Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Lichtermark konnte, nachdem er mittags bei Frau Becker gefrühstückt und nachmittags im Kaffeebaum Mittag gegessen hatte, mit so viel Zeitungsberichten über des Andreas Gewandhauskonzert zurückreisen, daß ihn die vollgepfropften Rocktaschen am Eintritt in das Abteil dritter Klasse hinderten. Diese ausgezeichnete Presse kam auch dem Professor selbst zustatten. Er hatte nun kein Geheimnis mehr zu hüten vor seiner Gattin oder konnte doch seine Erlebnisse wenigstens derart schildern, daß Emma in der Angelegenheit nichts Geheimnisvolles mehr bemerkte: »Haha, wir haben eine Geige aus der Taufe gehoben! Und wenn ich etwas mehr Geld zu mir gesteckt hätte, wäre ich erst morgen zurückgekommen.«

»Es ist besser so, Fritz«, sagte Emma versöhnt, weil sie ihrer Meinung nach nun alles wußte, »willst du jetzt essen? Ich habe etwas aufgehoben von Mittag.«

»Später, Emma. Erst die Geschäfte.«

Er eilte aus dem Hause, und wer ihm von den Stammsitzmietern des Quartettvereins unterwegs begegnete, den hielt Lichtermark ohne Rücksicht auf die Geschäfte des anderen am Rockärmel fest und zwang ihn, auf der Stelle zu lesen, was die große Stadt Leipzig über den vormals Zweiten Geiger Andreas dachte.

»Ich habe aber Eile«, sagte der oder jener Stammsitzmieter nach dem Lesen der dritten Besprechung.

212 »Die vierte müssen Sie noch, die ist die beste – wenn Sie übrigens wüßten, wie eilig mir's ist!«

Der Alte legte schützend die Hand über die Augen, spähte straßauf, straßab. Er mußte nämlich die Agnes auf der Straße zu treffen versuchen, so ganz beihin und zufällig, denn im Barbierhaus, gar in Gegenwart Thedor Kegels etwa, ließ sich nicht sagen, was Lichtermark zu sagen hatte. Endlich sah er Agnes gehen. Zuerst lief er eilig hinter ihr her. Dann schritt er langsamer. Lichtermark wollte ihre Jugend erst noch eine Weile vor sich haben, wie der Wanderer seinen Schritt hemmt im Anblick eines blühenden Baumes oder einer glänzenden Seebreite. Lichtermark sah sie gehen . . . geheimnisvolle Lebewesen, dachte er: eine Frau nachts, die herabgestiegen scheint vom Parthenonfries, herausgetreten aus dem Frühlingsbild Botticellis, aus Rubens' Bacchanal, oder aufgestanden von dem gemalten marmornen Brunnenrand als Aphrodite, am Abend, nach Überredung eines Mädchens zur Liebe – ein Weib, die Schönheit selber! . . . und am andern Morgen klappert sie verkleidet in lächerliche Fetzen, die ihr jemand zusammengeflickt hat, buntbedruckten Kattun, für acht Mark oder für achtzig, klappert sie auf Lederabsätzen als eine in der Seifen- oder Kraut- oder Nickelsgasse wohnhafte Frauensperson die Straße entlang, einen Korb am Arm und sagt – nicht Verse! sondern mit prüfendem Blick auf Meister Pröhles Auslage anscheinend ganz bei der Sache: Kalb wäre mir lieber als Hammel, Meister . . .

Nicht irremachen lassen, mahnte sich Lichtermark, es ist alles ganz anders! Nicht der Tag lebt, sondern das Leben steckt immer drin in ihm und seinem bedruckten Kattun. Ach, 213 Stradivarius, dreimal gesegnet, wer das Leben findet in den Verkleidungen!

Jetzt trat Lichtermark heran an Agnes und sagte nahe hinter ihr: »Ich bin der erste Gratulant!«

Erschrocken wandte sie sich um: »Oh, Herr Professor.«

»Aber ich verlange Finderlohn!«

»Was haben Sie denn gefunden?« – sie fühlte die noch nicht gesagte Botschaft, lächelte ihn an.

»Einen Mann, der eine Stradivari wert ist – Kind, und dich dazu.«

 


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