Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Unermüdlich ging Lichtermark herum in Kranichstedt und streute Nachrichten aus. Den Vorstand des Quartettvereins sparte er sich für die Dämmerstunde auf.

»Man hört«, begrüßte Mittenzwey den unerwarteten Besucher, »Sie fahren jetzt auch in die große Stadt, kommen jedoch nicht einmal mit dem ersten Frühzug am anderen Morgen wieder nach Hause –«

»– sondern noch später«, antwortete Lichtermark behaglich, »aber ehe ich weiterrede, Verehrter, müssen Sie eine Flasche aufkorken. Ich habe viel Musikalisches zu berichten von meiner Reise, brauche von Zeit zu Zeit eine Befeuchtung der Kehle, und Sie werden einen stärkenden Schluck auch nicht entbehren können, wie Sie mir gleich bestätigen sollen.«

Die Vorbereitungen zu Lichtermarks Schilderung seiner Reiseerlebnisse wurden getroffen. Die Herren stießen an und wünschten sich zunächst ein Wohlsein. Lichtermark begann.

Wir kennen den Inhalt seiner Rede und haben hier nur festzustellen, was im technischen Aufbau des Berichtes abwich 214 vom historischen Gang der Ereignisse. Lichtermark fing nämlich von hinten an zu erzählen und ließ dann den gesamten Vorderteil weg. Von Beckers Seelenleben in den letztverwichenen drei Tagen erfuhr Mittenzwey so gut wie nichts. Der Vorstand kannte ja Becker auch nur ganz flüchtig. Auch von Stradivariusgeigen verstand Mittenzwey wenig, und mit Museumsfragen wollte ihn Lichtermark erst recht nicht aufhalten – aber das Konzert! »Jaja«, sprach der Professor in Erinnerung versunken, »wie nun der große Dirigent den Taktstock vom Pult nimmt und wie ich da vor dem Gewandhausorchester den Solisten stehen sehe, unseren lieben Andreas – ich muß gestehen: da war ich ein bißchen stolz auf unser Kranichstedt und unseren Quartettverein. Und Ihnen, lieber Archivrat, wird es nicht anders zumute sein. Für Sie als den Vorstand muß es doch eine Befriedigung und eine Erhebung sein, eine solche Begabung durchgebracht zu haben durch alle die Schwierigkeiten, die Gefahren und Verärgerungen, die künstlerische Lebenspfade nun einmal bieten – nicht nur für den, der sie geht, sondern vor allem für die, welche das Unglück haben, auf Weg und Steg achthaben zu müssen. Was zum Beispiel haben Sie, bester Archivrat, für Aufregungen durchmachen müssen, bis wir den Andreas so weit hatten, wie er nun Gott sei Dank ist! Ich würde doch an Ihrer Stelle nun auch einmal in die große Stadt fahren und dem Geheimrat einen Besuch machen. Es wäre doch schade, wenn die Stadt des Ildewigpergamentes den Geiger ganz verlieren müßte. Denn wenn irgendwer, dann können wir Kranichstedter sagen: er ist unser!«

Lichtermark sprach nicht etwa nur das soeben Vorgebrachte – er redete beinahe endlos, ohne Pause, immer 215 draufzu. Er wußte, daß Mittenzwey seine Zeit brauchte, um sich erst einigermaßen zu fassen und schließlich an den Gedanken zu gewöhnen: Ja, es war schwer, aus diesem Zweiten Geiger einen Ersten zu machen, aber nun gelang es! Lichtermark hatte denn auch die Freude, den Vorstand am letzten Ende seiner langen Erzählung so meisterhaft erwachen zu sehen, so rüstig hineintreten in die Wirklichkeit und in die sogenannten gegebenen Tatsachen, wie nur irgend nach einem schweren Quartettvortrag. Zur Verblüffung des Professors sagte Mittenzwey sogar: »Man wolle eben bei der Suche nach einer Erklärung für solch eine fast sprunghaft glückliche Entwicklung des Talentes nicht außer acht lassen: wir leben in Kranichstedt, Bester, in der Stadt des großen Spielmanns –«

»– und der Ildewig, mein guter Archivrat.«

»Auch dieser.« Mittenzwey nickte und begann nun seinerseits zu berichten.

Großes hatte sich zugetragen am Ort in Lichtermarks Abwesenheit. Haukes Spielmannsdenkmal war glücklich aufgestellt worden in der Nische am Rathaus. Bürgermeister Müller hatte es für besser befunden, ohne weiteres Aufsehen, ohne feierliche Enthüllung insbesondere und möglichst rasch die Nischenfrage abzuschließen. Bei der Suche nach Agnes war Lichtermark nicht über den Ratsmarkt gekommen – »Sonst hätten Sie die wohlgelungene Dekoration gar nicht übersehen können«, sprach Mittenzwey und kam nun zum Hauptereignis. Er hatte bekanntlich in seiner Eigenschaft als Vorstand eines musikalischen Vereins angeregt, die Figur des Spielmanns als Blickfang in die Mitte der Nische zu setzen, und Hauke war bereitwillig auf diesen Gedanken eingegangen. Mancher noch nicht als 216 Stammsitzmieter eingetragene Einwohner stand jetzt nachdenklich vor der Statue des Geigers: »Man weiß manches, aber vom Geigen sollte man doch mehr wissen. Wie hoch ist der Jahresbeitrag des Quartettvereins eigentlich?«

Gewiß war der große Spielmann eine Lebensmacht in Kranichstedt. Nur vergaßen die Kranichstedter, daß sie den Spielmann bloß deshalb mit ihrer Stadt verbunden sehen konnten, weil ihn die Ildewig gerettet hatte vorm Kranichstedter Galgen.

»Aber weiter«, sprach Mittenzwey und ging von der Rathausnische zum Rathausinneren über, das sich zur Zeit von Lichtermarks Abreise in beträchtlicher Unordnung befand.

Umschlag hatte seine Wandplatten am anderen Tag wieder anfahren, in dem ein Stockwerk höher gelegenen Saal ausbreiten und zur Einmörtelung vorbereiten müssen. Im Ratssaal selbst aber trat die alte Malerei unter den sachkundigen Händen der eiligst erschienenen Fachleute Stück um Stück zutage. Die verdeckende neuere Mörtelschicht löste sich weiterhin leicht vom alten Grund, und man konnte bereits ahnen, was da zutage trat – riesengroß, vom Fußboden bis zur Decke reichend! Noch war die verdeckende mürbe Kalkschicht nur an einzelnen Stellen abgenommen. Wie zur Zeit der Schneeschmelze aus dem Weiß hier der warmbraune Erdgrund blickt, dort eine rosenfarbig überhauchte Schneerose, da der Blaustern dem künftigen Himmelsblau voraufleuchtet und die gelbe Blume des Adonis der goldenen Sommersonne – so waren Farbinseln erschienen im weißen Kalk der Saalwand und lockten zum Raten, welche noch verborgenen Linien und Farben die Flecken verbinden werden und ihnen Bedeutung geben.

217 Das Rätsel war nicht schwer zu lösen. Wir sagten schon: wenn Kranichstedter zu raten beginnen, kommt immer Kranichstedt heraus. Hier trat nun wirklich Kranichstedt aus dem Rätsel hervor ins Licht – freilich das inwendige Kranichstedt, jenes Kranichstedt, welchem das Lied galt, das einst der große Spielmann gegeigt hatte zur Nacht in der Schänke, vor den Armen und den wenig Geachteten.

»Was sollte auch«, sprach Mittenzwey, »an die Wand gemalt worden sein in unserer Stadt, als das Wahrzeichen Kranichstedts: die Geschichte mit dem Spielmann, Verehrter!«

»Man kann ihn schon erkennen?«

»Ein Stück von der Figur. Aber die Geige sieht man bereits in seiner linken und den goldenen Pantoffel in seiner rechten Hand.«

Lichtermark legte die Zigarre weg, rückte das Weinglas von sich, stand langsam auf: »Und die Ildewig?«

Mittenzwey nickte: »Auch sie, wenn freilich vorderhand nur weniges zu sehen ist. Die weibliche Figur steht auf dem Wandbild ebenso in der Mitte, wie auf dem zerbrochenen alten Relief über dem Marienportal. Sie ergänzt so aufs beste die Haukesche Auffassung, in der sie seitwärts vom Spielmann erscheint. Aber die Ildewig ist es: man bemerkt das grüne Gewand, den nackten Fuß, auch ihre sehr zierliche Hand, die das Kleid hebt.«

Atemlos hatte Lichtermark zugehört . . . »Mittenzwey, wie sieht sie aus?«

»Ihr Antlitz ist vorläufig unterm Kalk. Man weiß es noch nicht.«

Jetzt geschah etwas in Gesellschaft sonst nicht Bräuchliches. Lichtermark nahm die Weinflasche, goß sein Glas 218 voll, trank das Glas aus, füllte es abermals, leerte es wiederum in einem Zug, wollte zum dritten Trunk schreiten – Mittenzwey sah fassungslos zu, wie sein Gast den Wein austrank – aber die Flasche war bereits leer. Lichtermark hielt sie noch einmal gegen das Lampenlicht: sie enthielt wirklich keinen Tropfen mehr, und Lichtermark stellte sie hin und sprach: »Ich weiß, wie sie aussieht.«

»Wer!«

»Die Ildewig.«

»Dann wissen Sie mehr als die Fachleute«, sagte der verstimmte Archivrat.

»Ich weiß auch mehr. Viel mehr! Ich kenne sie. Wenn sie Angst hat, perlt ein Tränentröpfchen wie ein Tau im Blütenkelch, und wenn sie tut, was sie will, geht das Rondo aus a-moll in A-dur« – Lichtermark fühlte des Archivrats Blick: er hält mich für betrunken – »Nein nein«, fuhr er fort, »ich bin ganz bei mir. Aber ihr seid nicht bei euch. Ihr kennt die Ildewig nämlich auch. Aber ihr seid Ochsen. Ihr werdet ihr im ganzen Leben nicht begegnen.«

Mit offenem Munde hatte Mittenzwey seinem Gast nachgestarrt, der nach diesen Worten mit kurzem Abschiedsgruß zur Türe hinausgelaufen war.

Erhitzt kam Lichtermark in seinem Hause an.

»Willst du jetzt essen, Fritz?« fragte die Gattin.

»Natürlich«, antwortete der gedankenversunkene Mann. »Aber ich will dir erst etwas sagen! Komm her. Hör zu! Emma, es geschehen noch Wunder. Hast du mich verstanden?«

»Gewiß, Fritz.«

»Du hast mich nicht verstanden! Früher, Emma, traten die Wunder wunderlich auf. Da merkte sie jeder. Seitdem 219 sind die Leute wunderlich geworden vor lauter Gescheitheit. Darum treten die Wunder jetzt natürlich auf. Und deshalb merken sie nur die natürlichen Menschen.«

Lichtermark wischte liebevoll über das schwarzglänzende Holz seines Flügels, er öffnete ihn.

»Du redest so geistlich, Fritz, du warst wohl bei Arcularius?«

»Nahebei« – er wühlte in seinen Notenstößen.

»Willst du auch 'n Teller Suppe vorher?«

»Gewiß, Emma«, sagte er und wühlte weiter, »iß nur.«

Jetzt hatte der Alte das abgegriffene Heft gefunden: »Wolfgang Amadeus Mozart«, las er andächtig, »Rondo in a-moll, komponiert am 11. März 1787« – er setzte sich, schlug den a-moll-Akkord an, sagte: »Andante« und begann . . . Als aber der letzte Pianissimoakkord verklang, senkte Lichtermark langsam den Kopf: »Ach ja, mit feuchten Augen lächelnd – Kind: darum eben der letzten Weisheit habhaft.«

 


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