bei Madame Blanmignon versammelten Gesellschaft arrangirt war. Als ich eintrat, hatten sie schon alle ihre Instrumente ... Ich weiß nicht mehr, welches Sie spielen wollten, Sie, Herr Vadevant?«

Der kleine Mann stieß den Doktor an den Fuß und an die Kniee und gab ihm durch Zeichen zu verstehen, daß er schweigen möchte. Jenneval aber, der dies nicht zu bemerken schien, fuhr fort: »Ich glaube. Sie hatten eine Schellentrommel, wenigstens machten Sie mit dem, was Sie in der Hand hielten, viel Lärm.«

»Der liebe Doktor scherzt, er will immer lachen. Wir waren an jenem Abende im Begriff, eine Charade bildlich darzustellen ... eine Art von Sprüchwort ;...«

»Dessen Verfasser Sie waren, nicht wahr?«

»Ich erinnere mich dessen nicht mehr ... Aber es ist sehr heiß hier ... wollen wir nicht in's Freie gehen?«

»Gern; aber wir müssen zuerst bezahlen.«

Jenneval verlangte die Rechnung; sie belief sich auf sechsundsechzig Franken.

»Gerade zweiundzwanzig Franken per Kopf,« sagte der Doktor, Vadevant die Rechnung hinbietend; dieser machte ein unverkennbar langes Gesicht, als er sein Geld aus der Tasche zog, doch suchte er so gut als möglich seine üble Laune zu verbergen. Man verließ die Restauration, und Vadevant, der nicht geneigt schien, seine beiden Tischgenossen loszulassen, schob seinen Arm in den des Doktors und sprach: »Was beginnen wir nun? ;...«

»Nun ... Herr Guerreville und ich hatten beschlossen, diesen Abend in's Theater Français zu gehen.«

»In's Theater Français! damit bin ich ganz einverstanden; man gibt ein Stück, das sehr beliebt ist! ... Es bringt die ganze Stadt auf die Beine ... das muß man auch sehen.«

»Was mir nur im Wege steht, ist, daß ich vorher noch mit Herrn Guerreville zu einem Freunde gehen muß, der ein wenig krank ist. Es ist nicht weit von hier ... Allein ich fürchte, daß wir dann keinen Platz mehr finden, es wäre denn, daß Sie die Güte haben wollten, sogleich in's Theater zu gehen, um Plätze für uns zu belegen.«

»Sehr gern ... Ich gehe sogleich ... Wo wollen Sie Plätze haben? ;...«

»Nun ... auf dem Balkon ;...«

»Auf dem Balkon, sehr gut ... Ich verspreche Ihnen, für Sie zwei Plätze aufzubewahren ... Ich werde meine Handschuhe ... mein Taschentuch darauf legen ... Ich werde sogar der Schließerin sagen, sie solle kleine Bänke hinstellen ;...«

»Dann werden wir das Vergnügen haben, den Rest des Abends in Ihrer Gesellschaft zuzubringen.«

»Ich fliege in das Theater Français ... auf den Balkon, das ist abgemacht ... und erwarte Sie dort ;...«

Vadevant lief, was er konnte, durch den Garten, indem er Jedermann auf die Seite drängte, um schneller in's Theater Français zu gelangen, während Jenneval und Guerreville ihre Schritte nach den Boulevards richteten, und der Doktor noch lachend sagte: »Ich glaube nicht, daß er noch einmal Lust bekommen wird, gemeinschaftliche Zeche mit uns zu machen ... Ich hoffe, mein lieber Herr Guerreville, daß Sie meinem Benehmen in dieser Angelegenheit Ihre Beistimmung geben werden?«

»O! vollkommen. Ihr Herr Vadevant ist ein unausstehliches Wesen; ich danke Ihnen, daß Sie mich von ihm befreit haben.«

»Ich bin nicht gut dafür, daß wir ihn für immer los sind. O! der kleine Mann ist hartnäckig, eigensinnig ... Aber dann werden wir schon sehen, und noch andere Mittel finden.«

Der Doktor begleitete hierauf Herrn Guerreville nach seiner Wohnung, welcher ihm beim Fortgehen nachrief: »Vergessen Sie den armen Wasserträger nicht! ;...«


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