Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Na, jetzt liegt die Stradivari wieder in ihrem Glaskasten und Beckerchen auf seinem Direktionssofa und hält einen soliden Mittagsschlaf. Zwei Nächte muß er nachholen, der Gute – so dachte Lichtermark und guckte in die Schaufenster. Hier und da blinkte schon das elektrische Licht auf. Die Leute kamen aus den Betrieben, das Gedränge auf den Straßen nahm zu. Der Alte suchte sich bei Felsche hinter der Drehtür im Erdgeschoß eine ruhige Ecke. Oder ob ich lieber ein Urquell trinke? dachte er, als die Kaffeetasse vor ihm stand. Noch ging der Abendzug nicht, aber das Bild seines friedlichen Heims stieg drohend vor ihm auf. In Unfrieden hatte er seinen Herd verlassen – wie wird ihn die Gattin empfangen? Lichtermark wußte gut: alles verzieh Emma, aber Schweigen nahm sie nicht ruhig hin. Er hörte sie schon im Geiste: ›Du sagst mir nichts, gar nichts. Alles muß ich von anderen Leuten erfahren. Vor sechsundvierzig Jahren hast du mir Treue angelobt, Fritz. Jetzt hast du Geheimnisse vor mir. Nennst du das Treue . . .?‹ Verflucht! Lichtermark blätterte etwas nervös in einer Zeitung . . . Achtzehntes Gewandhauskonzert, heute Donnerstag . . . er las nicht weiter . . . – »Ich nehme lieber den letzten Zug und gehe vorher ins Gewandhaus. Wie lange habe 190 ich kein anständiges Konzert mehr gehört. Man wird älter, und ein Konzert wird das letzte sein. Unannehmlichkeiten gibt's so und so.«

Der Professor hatte das Glück der ganz spät Kommenden: die Abendkasse konnte ihm eine zurückgegebene Karte verkaufen. Er saß zwischen einer alten Dame, die sich ruhig verhielt, und einem gutgekleideten Herrn, der offenbar, seinem Aussehen nach, von Musik nichts verstand. Lichtermark hörte Schubertlieder. Der große Kapellmeister begleitete die Sängerin persönlich auf dem Flügel: Wie kann der Mann begleiten und, lieber Gott, wie sang dieses herrliche Mädchen! Lichtermark hörte Mozart. Lichtermark hörte – –

»Was steht hier?!« – seine alte Nachbarin war bis ins Mark erschrocken bei dieser drohenden Frage, rückte ab von dem wilden Mann, der eben noch so gemütvoll ausgesehen hatte. Dieser Gewandhausbesucher bohrte den Zeigefinger in das löschpapierene Programm beim Draufzeigen.

»Konzert für Violine und Orchester D-dur, von Ludwig van –« begann die alte Dame.

»Nein, hier, verdammt!« Lichtermark zeigte auf den Namen des Solisten. Die Dame rückte noch weiter von ihm ab.

Der Nachbar zur Rechten, der nichts von Musik zu verstehen schien, sah den aufgeregten Mann aus der Provinz lächelnd an: »Das hat doch schon immer draufgestanden.«

»Aber ich habe es nicht gelesen!«

Der Herr aus der Großstadt zuckte die Achseln. Tiefe Stille trat ein im Saal. Der Kapellmeister nahm den Taktstock vom Pult. Offenen Mundes starrte Lichtermark auf den Solisten, der da gleich links vom Dirigenten stand, 191 die Geige in der Hand: nicht nur auf dem Programm – da stand Andreas wahr und leibhaftig! Jetzt neigte der Kapellmeister ein wenig den Kopf zu ihm hin, dämpfte das Orchester. Lichtermark biß die Zähne zusammen vor Erregung, denn dieser Andreas hob die Geige, hob die Stradivari.

Und Andreas hob die Musik – perpetua lux! – aus Zeit und Raum heraus in den Geist, dem der Schöpfer dieser Musik zu seiner Zeit entglitten war für kurze Tage der Erdenqual, um den Trost in unsre Jammerwelt zu stellen.

Andreas geigte, Lichtermark senkte langsam seinen Kopf.

Nach dem letzten Ton hielt der Saal den Atem an, sekundenlang, dann brach der Beifall los – jenes Händeklatschen, vor dessen Tosen das musikalische Herz schon im voraus zittert und das schließlich immer wieder empfunden wird als eine Rettung vor der Dankbarkeit, die sonst dröhnend das Herzgewände innen zerklopfen würde.

Der alte Lichtermark würde nicht der Musikant gewesen sein, der er war, wenn ihn diese Musik, diese Stradivari, dieses Orchester – und das alles unter den Händen eines solchen Dirigenten lebend und webend – nicht wehrlos hingerissen hätte. Er sprang auf, klatschte: »Andreas!« rief er – da fiel ihm unterm lautesten Klatschen der arme Becker ein: holte denn keiner das heillose Subjekt da herunter vom Podium? – aber die Solopartie! –»Bravo, Bravo, Andreas!« Links und rechts vom Podium standen Lorbeerbäume. Irgend jemand knickte einen Zweig, warf ihn hinauf. Lächelnd fing ihn Andreas auf. Der Geheimrat gab dem Solisten in seiner gemessenen Art vom Dirigentenpult herunter die Hand – Stille trat ein. 192 Andreas gab ein Stück zu. Lichtermark war stehngeblieben, lauschte mit vorgehaltenem Kopf . . . er schloß die Augen. Er suchte den Mond im Dunkeln, der doch jetzt aufziehn mußte über dem Ratsmarkt: Lichtermark kannte das Lied. ›Dich‹ hieß es und gehörte der Ildewig, die heute in grauer Morgenfrühe bei ihm gewesen war, mit erglühendem Angesicht vor ihm gestanden hatte und gesagt: Steh auf, Alter, schnüre dein Bündel und hilf . . .

 


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