Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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»Dich«, hatte Andreas gesagt und das Papier mit der Geschichte der heiligen Ildewig längst glattgestrichen in tiefen Gedanken. Er hatte die Stradivari gestimmt, aber nur einen verschollenen Ton hin und wieder in der Höhe oder in der Tiefe angezupft. Dabei lehnte er an der Wand und starrte das Fenster an. Ganz groß wurde das Fenster in seinem Gesicht, als ein ungeheures Lichtviereck überblendete es seine Kammer. Cis summte er . . . fis . . . unverbunden tauchten aus dem ungreifbar hinwallenden Gedankenstrom immer neue Toninseln hoch, gewagt entfernt, unüberbrückbar zu Melodie . . . aus einem Strom: aus den unzähligen Tropfen, deren jeder einen Regenbogen wert war, aber deren keiner rund für sich bestand, alle fluteten aufgeschlossen entformt in dem hinwallenden lebendigen Wasserbalken des Stroms . . . Andreas hob die Geige, begann zu spielen. Und wie er spielte, erschien in dem blendenden Lichtviereck ein Weib. Sankt Ildewig stand da! Im grünglasierten Rock. Nie hatte Andreas ihr Haupt gesehn, lange vor seiner Zeit war die Kirche verbrannt . . . so sieht sie aus? Er geigte – ›Was spielst du denn?‹ fragte Ildewig verwundert. ›Dich‹, murmelte Andreas und setzte 95 jäh die Geige ab – »Agnes!« rief er. Niemand war da. Nur Andreas und die Stradivari. Andreas lächelte. Die Ildewig war Agnes gewesen. Er geigte wieder, geigte so wunderbar, daß Ildewig den grünglasierten Rock ein wenig hob, mit dem Fuß ruckte – da steht sie mit dem rechten Beine barfuß in seiner Kammer, und Andreas ist ein reicher Mann geworden, und Ildewig erfüllt die Kammer mit ihrem Glanz, wie nur eine Stradivari die Seele eines großen Geigers erfüllen kann mit Geheimnis. –

Die wirkliche Agnes stand nicht barfuß, sondern ordentlich angezogen vor ihrem Kleiderschrank, hob die Bügel mit den bunten Fähnchen von der Stange, schüttelte sie, strich mit der Hand hin über den Staat, seufzte, hing die Sachen unschlüssig wieder hin. Sie trat an ihr Nähtischchen, klapperte mit den Garnrollen, ordnete sie, die gelben, die blauen, roten, weißen für sich. Und als der alte Thedor Kegel erschien, einen Stoß zerlesener Bilderzeitungen aus dem Laden herauf zum Ordnen brachte, machte sie sich sogleich an diesen Zeitverderb.

Ihr Vater redete von dem viel zu frühen warmen Wetter. Die Geschäftigkeit seiner Tochter kam ihm zupaß. Nicht immer waltete Agnes so tüchtig in den kleinen Tagesarbeiten, seit ein paar Tagen war sie gar nicht bei der Sache. Aber jetzt fand Thedor die gute Gelegenheit.

»Dieser Andreas, hast du's schon gehört, Agnes? Was da passiert ist im Künstlerzimmer im Lamm? Sieh mal, du bist doch so ein tüchtiges Mädchen –«

Jetzt oder nie wurde Kegel den Geiger los aus seinem Haus – tüchtig nannte der Alte seine Tochter, tüchtig und gut. Für schön, für gut und schön wie die Ildewig und für musikalisch anschmiegsam dazu hielt sie Andreas. Kegel 96 war in seinem Fach ein Mann von Gewicht. Auch Andreas fühlte sich ganz deutlich, wußte genau, wer er war. Aber eben das begründete Bewußtsein der eigenen Bedeutung versperrt den Männern den Blick ins Fraueneigentliche. Der kundige Friseur ahnte nicht den Grund dieser töricht-fleißigen Unrast der Agnes, und der in seine Musik geschlossene Andreas hätte erst recht nichts geahnt. Eine Unruhe vor irgend etwas, das sich näherte und das sie nicht mit Alltagsworten benennen konnte, trieb Agnes um. Für Krankheit, für Freundschaft, für Liebe sogar, haben wir rasch die fruchtbare Verwendung gefunden. Daß aber Menschen begabt sein können mit Ahnungsvermögen für nahend Ungeschehenes wie andre mit Sinn für Zahlen, für Wetter, für Quellen, das will heute niemand gern wahrhaben; denn das Ahnungsvermögen ist wohl ein ungeheuer tiefer, aber nur Frauen eigner verborgener Sinn. Dichter sollen auch das noch Ungeschehene zu ahnen und zu gestalten vermögen, aber sie kommen zu selten vor im Leben, als daß sie für eine ständige Erscheinung genommen werden könnten, auch ist ihre Existenz im heutigen Tageslicht nur wenigen wahrnehmbar. Frauen dagegen sind den Männern stets als andersartig organisierte Lebewesen aufgefallen, und in alten Zeiten, als die Männer noch nicht abgestumpft waren durch die Technik, erschien ihnen ratsam, unberührte Mädchen auf goldne Dreifüße zu setzen und ihnen weise das Kommende abzuhorchen. Ungefähr seit Erfindung der Dampfmaschine ist das Ahnungsvermögen des Weibes unwirksamer geworden von Jahr zu Jahr im Leben der Menschen, und Leute, die etwa in den Sonnenstecken das Nahen der großen seelischen Katastrophen ablesen wollen, verlesen sich: im Menschen selber vergrößert sich langsam der blinde 97 Augenfleck, weil das Wesen des Weiblichen seit achtzehnhundertzweiunddreißig zu wenig Lebenden offenbar ist. Der in sein Tageswerk verklammerte Mann entsetzt sich, wenn ihm eine Frau ins Ohr sagen kann, was kommt, weil Gut und Böse ihre reine Wirklichkeit nicht zu betäuben vermögen. Ein böser Brief nur mag im Andringen sein auf ihren Lebenskreis: das sinnbegabte Weib fühlt ihn herankommen . . . blaue, gelbe, rote, weiße Seidenröllchen ordnete Agnes . . . es kommt etwas . . . den Stoß Zeitungen dahin, die bunten Blätter auf den Haufen . . . etwas zieht hoch . . .

»Agnes«, sagte der alte Thedor, »hast du's gehört, meine Tochter? Dein Geigenlehrer hat den Herrn Archivrat überfallen –«

»Dummes Zeug, Vater.«

»Doch, Agnes. Schratte hat's erzählt. Dieser gewalttätige Mensch hat die Geige genommen –«

Ganz dunkel zieht's hoch . . . Die Geschichte im Lamm? Törichtes Gerede . . . etwas viel Dunkleres . . . »Ach Vater«, sagte sie ungeduldig, »dann hätte doch Herr Mittenzwey den Schratte nicht zum Schwatzen in deinen Barbierladen geschickt. Auf die Polizei wär' er gerannt.«

»Agnes, 's gibt manchmal Sachen, die uns recht geben, die der Mensch aber besser für sich behält«, wandte der erfahrene Mann ein. »Und wo ist denn der Geigenlehrer? Stunde hast du gehabt, aber er war nicht da. Die Weißpfennigen hat gesagt –«

Thedor schwieg. Geigenmusik . . .

»Das ist er«, flüsterte Agnes.

Der Alte hielt den Kopf schief, horchte . . . »Wie geigt 'n der heute?« Er sah seine Tochter am Fenster stehn und 98 reglos lauschen. Thedor strich seinen weißen Barbierkittel glatt: »Wie kann denn der überhaupt geigen? Schratte hat doch gesagt, die Geige hätte der Wüterich zerschlagen bei dem Überfall –«

»Da siehst du, wie sie lügen, Vater!« Sie hatte sich vielleicht umsonst gesorgt? Dumme Gedanken . . . so schön hatte sie Andreas nie geigen hören!

Plötzlich brach die Musik ab.

»Schade«, sagte Agnes. –

»Schade«, sagte auch Andreas. Die Haustür des Hinterhauses hatte mit ihrem Schlagbolzen die große Klingel in Gang gebracht, die an einer Spirale hing und Sturm läutete, wenn jemand kam. Andreas hörte Schritte auf der Treppe, die Schritte näherten sich seiner Tür. Rasch legte er die Stradivari in den Kasten und schob ihn unters Bett. »Herein!« rief er, als es klopfte.

»Also ist es richtig. Er ist wieder da« – Lichtermark stand auf der Schwelle und sah Andreas an. Dabei nickte er langsam mit dem Kopfe.

»Aber bitte«, sagte Andreas mit einer verlegen einladenden Handbewegung. Sein Blick blieb an dem Geigenkasten hängen, den der Alte unterm Arm trug.

Lichtermark stand immer noch auf der Schwelle, schwieg eine ganze Weile, dann seufzte er tief auf und begann von neuem: »Sagen Sie mal, Andreas, schämen Sie sich eigentlich nicht?«

Bei dieser Frage erinnerte sich Andreas endlich wieder seines großen Freundes, des Todes, den er seit der Plakatsäule aus den Augen verloren hatte. Er richtete sich auf: »Wenn sich die Kranichstedter nicht schämen –«

»– brauchen Sie's auch nicht. Ach. Nu sehn Sie 99 mal« – Lichtermark trat endlich ins Zimmer – »haben Sie eben gegeigt?«

»Ich?«

»Na ja. Mir war's so auf der Straße. Aber in dem Lärm heute.« Plötzlich in anderem Ton sprach er weiter: »Denn wie sollten Sie denn geigen, wie?! Dazu gehört doch eine Geige, ja?!« Geräuschvoll stellte er seinen Geigenkasten auf den Tisch. »Und da habe ich mir gedacht: du bringst dem Kerl deine eigne Geige. Leihweise. Damit er wenigstens sein Brot verdienen kann« – jetzt erst nahm Lichtermark seinen Hut ab und klatschte ihn aufs Bett – »aber als Mordinstrument will ich sie Ihnen nicht hergebracht haben! Zum Prügeln ist sie mir zu gut!«

»Herzlichen Dank, Herr Professor«, stotterte Andreas. Angesichts dieser Guttat stand sein großer Freund riesengroß vor ihm auf, aber nicht als der gute Weggenosse. Grauglitschig hob er sich hoch, als ob er aufgestanden wäre aus Pleißenschlamm.

»Nur zum Geigen«, fuhr Lichtermark zornig fort, »nur zum Geigen ist die Geige da! Verstehn Sie mich, Sie heilloser Mensch, Sie?«

»Die paar Tage, die ich noch lebe, geschieht Ihrer Geige nichts« – begann Andreas, aber weiter kam er nicht, Lichtermark donnerte ihn an: »Das könnte Ihnen so passen! Glauben Sie, der liebe Gott hat Ihnen Ihre Kunst gegeben, damit Sie sie ihm verlottern?! Denken Sie ja nicht, daß sich der alte Lichtermark Ihretwegen durch den Trubel da unten auf den Weg gemacht hat zu Ihnen! Wegen der Musik bin ich gekommen, die Ihnen mitgegeben ist auf die Welt! Wollen Sie die vielleicht auch in 'n paar Tagen unter die Erde bringen?!«

100 Jedes Wort nahm Andreas zu sich: so hatte ihn sein Vater auch vorgekriegt, als er noch lebte . . . das tat so wohl. »Aber nein doch, Herr Professor –«

»Nein doch, nein doch – immer nein doch! Andreas, das sage ich: Ihnen wächst die Geigerhand aus dem Grabe, wenn Sie nicht gelebt haben, bis Ihnen der letzte Hauch zu Musik geworden ist« – er musterte Andreas von oben bis unten – »so einer trägt nun mit sich 'rum, was man nur in Büchern nachlesen kann« – jetzt brüllte ihn der Alte an: »Und tut, als wenn er zu seinem Vergnügen auf der Welt wäre!!« Lichtermark wühlte in dem Notenstoß, warf ein Stück hin, schlug's auf: »Das spielen Sie jetzt durch! Heute abend kommen Sie zu mir! Ich will hören, wie meine Geige klingt!«

»Sehr gern, aber –«

»Schon wieder aber?«

»Ich habe schon eine – eine Verabredung.«

»Den möchte ich kennen in Kranichstedt, der sich mit Ihnen noch verabredet. Damit er bei Gelegenheit eine Geige auf den Kopf geschlagen kriegt!«

»Ich –«

»Ach was! Nach Leipzig fahren, wie?! Punkt acht Uhr sind Sie bei mir. Zum Essen. Dann Musik. Und spielen Sie's gut durch vorher. Sehn Sie mal, wo's in d-moll geht« – Lichtermark vergaß, daß er zum Schimpfen gekommen war – »schwer, Andreas. Bin neugierig, ob wir's rauskriegen. Ich hab' es mal, ist lange her, im Gewandhaus gehört, Andreas, dieses Decrescendo.« Plötzlich fiel dem Alten ein, daß er nicht um Musik sondern um eines völlig törichten Menschen hierher gekommen war, den er in Grund und Boden donnern wollte. »Verflucht, dieses 101 Dasein«, den Ton rasch wieder wendend, grollte er Andreas an, als ob der den menschlichen Irrgarten erfunden hätte. Lichtermark murmelte noch eine Reihe Grobheiten, suchte überall seinen Hut –

»Bitte, Herr Professor« – Andreas hielt ihm höflich den Hut hin.

»Ach was«, knurrte Lichtermark, drückte sich den Hut auf den Kopf, ging und knallte die Türe hinter sich zu, um den falschen Ton in seiner Strafrede wiedergutzumachen. Am liebsten wäre ihm Andreas nachgelaufen und hätte ihn umarmt. Aber bald vergaß er über dem Notenlesen den Alten und sich selber: »Wie mag das auf der Stradivari klingen?«

Agnes hatte ihn spielen hören bis in die Dunkelheit. Dann war die Musik drüben plötzlich wieder abgerissen.

›Vielleicht ist er auf den Markt gegangen?‹ dachte sie und zog ihren Mantel über.

Gegangen eigentlich nicht: geholt worden ist Andreas auf den Topfmarkt. Der Lehrjunge aus Pröhles Fleischerladen rief laut in die Musik, daß ihn der ganz versunkene Geiger auch verstand: »Der Meister wart't doch schon! Er steht vorm Rathaus! Warum Sie denn noch nich dawärn!«

»Ach so«, seufzte Andreas erwachend, legte die Geige in den Kasten, klemmte ihn sorgsam unter den Arm und lief hinter dem Schlachterjungen her, um die bereits gegessenen Bratwürste rasch mit etwas Musik zu bezahlen.

Pröhle hatte seinen Stand gut gewählt, genau vor der leeren Nische in der Rathauswand. Gewaltig wölkte der Dampf hoch von seinem Rost.

»Nur eine halbe Stunde, Meister«, sagte Andreas.

»Abwarten!« lachte Pröhle dröhnend, half Andreas auf 102 die Holzkohlenkiste steigen, mit einem Schwung in die Nische hinaufspringen und reichte ihm dann die Geige hinauf.

Überrascht sah Andreas das bunte Nachtbild vor sich, unter sich. Der Ratsmarkt war einer jener kleinen viereckigen Plätze, wie sie in alten Kleinstädten noch zu finden sind. Der Mensch steht hier in solchem Verhältnis zum Raume, zu dem auf ihn bemessenen Hohlwürfel, zwischen den vier Seitenwänden und zwischen Pflaster und Dachfirsten, daß er sich sogleich zu Hause und sorglich umschlossen fühlt. Wer mit gewöhnlicher Stimme auf einem solchen Platz Guten Abend sagt, hat vernehmlich dem ganzen Platz einen Guten Abend gewünscht, und wenn er lacht, lacht der Markt. Eigentlich blickte Andreas aus seiner Nische in einen schwach erhellten Saal hinein, der mit lebendigem Abendhimmel überspannt war. Eben zogen die ersten Sterne auf.

Wie beisammen und gehäusig, dachte Andreas.

»Musik!« rief ihm ein junger Bursche zu, der sein Mädchen am Arm hatte.

Andreas lachte. Er stimmte die Saiten.

Und Andreas begann zu geigen. –

Seit vielen Jahren verteilen sich die Besucher des Topfmarktes nach Alter und Berufen auf die verschiedenen Brennpunkte des Festes. Jenseits des Flusses, auf dem Neuen Markt, stehen die Kauf- und Trinkbuden. Hier treibt sich die laute Jugend so lange herum, bis sie sich paarweise zueinandergefunden hat und stillere Bezirke aufsucht. Auf dem Ratsmarkt ergingen sich im Kreise die älteren Leute, bis sie den Liebespaaren den Platz ganz überließen. Sonst spielte hier die Stadtkapelle. In diesem Jahr 103 konzertierte sie aber im Lamm-Saal, weil wegen der nahenden Tausendjahrfeier kein Podium vor dem Rathaus errichtet werden konnte. Im Ratskeller tranken zu dieser Stunde noch die gesetzteren Einwohner ihre gemessenen Schoppen. Später änderte sich das Bild, weil dann mehr jüngere Leute erschienen, paarweise meist und die stillen Ecken bevorzugend. Von dieser Art Gästen bediente der Ratswirt jetzt bereits den Metallbildhauer Hauke, der mit einem Fräulein Minchen Espe ein gar nicht billiges Abendessen einnahm. Die älteren Herren sahen genau hin, was der Wirt anschaffte. Dann sahen sie sich an.

»Der Meister Hauke mag nicht schlecht verdient haben an der Spielmannsfigur. Jaja, so 'n öffentlicher Auftrag!« sprach der Konditor Dielebein.

»Für zwei Personen warmes Abendessen«, fügte der Böttchermeister Flademann hinzu.

»Immer 'n Mädchen unterm Arm«, murmelte Vollrath.

Herr Steinert war beim Amt. Steinert schüttelte den Kopf: »Nein, meine Herren, das ist eine reelle Sache. Die suchen schon eine Dreizimmerwohnung.«

»Ach so«, sprachen Dielebein, Flademann und Vollrath. Sie wandten sich wieder ihrem eigentlichen Gesprächsstoff zu, der Außenpolitik Boliviens – sie wußten ja nun: bald wird Hauke bei ihnen sitzen in geordneten Umständen und auch über die Außenpolitik Boliviens reden. –

In der Scherbelschänke am Windmühlenberg tagten und nächtigten die Töpfermeister und Töpfermeisterinnen des Landes. Umschlag saß schlechtgelaunt am Mitteltisch und sprach mit rauher Stimme: »Auf die Figur von dem Kerl, dem Hauke, bin ich nicht neugierig. Wer in seinem Leben 104 einen Aluminiumtopf in der Hand gehabt hat, weiß, was dem künstlerisch zugemutet werden kann. Auch wenn die Henkel vergoldet sind. Aber wenn das wahr ist, daß der Fiedelmann in die Mitte gerückt ist und die Ildewig auf die Seite, dann gibt es ein Unglück. Das ist meine Meinung, verdammig.«

Töpfermeister Kuttner nickte zu diesen Worten: »Du sagst's, Umschlag. Prost! So is es.«

»Na na«, begann sein Nachbar Pietzsch. Er kam aber nicht weit. Umschlag blies dem schmächtigen, etwas verkrümmten Mann Tabakrauch auf den Kopf und knurrte: »Auge Gottes, sei still! Du bist nicht vom Fach. Du verstehst 'n Dreck von Kunst.«

Wenn auch nicht in dieser groben Töpferform – im Kern hatte Umschlag nicht unrecht mit seinen Worten. Herr Pietzsch betrieb in Igelshieb auf dem Walde oben eines jener halb wissenschaftlichen, halb künstlerischen Feingewerbe, die nicht auf den Topfmarkt gehörten. Pietzsch fabrizierte Glasaugen. Leider hatte er das Unglück, selbst auf einem Auge blind zu sein. Freilich merkten das die Leute kaum, nur dem schärfer Zusehenden fiel auf, daß ihn Pietzsch ein wenig schief anblickte. Da er nun, vielleicht aus Geschäftsrücksichten, hartnäckig schwieg, wenn ihn jemand fragte, ob er ein Glasauge trüge, nannten ihn die unbefriedigten Ausfrager das Auge Gottes. Das sprach sich herum. Schließlich hieß sein kleiner, aber wohlgeleiteter Betrieb bis zu den Augenkliniken Berlins hin, die seine Fabrikate bezogen und schätzten, das Auge Gottes. Den Topfmarkt in Kranichstedt besuchte Pietzsch nur als Einkäufer, weil in diesen Tagen die Vertreter der Fabriken anwesend waren, die feuerfeste Farben anzubieten hatten. 105 Pietzsch mußte sich dabei manche schnöde Bemerkung von den Hausbedarf wie Kunsttöpfern gefallen lassen: »Pietzsch braucht nur Blau un Braun un Schwarz – du mußt 'nmal modefarbene Augen malen!«

»Red nicht so gottlos, Umschlag«, sagte Pietzsch, »sei froh, daß du meine Fabrikate nicht brauchst.«

»Un wer braucht unsre Fabrikate noch?!« donnerte Umschlag los. Die Insassen der Scherbelschänke drehten sich bei diesem Wort auf ihren Stühlen nach dem Obermeister um und gaben seinem Ausruf mit starken Worten Nachdruck.

So dürr Pietzsch hinterm Tische hockte, so zähe war sein Sinn: »Du hast doch 'n Auftrag von der Stadt bekommen zur Tausendjahrfeier, Umschlag. Wenn mich die Ratsherrn von Kranichstedt nur beauftragt hätten, ihnen naturgetreue Glasaugen zu fabrizieren, mit denen sie nischt sehen können, dann ginge mir's gut, Umschlag.«

»Erstens siehst du bloß aus, als ob dir's dreck'g ging. Dir geht's besser, als uns all'n zusammen. Un zweitens: den Hauptauftrag hat nich das bodenständige Töpfereigewerbe. Den hat's Aluminium! Hauke macht die Figur am Rathaus. Un ich? Ich mache 'n Wandbelag für 'n Rathaussaal. Außen is Aluminium. Un die Töpferkunst? Wo is die? Drinne is die. Hinter verschloßnen Türen. Wer sieht sie? Der Gemeindediener sieht sie! Beim Staubwischen. Aller acht Tage, verdammig.«

Der Groll der uralt heimischen Töpferkunst saß tief. Aber die Meister vom königlichen Handwerk – wie das Formen gebrannten Tons mit Recht genannt wird – kamen eben nicht weg über die Tatsache, daß die heilige Ildewig ohne Kopf dastand, weil jeder dumme Bengel, dem es einfiel mit Steinen zu werfen, das schönste glasierte 106 Denkmal in Scherben schlagen konnte. Umschlags großer Trumpf hatte die Bedenken der Ratsherrn nur verstärkt – Umschlag hatte nämlich in gerechtem Zorn gerufen: »Scherben! Wer versteht hier was von Scherben – ich!! Denn was sind Scherben, meine Herren vom Rat? Scherben sind das einzige, was übrig bleibt in der Welt und Dauer hat! Alles geht hin – Gold wird umgeschmolzen und Silber und Kupfer und alles andre: Häuser und Städte und Festungen und Paläste und Papier, beschriebnes und bedrucktes – alles geht aus 'm Leim und ist hin eines Tages. Nur das bleibt übrig auf der Erde: gebrannter Ton. Tonscherben. Weil die keiner mehr verwenden kann. Wenn die Tonscherben nicht wärn, wüßten die Gelehrten überhaupt nicht, was für Leute ganz früher gelebt haben. Meine Herrn vom Rat, ich kann nur sagen: wenn ihr wollt, daß von euch was auf die Nachwelt kommt, setzt Tondenkmäler, lernt 's Schreiben auf Tonplatten wieder und brennt die Platten. Dann laßt ihr Scherben sprechen für euch dermaleinst –«

»Dermaleinst?!« rief Mittenzwey, »dermaleinst ist eine nichtssagende Zeitangabe! Und wenn dermaleinst nur Scherben von unserem Tun und Denken zeugen sollten, dann wäre es besser, nicht verewigt zu sein, Meister Umschlag! Denn dann sind nichts als Mißverständnisse von uns übrig. Man denke, die Scherben, auf denen etwa das Wort Mittenzwey steht, werden falsch zusammengesetzt, man verwechselt mich dermaleinst vielleicht mit einem anderen Mittenzwey, der nichts von Musik verstand – was sollte man dann denken von dem unter meinem Vorsitz stehenden Kranichstedter Quartettverein, sofern auch von diesem etwa Scherben auf die Nachwelt gekommen sein sollten? Oder 107 welchen Gefahren wären erst Sie, verehrter Herr Bürgermeister Müller ausgesetzt, wenn Sie bedenken, daß jener Mordbrenner, der seinerzeit in Kranichstedt gewütet hat, auch Müller hieß?! Man komme uns nicht mit einer unbestimmten Zeitangabe namens Ewigkeit! Wir sind keine Töpfer, meine Herren. Unser Tun und Wirken zielt nicht auf Scherben. Nicht in Scherbenzeitaltern denken wir, sondern betreiben unsere Arbeit für eine Dauer, unter der wir uns etwas vorstellen können.«

In jener Stunde, da Mittenzwey diese Worte sprach, versank Meister Umschlags letzte Hoffnung. Grimmig hatte sich Umschlag an die Ausführung des Trostauftrages gemacht, den ihm die Ratsherren zu geben gütig genug gewesen waren: er hatte den Wandbelag für den Ratssaal geformt und gebrannt. Unendlicher Ärger war ihm mit dieser Arbeit in seine Töpferei gekommen! Sein ihm anhandgegebener Mitarbeiter war nämlich nicht ein Fachmann, sondern ein gewisser Herr Zeißing, ein Schriftsteller, ein Heimatdichter aus der Umgebung Kranichstedts, der die Sprüche für die Wandplatten erfinden und reimen sollte. Diesem Zeißing ging jede Fähigkeit ab, zu begreifen, daß eine Wandplatte ein gewisses Maß hat, dann kommt eben der Rand. Dann ist sie alle. Die Größe der Wandplatte richtet sich nach Umschlags Ofenloch, aber nicht nach Zeißings Gedanken. Gedanken kann man bekanntlich ändern, ausweiten oder auch verengen – ein Ofenloch nicht! Ein Brennofen steht da, wie er ist, und auf seinem Dasein sind die Kosten kalkuliert. Daß Zeißings verfluchte Reime in Meister Umschlags Tonvierecke hineinpassen mußten, ging diesem Schriftsteller nicht ein. Umschlag konnte dann eben nichts dafür, wenn an unpassenden Stellen die Tafel zu 108 Ende war. Dort kam nun eine Fuge hin, und mochte zehnmal die vorletzte Zeile des Gedichtes heißen: ›So wächst aus unsrer lieben Stadt‹ – Fuge, erste Zeile der neuen Platte: ›Was sie nichtsahnend in sich hat.‹

»Die Fuge muß weg!« schrie der Heimatdichter.

»Die Zeile ist zuviel!« schrie der Töpfermeister – es waren bittere Arbeitswochen gewesen. Aber jetzt stand die wohlbeladene Fuhre – jede Wandplatte zwischen Stroh verpackt – draußen auf dem Hof der Scherbelschänke. Morgen schon sollte die Verkleidung der Wände im Ratssaal beginnen.

Kenner des Ortes Kranichstedt fühlten wohl, wie diese Kämpfe und Nöte um den diesjährigen Topfmarkt spukten. Die Festfreude äußerte sich denn auch verschieden in den einzelnen Topfmarktbezirken. Ganz geheuer aber war es nirgends in Kranichstedt dieses Jahr. In der Scherbelschänke ging es bedrohlich laut her. Auf dem auch nicht sehr stillen Neuen Markt mieden sich die jüngeren Töpfer und die jüngeren Metallarbeiter vorläufig noch. Im Ratskeller tranken die älteren Herren still für sich und führten, soweit sie zum Rat gehörten oder ihm nahestanden, nicht ganz sorgenfreie Gespräche.

Auf dem Ratsmarkt aber begab sich ein in Kranichstedt nie erlebtes Schauspiel.

Eine halbe Stunde hatte Andreas geigen wollen. In das Halbrund der Nische gelehnt, hatte er ein Lied angefangen. Nur so gradhin begann er – aber nach den ersten Geigenstrichen ruckte er sich zusammen: das klang ja! »Dem unbekannten Baumeister, der vor tausend Jahren diesen Ratsmarkt geformt hat«, murmelte Andreas erschrocken, »dem sollten die Kranichstedter in diese Nische ein Denkmal 109 setzen!« Klar lagen die Töne im Raum, folgten einander unverwirrt und schnitten doch nicht ab im Leeren. Sie blieben im Raum. Andreas fühlte körperlich, wie die Töne in das Steinviereck des still werdenden Platzes hinausschwebten, wie sie in den samtenen, mit Menschen bestellten Grund dieses steinernen Gefäßes einsanken und lebendig verwandelt aus den Herzen wieder aufstiegen in die schwarzblaue Sternendecke über dem Saal. Andreas spielte ein Abendlied – es wurde ganz still auf dem Platz. Andreas lehnte nicht mehr im Nischenrund. Aufrecht stand er vorn am Rand, gestrafft . . . wie still die Leute dastehn – das ist Kirche. »Ich will euch jetzt in Gang bringen, Freunde!« Er glitt in ein langsames Tanzlied. Die Menschen faßten sich an, begannen sich zu drehn. Ganz langsam spielte Andreas, langsam drehte sich's auf dem Boden der Steinschale. Frischer griff sein Bogen die Saiten an, rascher tanzten sie. Jetzt kreiste schwebend der Menschengrund nach einer alten Tanzmelodie um den steinernen Marktbrunnen herum wie Wasser um seine Quelle. Andreas stand umwölkt vom Dampf, den Meister Pröhle hochtrieb zu seinen Füßen. Der Rost glühte, aber der Meister vergaß zu braten. Er fächelte nur, fächelte im Rhythmus der Musik die Kohlenglut. Zuweilen war Andreas gar nicht zu erkennen im weißen Rauch. Zwischen den Tänzern still stand Agnes auf dem Markt, sah den drehenden, wälzenden Rauch, aus dem Musik klang: geigte Andreas in der Wolke? Ein Windhauch, Andreas erschien in der Rathauswand, verschwand. Jetzt sah sie seinen Kopf in den Nebeln. Um Agnes herum drehten sich die Menschen im Tanz. Der Mond stieg silbern über das Rathausdach. Andreas geigte . . . zarte, niemals gehörte Tänze, nie geübte . . .

110 Ein Ratskellerfenster tat sich auf. Vollrath steckte den Kopf heraus, verrenkte sich fast den Hals – wo geigte das? Das buntglasige Kellerfenster daneben wurde aufgestoßen, noch eins. Offnen Mundes starrten die Gäste nach oben. Nur ein Stück Sternendecke sahen sie, und vor sich den dicken Meister Pröhle, der nicht briet, der mit seinem Flederwisch den Takt fächelte, fächelte . . . Jetzt ging drüben im Giebelhaus, auf dem klarsilbern das Mondlicht lag, ein Fenster auf, ein andres, immer mehr . . . die Leute starrten in den Rauch, in dem es geigte. Ein langsamer, ganz langsamer Tanz hallte klar aus dem klingenden Dampf, so langsam und gesättigt ruhvollen Tones, daß die Paare sich küssen konnten unterm Drehn – die Sternbilder drehten mit, langsam mit –

»Du!« rief Agnes, hilflos verzaubert.

»Dich!« rief Andreas, legte langsam beim Geigen den Kopf in den Nacken, glücklich lachend, und seine Melodie glitt in ihre Tonart. Das Lied namens »Dich« war freilich kein Tanz mehr. Das Drehn auf dem Marktgrund verebbte. Der Menschengrund lag wieder unbewegt in der steinernen Schale . . . der fächelnde Meister sah auf nach der Nische, unversehens stieß sein Flederwisch den Wassertopf um, weiß zischte gewaltig der Dampf hoch – als er sich verzog, war die Nische leer.

Tief aufseufzend senkte Agnes den Kopf. Neben ihr stand Lichtermark. Er war unterwegs nach der Seifengasse gewesen, um sich diesen Mann selber zu holen. Das Treiben auf dem kleinen Platz, das seltsame Klingen lockte ihn ab vom graden Wege. Und nun mußte er die Verzauberung des Ratsmarktes erleben! Nun sah er diesen Andreas da oben in einer Dampfwolke in der Rathauswand stehen! 111 Nachdenklich saugte er an seiner Zigarre. »Mmm mm« – er suchte die Melodie des Liedes, die er eben gehört hatte. Agnes blickte auf, wer das Lied summte, das ihr gehörte. Lichtermark holte tief Atem, nickte ihr zu: »Das ist eine Geige . . .« sagte er kopfnickend.

»Wem die gehören mag?«

Lichtermark strich langsam über sein Kinn: »Mir, Fräulein Agnes«, sagte er stolz, »jaja, man muß sie nur zu spielen verstehen.« Er sah sich um im Kreise. Noch warteten die Leute, ob der Geiger wiederkäme.

»Ist das zu denken«, murmelte der Alte, »im Quartett verliert er den Verstand, daß er da nie wieder auftreten kann. Und da tritt der Mensch auf dem Ratsmarkt auf und spielt die ganze Stadt um ihr bißchen Verstand.« –

In langen Schritten lief Andreas am Fluß hin. Er hatte Lichtermark auf dem Platz stehen sehen. Sein schlechtes Gewissen trieb ihn über die Riethbrücke. Gerade über dem Wald vor ihm stand der Mond. Auf den Mond lief Andreas zu. Er mußte von der Straße abbiegen, kam in einen schlechten Feldweg. Und wenn der Weg noch schlimmer würde: der Mond hing so friedevoll im Himmel. Der Mond stellte Andreas nicht zur Rede. Der Mond wollte nichts von ihm. Aber der Mond ist ein gefährliches Wanderziel. Dieser weiße Stern zwang den Geiger, in einen moosigen Waldweg einzulenken. Der Pfad stieg an. Zweige klappten an seinen Geigenkasten. Die Zweige öffneten sich, ein Erlenbusch noch, und ein Grasweg öffnete sich vor Andreas, feierlich breit. Links und rechts standen schwarzgrüne Tannen unbewegt hohe Parade. In der Wegmitte ging Andreas gradaus auf den Mond zu, bis er an den Waldrand kam. Ein breitbrüstig gewölbtes Feld, tief 112 aufgepflügt, dehnte sich bis an den Nebelrand ganz fern hinter den Hügelketten, über denen der Mond schwebte. Andreas blieb stehen. Unbewegte Ruhe in Weite und Breite und Höhe – Höhe unendlich wie die Tiefe unter Andreas' Füßen. Durch die Erdkrume hindurch fühlte er die Ruhe der Tiefe, durch den Fels, der unter der Erdkrume starrte, durch die Mitte des Erdsterns hindurch, wieder durch Steinrinde und Krume in die jenseitige Tiefe des Raumes fühlte er sich – aber noch stand Andreas diesseits! Noch konnte er geigen. Sachte stellte er den Geigenkasten ins Gras: »In diesem Saal sind wir noch nicht aufgetreten. Durchlauchtige«, sagte Andreas zu Sternen, »Erlaucht«, zum Mond, »hochwürdige Vereinsmitglieder« zu den Bäumen, Büschen, zu Dorn und Gras und zu dem lautlos gleitenden Wasserfaden im Feldgraben, in dem ein Mondblitz aufleuchtete hier und da – erschrecktes Waldgevögel regte sich in einem Kiefernwipfel – »Still das Gefieder!« – Andreas hob den Bogen . . .

 

In der Tiefe des Waldes lag unter Tanngebüsch ein Reh im Wachschlaf, witterte, bewegte die Ohren, stand auf. Mit schiefgehaltenem Kopf lauschte es – den Vogel hat es noch nie vernommen im Walde . . .

 

Am Waldrand unten, nahe dem Bach, schwarzüberdacht von undurchdringlichem Zweiggeflecht, wuchs erstes zartes Waldgras auf engem Geviert.

Eine Stimme flüsterte: »Hörst du's?«

Die andre Stimme: »Das rauscht in den Bäumen.«

»Nein . . . Jetzt wieder!«

»Da singt jemand.«

113 »So klingt doch Singen nicht.«

»Nichts mehr – 's war vielleicht nur so.«

»Horch . . . wieder . . .«

Zu dicht selbst dem Mondstrahl überdachte wucherndes Geflecht knospender Zweige das duftende Gehäuse. Zu dicht fast dem Hauch Musik, der jetzt durch den Wald schwebte . . . höher schwebte . . .

»Wer mag zur Nacht Geige spielen im Walde?«

»Laß die Musik. In drei Tagen machen wir Hochzeit. Du – wie nennen wir unseren Jungen?«

»Das erste Kind wird immer ein Mädchen, sagt meine Mutter.«

»Ein Mädchen . . . Ildewig nennen wir's.«

»Das ist doch kein Name.«

»Irgendwer hat ihn gesagt dieser Tage. Klingt er nicht?«

»Ildewig . . .«

 


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