Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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An der Kirchentür griff der Hochzeitsvater in die Westentasche und drückte dem fremden Musikus ein blankes Fünfmarkstück in die Hand.

»Danke«, sagte Andreas. Sorglich steckte er das Geldstück ein. Er hatte sein Herz erhoben, seine eigne Hochzeit geträumt und Traummusik gemacht dazu – und nun tasteten sein Daumen und Zeigefinger an einem silbernen Scheibchen, das kein Traumgeld war.

»Führt sich das wieder ein, so herumziehn und an Hochzeiten und Taufen Musik machen?« fragte der Müller.

Andreas nickte: »Manche hören's gern.«

»Ist lange her, daß so was Sitte war«, sagte ein alter Bauer bedachtsam, »'s war gut, aber 's hat auch manchen Vagabunden auf die Dörfer gebracht.«

Andreas lachte: »Das Radio läßt freilich nur die Musik durch und verschluckt die Menschen, die sie machen.«

Die Geigenmusik mußte den Hopfgärtnern gefallen haben: »In Vieselbach ist heute nachmittag noch eine Gelegenheit«, sagten sie zu dem Geiger, »der alte Schulze wird begraben.«

»Erst kommt der Musikus zu uns ins Hochzeitshaus, ißt mit und spielt uns was!« rief ein anderer.

126 »Warum auch nicht«, sprach der Müller.

»Ja« – Andreas nickte – »warum nicht?«

Die Stunde vorm Festessen macht den Frauen viel Arbeit. Die Männer stecken sich eine Zigarre in den Mund, stehn in ihren ungewohnten Sonntagsröcken wortkarg beieinander, blasen eine Weile den Rauch von sich und warten, bis der Gastgeber die Türe zum Pferdestall aufmacht. Gelassen gehn die Bauern hinter ihm her, aber sehen scharf zu, wie's um die Pferde steht. Andreas sah die eisenbeschlagenen stampfenden Hufe und hielt sich mit seinem Geigenkasten vorsichtig im Hintergrund der Hochzeitsgesellschaft.

»Na komm!« rief ein Bauer, gab dem Braunen einen Patsch, drängte ihn an die andere Rampe, betrachtete und strich das linke Vorderbein des unruhigen Tieres: »'s is ja wieder gut.«

Der Müller nickte befriedigt und erzählte die aufregende Geschichte noch einmal: »Der Hengst soll decken, will nich, schlägt aus –«

»Dunnerwetter, un da hat er deinen Braunen hier getroffen?«

»Nee nee. So schlimm is es nicht gekommen. 'n Hermann bloß«, sagt der Müller beruhigend, »der Braune hat nur 'n Stipps abgekriegt. Aber den Hermann hat's anders. Der liegt noch.«

Erschrocken sah Andreas seinen Nachbar an, des Müllers Vetter, der Schreiber beim Amt war: »Hermann, ist das etwa –«

»Der Pferdehändler.«

Jetzt starrte Andreas den Vetter ratlos an. Der lachte: 127 »Das ist so auf dem Lande. So ein Pferd ist nämlich fünfzehnhundert bare Mark wert.«

Der Müller drehte langsam den Kopf und sagte über den Rücken seines Braunen weg zu dem Vetter aus der Stadt: »Das is überall so. Was versteht 'n Schreiber davon« – er zeigte auf Andreas' Geigenkasten – »da weiß sogar der Musikus besser, worauf 's ankommt. Der hat seinen Geigenkasten nich abgestellt drin bei den Stöcken und Schirmen« – er nickte Andreas zu – »ich habe 's gleich gesehn. Er hat 'n bei sich unterm Arm behalten. Is recht. Was einem 's tägliche Brot gibt und Besitz is – da hängt mehr dran als 'n Sack mit fuffzehnhundert Mark –«

»Ich meinte ja bloß, der Hengst –«

»Du meinst. Is gut, Vetter Karl. Aber ich meine: was einem zu eigen gehört, das is nich irgendwas – das is 'n Stück von einem selber. Un wenn mir das genommen wird, dann is mir nich weggenommen, was ich mit Geld wiederkaufen kann: dann is aus mir selber 'n Stück rausgebissen. Un als der Braune hier krank war und ich nich wußte, ob ich 'n gesund wiederkriegte, da habe ich nich an 's Geld von der Versicherung gedacht. Da war mir's, als ob der Hengst mein eignes Schienebein zerschmissen hätte.«

Andreas starrte den Geigenkasten an, der ihm zu eigen gehörte und in dem eine Stradivari lag, die ihm nicht gehörte – die ein Stück vom Leben des Direktors Becker war . . . stand Becker jetzt in seinem Museum, in den weiten Räumen voller Instrumente, und war's dem zumute, als ob das Herz der Sammlung nun aus ihm selber herausgebissen wäre? . . .

Die Bauern waren in den Kuhstall gegangen. Andreas 128 blieb auf dem Hofe stehen. Die Sonne schien warm. Aber der Geigenkasten brannte plötzlich in Andreas' Händen, als ob ein Schmelzfeuer darin glühte – gleich fraß die Flamme durchs Kastenholz, und Andreas verbrannte zu Asche auf dem Scheiterhaufen, den er nun schon den zweiten Tag mit sich herumtrug. Er hielt den schwarzen Kasten von sich ab, ging verstört über den Hof, ohne zu wissen, daß er ging. »Besitz?« murmelte er. Andreas stand vor einer Brettertüre, durch deren Fugen das sonnbeschienene Gras des Obstgartens leuchtete. Er stieß die Türe auf. Eine angepflockte Ziege sah ihn neugierig an. Andreas bemerkte das Tier gar nicht. »Ein Stück anderes Leben?« murmelte er und schritt durch den Garten. Andreas hatte den ganzen langen Garten durchwandert in Gedanken, war durch die Lattentür in der Hecke auf den Fahrweg getreten, der hinter dem Dorf entlang zur Landstraße führte. »Dem Museum gehört die Stradivari. Nicht nur eine Geige – ein Besitz ist sie. Gilt jemandem mehr als Geldwert – hat der Bauer gesagt.«

Drei Tage und drei Nächte lang sollte diese Katalognummer lebendig sein, dann mochte sie weiterschlafen in ihrem Kristall wie die Fliege im Bernstein – so hatte Andreas gedacht. Nur die Geige hatte der Geiger gesehen nach seinem Unglück in Kranichstedt. Lebendig machen wollte er sie: sie und sich selbst vorm Ende im Kristallschlaf – und jetzt sah er, daß die Geige lebendig war: ein Stück Leben eines Anderen!

Er lief mit dem fremden Stück Leben in seinen Händen den Fahrweg entlang, bis er auf der großen Landstraße nach Kranichstedt stand. Tief schöpfte er Atem. »Die Stradivari muß ins Museum! Jetzt gleich schreibe ich an Becker. 129 Nein! Der Brief kommt zu spät. Viel zu spät! Ich schicke eine Depesche an Becker! Heute nacht noch weiß er, daß die Geige morgen kommt.«

Andreas hatte ja fünf Mark verdient. Er konnte ein Telegramm bezahlen.

So brach der Abend des zweiten Stradivaritages an: Andreas sprach im Geiste nicht mehr mit dem Schöpfer dieser Geige, seinem verewigten Bruder Antonius Stradivarius, sondern mit dem Besitzer dieser Geige. Bauern haben eine Art vom Besitzen zu reden und mit Besitz umzugehen, daß selbst Geiger, die ihre Geige auf dem Kopfe eines Vorgesetzten zerschlagen haben, plötzlich die Welt erblicken, wie die Welt ist. Wenn ein Gendarm jetzt auf der Landstraße diesen stellenlosen Mann aufgriffe, hätte er nicht mehr den Meister ergriffen, der gestern nacht dem Monde, einem Reh, einem Liebespaar und Gott dem Herrn im Walde ein Konzert gab, sondern einen dringend verdächtigen gewissen Andreas, wohnhaft in der Seifengasse zu Kranichstedt. Mond und Seifengasse – hier ist eben wieder ein Unterschied. Nur kann die bessere Hälfte dieses Zweierlei hienieden leider nicht gelten. Sofern nämlich der Archivrat Mittenzwey dermaleinst den Erzbischof Colloredo, der den Wolfgang Amadeus Mozart zu Salzburg mißhandelt hat, in der ewigen Seligkeit antrifft und der Archivrat dem Erzbischof die Hand drückt, blicken sich zwei unbescholtene Männer in die Augen: sie haben nicht Musik gestohlen auf Erden, denn ungeborenes Werk ist noch kein Besitz. Aber die Apparatur der Kunst, die ist Besitz, und Künstler stoßen sich wund an ihr, wenn sie Unglück haben . . . Sei nicht so empfindlich, sprach der Kochtopf zum Kristallglas, sieh mich an, ich muß mehr aushalten als du und bekomme doch 130 keinen Sprung bei jedem kleinen Stoß. Liebe Kochtöpfe: Andreas hat des Müllers von Hopfgarten dankbar gedacht bis an sein Ende. Ja, in späteren Jahren, liebe Kochtöpfe, als des Andreas Name aller Welt bekannt war, verstieg er sich sogar zu der Behauptung, er verstehe etwas von – – Pferden.

Jetzt wischte Andreas den Schweiß von der Stirne. Er stand auf der Höhe des Windmühlenberges und sah hinab auf Kranichstedt . . . Eintreffe mit Stradivari morgen vormittag – nein, Stradivari und ich – nein . . . Die Abfassung eines Telegrammes fiel Andreas schwer. Er vermochte seine Gedanken nicht zu sammeln. Wilde Bilder jagten die Depeschentexte vor sich her: Schurch sucht die Geige, Lindemann sucht sie, Becker sucht sie, der Oberbürgermeister, der Zweite Bürgermeister sucht, und jeder sagt: Wer hat sie gestohlen? Keiner fragt wie Andreas: Wer geigt sie? Dem Andreas war klargeworden, daß jegliche Sache – Geige, Spaten, Nähnadel – einmal ein Ding ist, welches sein dingliches Dasein erfüllt, daß es zum andern aber – und das erleichtert das Leben nur selten – ein Besitz ist. Andreas sah im Geiste den Direktor Becker schlaflos auf dem Bettrand sitzen und hörte ihn stammeln: Wer hat dich mir entwendet? Er sah ihn die Depesche aufreißen, die Maschinenschrift anstarren, nicht anders als Andreas selber auf der Bank im Rosental die Geige angestarrt hatte, sie, seine Geliebte, selig – »Bettrand!« rief Andreas laut, »mein Gott, das Museum ist geschlossen, und ich weiß ja gar nicht, wo der Direktor Becker wohnt!«

Im Gasthof unten wird ein Adreßbuch zu finden sein – Andreas mußte die Privatwohnung Beckers ausfindig machen.

131 Die große Gaststube der Scherbelschänke lag öde und leer da – doch, da saß jemand am Fenster. Ein Geschäftsmann wohl, ein kleines krummes Männlein, das rechnete, gar nicht aufsah. Von der Wirtin Krumbiegel war nichts zu erblicken. Andreas stand eine Weile unschlüssig am Bierausschank. Schließlich suchte er sich einen Fensterplatz hinter dem rechnenden Mann. Die Wirtin mußte ja kommen. Es wurde schon dämmerig. Andreas konnte in Ruhe den Text der schweren Depesche überlegen. Er grübelte, probierte eine Fassung nach der andern. Viel hatte er zu sagen, aber nur fünf Mark besaß er, und jedes Wort kostet fünfzehn Pfennige. Seine Gedanken schweiften ab – was tut der rechnende Mann eigentlich? Er hatte Gläser mit bunten Farbpulvern vor sich stehen. Pappschachteln, Zahlenbücher lagen herum auf seinem Tisch. Andreas stand ein wenig auf, um dem Geschäftsmann über die Achsel zu sehen, wie der die sauberen Apothekergläser mit Farben hin und her schob, in Kolonnen ordnete, mit Zetteln beklebte. Jetzt griff der Mann nach einem großen Pappkarton, klappte den Deckel hoch –

Andreas schrie auf: Hunderte von Augen starrten ihn plötzlich weitaufgerissen an! Dämmrig lag die einsame Stube da, das grelle Weiß der Augen glänzte, hundert schwarze Pupillen zielten in Andreas' Augen – der Geschäftsmann war aufgesprungen, hatte sich umgewandt: »Zum Teufel, Herr, erschrecken Sie die Leute nicht!«

»Ich?« stammelte Andreas. Er wies auf die grausig offenen Augen – »mir ist das Herz stehngeblieben.«

»Dummes Zeug. Wer ein gutes Gewissen hat, junger Mann, der erschreckt nicht vor einer Partie Glasaugen.«

»Wenn ich aber ein schlechtes habe?«

132 Jetzt legte der Geschäftsmann den Bleistift hin, drehte sich ganz herum und sah Andreas über die Brille an: »Das laß ich mir gefallen«, sagte er und nickte, »dergleichen hört man nicht oft sagen.«

Vom Schrecken her noch trotzig, beugte sich Andreas weiter über den Tisch vor, faßte den Deckel des Musterkartons und klappte ihn zu: »So.«

Wohlwollend musterte der Geschäftsmann den jungen Menschen. »Pietzsch, Igelshieb«, sagte er, »Fabrikant Pietzsch.«

Andreas nannte seinen Namen.

»Das mit dem schlechten Gewissen war gut gesagt. Wie von selber kam das sozusagen. So müßte sich's allgemein einführen – vor Abwicklung eines Geschäfts das Gewissen der Beteiligten klarlegen wie den Kassabestand« – Pietzsch seufzte: »Leider aber behalten die Leute das wirklich Wissenswerte für sich.«

Ob ich meine Depesche an Becker so ähnlich beginne? dachte Andreas: Gewissen gut, nur folgende widrige Umstände . . . fünfzehn Pfennige verlangt die Post für jedes Wort. Er seufzte nun ebenso wie der Fabrikant aus Igelshieb bei dem Gedanken: die Wahrheit ist zu kostspielig.

Mit steigender Zuneigung hatte Herr Pietzsch den jungen Mann betrachtet, dessen Sorgen sich nur zu deutlich in seinen Mienen spiegelten. »Sie sind auch hier am Platz gelegentlich des Topfmarktes?«

Andreas wies auf den Geigenkasten, der auf dem Stuhl stand: »Ich mache keine Töpfe, Herr Pietzsch. Und künstliche Augen auch nicht.«

»Musik, aha. Ein lustiges Geschäft« – wie ein ganzer Kasten voll böser Augen starrte Andreas den Mann aus 133 Igelshieb an – »ich meine«, fuhr Pietzsch fort, »Musik erhebt des Menschen Herz, wie es im Liede heißt –«

»– und setzt den in Schuld und Schulden, der sie macht«, unterbrach ihn Andreas grollend.

»Das ist bei jedem Geschäft so. Nur wendet man im geordneten Geschäftsbetrieb dafür das Wort Debet an und verfügt über Kredit.«

»Kredit? Haben Sie auch schon auf einer Geige gespielt, die einem anderen gehört, Herr Pietzsch?«

Leider war der Augenfabrikant Nichtraucher. Jetzt wäre der Augenblick gekommen, bedächtig eine schöne schwere dunkle Brasil anzuzünden und sich vorsichtig durch den Rauch rückwärts zu reden. Pietzsch konnte nur nach seinen Musterkartons greifen, einen bestimmten heraussuchen, aufklappen und sagen: »Sie haben vorhin in den falschen Karton geguckt. Das war nur dritte Wahl. Eine solche Sorte verwendet man für Wachsbüsten, wie sie in Friseurläden stehen. Bei denen muß mehr die Haartracht auffallen als ein seelenvoller Blick. Aber sehn Sie dieses Muster an« – Pietzsch hob mit spitzen Fingern vorsichtig wie ein Sammler antiker Vasenscherben ein Muster aus dem Sammetfach – »was sagen Sie dazu? Das ist wissenschaftlich einwandfreie Ware: beachten Sie bitte die blaugrüngraue Iris. Das lebt, wie? Und dieses rehbraune Auge hier mit den Glimmersprenkeln – das blickt Sie an! Warum blickt es Sie an?« – Herr Pietzsch legte das Auge wieder auf sein Sammetpolster und fuhr fort: »Das läßt sich eben nicht sagen. Das ist Kunst. Solche Augen kann nur ich machen zur Zeit, und wenn ich mal tot bin – lieber Gott, mit was für Augen werden die armen Leute dann rumlaufen müssen.« Jetzt klappte Herr Pietzsch einen 134 zweiten Karton auf, noch einen, den vierten, alle Musterkästen standen offen! Hundert, tausend Augen sahen Andreas an! Ganz Leipzig starrte aus reglos offnen, grauenvoll stechenden Pupillen: Wer hat die Stradivari, Andreas? Andreas, wer? Wer?! Die Depesche, die Depesche, dachte der Geiger – »Der Karton da«, fuhr Pietzsch gelassen fort, »enthält billige Ware: Puppenaugen. Ein großer Artikel. Wird nur grosweise abgegeben. Na ja, es gibt eben mehr Puppen mit künstlichen Augen als Menschen derart. Und dieser Kasten da, der dort auch: Tieraugen. Affen, Bären, Hunde. Die schwarzen Punkte in dem Karton sind Vogelaugen« – zur Ansicht lag die geheimnisvolle Welt der Augen offen vor Andreas. »Und kein Auge von den Tausenden sieht etwas«, sagte der Geiger.

»Sehend kann ich meine Fabrikate freilich nicht machen. Aber Augen ansehn lernen, lohnt auch.« Pietzsch öffnete einen würfelförmigen Kasten, entnahm ihm vorsichtig ein Riesenauge: »Das wird für Schulen hergestellt« – er zerlegte das Modell, hielt einen Glaskörper in der Hand, sah Andreas stolz lächelnd an – »hier, sehn Sie die Linse? Durch die muß die Welt hindurch, oder sie ist nicht da.«

Andreas schüttelte den Kopf, tippte an sein Ohr: »Hier durch muß sie!«

Pietzsch sah seine Zauberlinse eine Weile von allen Seiten an, setzte dann langsam das Augenmodell wieder zusammen, brachte es an seinen Ort, schloß einen Musterkasten nach dem andern – der Spuk war vorbei, Andreas atmete auf. Und Herr Pietzsch sagte: »Durchs Ohr? Die Welt? Nun, einem Musikus muß man wohl manches nachsehn. Wenn nur die unmusikalische Menschheit nicht auch verlernt hätte, mit den Augen umzugehn. Bilder 135 werden heute vorwiegend mit Maschinenaugen geknipst oder gedreht. Die Leute entschuldigen sich: das Bild wird ungeschickt, wenn man's selber zeichnet. Als ob es auf die Bilder ankäme! Aufs Sehen, junger Mann! Wie kurze Zeit stehen so ein paar lebendige Augen offen und können die Welt in sich hineinsehen! Was haben aber die Leute mit ihren Maschinen schon gesehen, wie?!« – Herr Pietzsch zog Andreas an der Rockklappe näher zu sich: »Die Welt bleibt, was sie ist«, sagte er leise, »aber die Menschheit ist zuzeiten ärmer, zuzeiten reicher. Die Mühe, mit eignen Augen zu sehen, lohnt zu allen Zeiten. Ich will Ihnen was anvertrauen. Hören Sie zu! Das Auge kommt langsam ab. Figuren heute – sehn Sie sich fleißig Figuren an aus Stein oder Holz oder Bronze, wenn Sie in die großen Städte kommen auf Ihren Konzertreisen – Figuren haben heute keine Augen mehr. Ein weißer Fleck ist dort oder ein Loch. Als die großen Bildhauer lebten, in Griechenland, auch in Rom noch, gab es eine besondre Augenkunst. Aus Elfenbein wurde das Augenweiß geschnitten oder aus Silber. Die Iris war aus Emaille gemacht, die Pupille aus schwarzem Kupfer. Manchmal nahmen sie auch Edelsteine. Ich habe letzthin zu einem Steinschleifer gesagt, er soll mir eine Iris aus braunem Onyx schleifen mit einem ganz feinen dunkelbraunen Achatring drum und einer Pupille aus schwarzem Eisenstein – solche Augen hat nämlich eine alte Figur. Da hat der Schleifer lange probiert und dann gesagt: die Ringe brechen und passen nicht haarscharf ineinander. Es gelang ihm nicht. Eine Riesenmühe müssen sich die alten Augenmacher aufgeladen haben! Warum haben sie sich damit herumgequält? Ich sage nicht, daß unsre Figuren schlechter wären. Bloß daß sie keine 136 Augen mehr haben, sage ich. Denken Sie, das ist nur Zufall? Nein nein, mein Lieber, es ist alles über Menschenmaß hinaus weiträumig geworden heute. Wer sieht noch in die Augen selber? Und wer, lieber Gott, kann sie noch lesen?! In ein paar Jahren ist mein Sohn soweit, daß ich ihm das Geschäft geben kann, und dann schreibe ich auf, was ich ein Leben lang beim Augenmachen gelernt habe. Das Auge Gottes, heißt das Buch.«

»Auge Gottes«, sagte Andreas langsam . . . wie in manche Domkuppel ganz oben in die strahlhelle Laterne ein gewaltiges Auge Gottes hineingemalt ist, das unbewegt weit offen herabblickt aufs kleine kommende und gehende Wesen unten – so sah jetzt der Geiger mit der fremden Geige hoch über sich im Himmel von Kranichstedt ein unbewegt weitoffnes Auge: nicht von einem Meister gemalt, nur von einem Hopfgärtner Bauern, in ungelenken Strichen und groben Farben: »Herr Pietzsch«, sagte Andreas hastig, »haben Sie vielleicht ein Stück Schreibpapier?«

Pietzsch hatte eben vom Schreiben gesprochen und sah den jungen Mann groß an.

»Ich muß nämlich eine dringende Depesche schreiben.«

»Ach so« – diese Wirkung seiner langen Rede hatte Herr Pietzsch nicht erwartet –»hoffentlich kommt sie gut an.«

»Hoffentlich«, sagte Andreas und schrieb im letzten Licht des Tages: Eintreffe mit Stradivari morgen früh – –

– »Was das is?!« schrie draußen eine grobe Stimme, »Arbeitshintertreibung is das!!«

Die Tür wurde aufgerissen, daß sie krachend an die Wand flog. Schlürfen und Trampeln viel festen Stiefelwerks wurde hörbar, Stimmenmurren. Eine ganze 137 Gemeinde schien in die Gaststube zu poltern. Frau Krumbiegel drängte sich durch die Menschen und lief nach dem Lichtschalter. Im blendenden Schein stand Meister Umschlag, wie er von seiner Arbeitsstätte gekommen war: im gelb beschmierten Kittel, einen Meißel in der Linken, den Hammer in der rechten Hand. Die ganze Meisterschaft des Thüringer Töpfergewerbes umgab den erregten Mann. »Ich sage 's euch, die woll'n uns 's Licht ausblasen!«

Andreas saß mit seiner halbfertigen Depesche am Tisch. Das Schriftstück mußte zur Post. Er wollte den letzten, schwersten Satz im Hinterzimmer fertigschreiben. Aber Andreas wie Herr Pietzsch blieben gebannt sitzen, um erst das Ende der seltsamen Geschichte anzuhören, die aus vielen Fragen, Gegenfragen und Flüchen allmählich zutage kam.

Dieses hatte sich heute zugetragen im Rathaussaal zu Kranichstedt:

Im ersten Frühmorgengrau, als die Fensterläden noch geschlossen waren, die Straßenkehrer eben gähnend nach ihren Besen, die Bäckerjungen pfeifend nach den Semmelkörben griffen, saß Meister Umschlag schon in der Schoßkelle und lenkte seinen Wagen vorsichtig zum Rathausmarkt. Zwei, drei Gehilfen gingen nebenher und paßten auf, daß die sorgsam in Stroh verpackten Wandplatten, mit denen der Wagen hoch beladen war, nicht ins Rutschen kamen. Der Ratsdiener hatte die Uniform noch nicht an, aber Umschlag ließ ihm keine Zeit. Meister Umschlag hatte einen schweren Tag vor sich. Der Ratssaal wurde ausgeräumt. Sorgsam prüfte Umschlag sein Arbeitsfeld und beschloß, mit der Längswand gegenüber dem Kamin zu beginnen. Er rollte die große Zeichnung des Belags auf dem Fußboden auseinander. Die Gesellen begannen mit dem 138 Herauftragen der Platten. Umschlag ordnete die bunten Vierecke ihren Nummern nach, brachte sie in den gehörigen Zusammenhang. Nichts durfte überstürzt werden, sonst gerieten die Stücke durcheinander und die Verse Zeißings reimten sich nicht mehr. Zudem führt unnötige Eile nur zu Bruchschäden. Der Amtssekretär sah von Zeit zu Zeit nach, wie weit die Töpfer waren und wunderte sich gegen elf Uhr dreißig, daß sie noch nicht eine einzige Platte an ihrem Ort vermörtelt hatten.

»Ruhe«, sagte Umschlag zu dem Sekretär, »jedes Ding braucht seine Zeit. Ihre Schreiberei auch. Und was machen Sie, wenn Sie sich verschrieben haben? Sie nehmen 'n neuen Bogen. Aber ich? 'n Kunstwerk is nicht im Handumdrehn noch 'nmal gemacht. Immer Ruhe, Herr Obersekretär.«

Als die Ratsuhr zwölf Uhr schlug, waren die Platten auf dem Fußboden geordnet. Der Hauptvers: So schläft in unsrer lieben Stadt, was sie nichtsahnend in sich hat – saß genau in der Mitte. Solide gebrannt, schön glasiert lächelte seiner Hände Werk den Meister an. Er nickte wohlgefällig, nahm auf der Kaminstufe Platz und sagte: »Mittagspause. August, hole 's Frühstück!«

Umschlag und seine Gehilfen begannen zu essen. Die Gehilfen tranken Mischkaffee zu ihren Wurstbroten, der Meister jedoch stärkte sich mit Apfelsaft. Dies letztere Getränk verdient eine besondere Erwähnung; denn sofern Umschlag eine alkoholische Erfrischung zu sich genommen hätte, würde die Meisterschaft in der Scherbelschänke, würden auch Andreas und besonders Herr Pietzsch im Verlauf der unwahrscheinlichen Schilderung Umschlags geargwöhnt haben: Vielleicht ist das alles gar nicht wahr, der Meister hat nur zu scharf 139 gefrühstückt. Umschlag redete jedoch die reine Wahrheit. Er hatte weder Bier getrunken noch einen kleinen Kümmel hier und da. Ja, Umschlag war derart im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen, daß er den Gehilfen das Frühstück mit einer lehrreichen Rede würzen konnte: »Nu guckt doch nich immer bloß die Knackwurscht an, wenn ihr 'nmal die Ehre habt, in so 'nem Saal zu frühstücken! Mehr als tausend Jahre is der alt. Seht euch die Länge an: er is lang, verdammt lang. Er is auch ziemlich breit. Un hoch? Ganz verflucht hoch is der Saal. Aber habt ihr was gemerkt von jedem Maß für sich? Von der Länge für sich alleine? Von der Breite? Un von der Höhe, als wenn er bloß hoch wäre? Nischt habt ihr gemerkt. Der Mensch fühlt hier drinne nur eine angenehme Großartigkeit. Diese Größe schlägt einem nicht auf 'n Magen. Dahingegen gibt's Säle, die sin beträchtlich kleiner und wirken doch so unverschämt, daß man sich nach 'm Ausgang umsieht. Woher kommt das?«

Die Gehilfen guckten kauend zur Decke hinauf und wußten dem Meister nichts Stichhaltiges zu antworten.

»Ich will's euch sagen. Aber merkt's euch. Das gehört auch zu unserem Handwerk. Kein Ding hat sein Maß für sich, als ob es alleine für sich dawäre. Kein Ding und kein Mensch is nämlich für sich selber in der Welt. Eins lehnt immer an was anderem, un ein Wohlverhältnis auf Erden un im Himmel is bloß dort, wo eins sich ins andre fügt. Das is, was man die richtigen Maße nennt, versteht ihr? Mit 'm Zirkel lassen sich Maße aber nich finden. Gefühl muß der Mensch haben für die Maßhaftigkeit.«

Schon diese allgemeine Kunstbetrachtung zeigte die beginnende Aussöhnung Umschlags mit dem Schicksal, das ihn berufen hatte zur Ausschmückung dieses alten schönen Saales.

140 Punkt zwölf Uhr dreißig machten sich die vier Töpfer körperlich und geistig erfrischt von neuem ans Werk. Vor allem galt es jetzt, den Grund zu prüfen, der die Wandplatten zu tragen hatte. Wird die Mörtelschicht auf rauhem Haustein liegen oder glatten Ziegeln? Umschlag ergriff Meißel und Hammer und schlug los. Nicht zu grob schlug er, nicht zu sanft – so probend nur und mit Gefühl, wie ein Meister schlägt. Spielend leicht ging die Arbeit vonstatten. Ein Hieb, und gleich spritzte ein paarfingerbreites Stück weg.

Mit diesen Probeschlägen jedoch und noch einigen wenigen weiteren Meißelhieben außerdem war des Obertöpfermeisters Umschlag Werktätigkeit im wesentlichen beendet in diesem Saal des Rathauses zu Kranichstedt. Vor den sehenden Augen des völlig nüchternen Meisters nämlich stieg ein Geist aus der Wand, unerkannt von ihm zunächst, aber ein Geist, der stärker war als Umschlag, mächtiger als das gesamte Töpfergewerbe, gewaltiger als ein schriftlicher und mit dem Ratssiegel versehener Auftrag, unwiderstehlicher als ganz Kranichstedt, ja als alle lebende Mitwelt.

Umschlag hatte meißelnd geprobt. Graugrün uralte Wand war ans Licht gekommen. Glatter und schöner konnte sie gar nicht sein! Umschlag hieb wieder zu. Jetzt wurde rötlicher Grund sichtbar. »Schockschwerenot!« – jetzt blitzte ein Streifchen Gold – »das is der Steingrund noch gar nich! Unter dem weichen Mörtel liegt noch eine dicke Schicht harter!« Meister Umschlag setzte nun den Meißel in den farbigen Grund, schlug mit Gewalt, die Meißelschärfe schnitt auch gut ein, wie es einem Werkzeug aus Flußstahl ziemt, aber diese untere Mörtelschicht spritzte 141 nicht ab. Einen Hieb auf die Meißelkante mußte der Meister erst noch setzen, damit er wenigstens sein Werkzeug aus der Wand losbekam: »Verdammte Mörtelei!« knurrte Umschlag. Eben noch hatte er in wohlgesetzten Worten vom Wesen der guten alten Baumeisterei gesprochen, und jetzt muß berichtet werden, daß er in Gegenwart seiner drei Gehilfen den guten Mörtel der alten Baumeisterei mit Verwünschungen bedachte.

»August, gehe mal 'nunter, an die Nische draußen, wo der Maurer die Dübellöcher für das Spielmannsdenkmal haut. Der Mann soll mal raufkommen.«

Der Maurer kam, besah den Mörtel, setzte seinen Meißel an, aber schlug nicht zu. Den schon gehobenen Hammer in der Luft haltend, betrachtete er den graugrünen Mörtel, den rötlichen, den goldenen Strich – und setzte den Meißel wieder ab. Dafür rieb er mit seinem harten Zeigefinger auf dem Grau, dem Rot, dem Gold – »'n Augenblick«, sagte er und ging fort.

Verwundert sah ihm Umschlag nach. Noch verwunderter sah er ihn mit dem Bildhauer Hauke wieder eintreten: »Sehn Se sich das doch 'nmal an«, sagte der Maurer zu Hauke.

Die Augen des Bildhauers wurden groß, und er betrachtete den alten Mörtel, als ob er ihn mit seiner Nase beriechen wollte. Aber Hauke war ja nun der letzte, den sich Umschlag als Gutachter wünschte in seinem eigenen Revier: »Ich habe nich gesagt, daß ich jemanden aus 'm Aluminiumfach brauche«, begann er.

»'n Augenblick«, antwortete jedoch auch Hauke nur und ging ebenfalls fort.

Jetzt wollte Umschlag grob werden. Aber der Maurer 142 schüttelte den Kopf: »Meister, gucken Se sich das doch 'nmal genau an. In Ihrem Eifer haben Sie nich genau hingesehn – das is Malerei.«

Die Türe ging wieder auf. Hauke brachte einen Ratsherrn mit. Auch der Ratsherr rieb mit dem Zeigefinger auf dem Grün, Rot und Gold, und der Ratsherr holte den Bürgermeister Müller. Der Bürgermeister ließ den Rektor des Gymnasiums holen. In Kürze war der Gesamtvorstand des Altertumsvereins am Platze. Auch der Altertumsverein rieb auf dem Grün, Rot und Gold – aber ganz leise, hauchartig nur berührten die Herren diese Wand, und der Bürgermeister führte ein dringendes Ferngespräch mit dem Provinzialkonservator. Immer mehr Herren erschienen im Ratssaal, die Lehrer, die Pastoren, auch Herr Wandler von der Ilmpost kam und ein Pressephotograph. Wandler bemühte sich, das Mörtelstückchen zu beschreiben, der Lichtbildner stellte eine Reihe von Aufnahmen her – schwierige Aufgaben: es war ja fast nichts zu sehen.

Meister Umschlag mit seinen Gesellen wurde völlig in den Hintergrund gedrängt. Er setzte sich schließlich mit den Seinen auf die Kaminstufe und knurrte: »Das sage ich aber – die verlornen Stunden laß ich mir nich abziehn. Die werden voll bezahlt vom Rat.« Zur Zeit der Kaffeepause jedoch hörte er mit angehaltenem Atem den inzwischen eingetroffenen Provinzialkonservator sagen: »Kein Zweifel, die Malerei ist alt. Ich werde sofort dem Generalkonservator berichten. Meine Herren von Kranichstedt, wenn Sie Glück haben, tritt aus dieser Wand ein Werk alter Kunst hervor.«

»Der Saal wird sofort geräumt«, befahl der Bürgermeister, »diese Sachen hier werden hinausgeschafft! Die 143 Türen bleiben unter Verschluß, bis weitere Verfügungen folgen.«

Mit freudestrahlenden Gesichtern verließ die ansehnliche Gesellschaft den Saal. Schon sank die Dämmerung hernieder. Der Ratsdiener rückte an seiner Mütze: »Also nu los 'n bißchen, Meister! Raus mit dem Zeug! Ich will hier zuschließen.«

Meister Umschlag hatte die jähe Wendung noch nicht begreifen können. Stumpfen Sinnes stand er am Treppengeländer und sah die Gehilfen seine Platten hinuntertragen . . .

Von unten klang eine Stimme: »Da hat sich der Meister Hauke ein großes Verdienst erworben.« – Verdienst? Er – sich, ja! Und mein Verdienst? Durchs Treppenfenster erblickte Umschlag den Ratsmarkt und Leute, die stehenblieben und gafften: »Die sehn zu, wie das Spielmannsdenkmal aufgestellt wird« . . . Langsam stieg er hinunter, ging in den Ratshof. Hier stand sein Wäglein, beladen mit den Wandplatten, ganz wie es am frühen Morgen dieses Tages eingefahren war in den Ratshof. Nun fuhr er's wieder hinaus.

Das Pflaster in Kranichstedt ist schlecht. Bei jedem Ruck klirrten hinter ihm die gebrannten Platten. In der Eile hatten die Gehilfen sie nicht wieder so gut in Stroh verpackt wie am Morgen. Bei jedem Klirren, Klappern und Brechen löste sich etwas in Meister Umschlags Gedanken, und bei dem großen Hauptruck in der Straßenrinne vor der Scherbelschänke waren sie ganz frei: er tat einen so gewaltigen Fluch, daß die Töpfermeister, die eben zum Abendbrot kamen, erschrocken stehenblieben, ihren Augen nicht trauten, als sie den Meister mit der gepackten Fuhre 144 ankommen sahen am Abend, wie er abgefahren war am Morgen: »Aber Umschlag, du bist wohl 'n ganzen Tag rumgefahrn un hast 's Rathaus nich gefunden?!«

Ein guter Mann war Umschlag, aber ein jähzorniger Mann, und er tat sich jetzt selbst das bitterste Unrecht an. Die Frage seiner Genossen beantwortete er mit einem zweiten, noch ärgeren Fluch, hob die Peitsche und hieb auf sein Rößlein. Erschrocken ruckte das Pferd an, fuhr wie der Wind um die Ecke. Umschlag schrie, zog am Zügel. Mit einem Hupp fuhr das Hinterrad über den Eckstein der Scherbelschänke, und prasselnd krachten nicht wenig Wandplatten zerklirrend aufs Pflaster der Seitengasse . . .

Diese schlimmen Erlebnisse kamen mit allerhand Umschweif an den Tag. Andreas hatte still auf seinem Stuhl gesessen, die Geige und die Depesche vor sich, und dachte nun: Ging es dem Töpfer anders als mir?

Glücklicherweise ist vielen Menschen die Gabe verliehen, einen Unglücksschlag dadurch zu mildern, daß sie vor allem anderen zuerst nach einem Schuldigen suchen. Dieser Schuldige wird bekanntlich sehr rasch gefunden.

»Da is Hauke dran schuld!« riefen die Töpfer.

»Was soll nu werden?!«

Bei der Frage warf Umschlag Meißel und Hammer klirrend auf den Tisch: »Wenn unsre Töpferei nich in den Ratssaal kann, dann kommt Hauke auch nich in die Rathauswand.«

»Der Flaschenzug steht ja schon. Der hebt den Spielmann heute abend noch in die Nische.«

»Hauke hat sich vor meine Wand gestellt – ich stelle mich in seine Nische«, sprach Umschlag und wandte sich zur Tür. Seine Gefährten ließen das Abendbrot stehn und 145 gingen hinter dem Meister her. Der Trupp war groß. Die Töpfer sprachen sehr laut in den abendlichen Straßen. Das Ereignis hatte sich herumgesprochen. Neugierige schlossen sich den Töpfern an. Je weiter sie vordrangen nach dem Stadtinneren, desto geräuschvoller wurde der Zug, denn zehn Neugierige machen mehr Lärm als hundert zwar zornige, aber im Grunde verständige Meister. Ein Töpfermeister wirft auch nicht Steine nach einer Straßenlaterne. Das tun Lümmel, die nebenherlaufen und die die ganze Sache nichts angeht, die aber aus Leibeskräften rufen: »Die Töpfer stürmen 's Rathaus!«

Nicht in Abrede war zu stellen, daß sich auf den Ratsmarkt eine bedrohliche Menschenmenge wälzte, welche um so größer schien, je dunkler der Abend herniedersank auf dieses bedauerliche Schauspiel. Mit fliegenden Händen wickelte Hauke den Spielmann wieder ein in das eben abgestreifte Sacktuch. Gerade hatte er das Denkmal mit dem Flaschenzug in die Nische heben wollen.

In der Nische war kein Platz mehr für ein Denkmal, dort saß jetzt Meister Umschlag. Er brannte seine Pfeife an und sagte: »Nu woll'n wir doch sehn, ob sich noch eine Gerechtigkeit findet in Kranichstedt oder nich.«

Zum Glück für die Stadt der Ildewig fand sich die Gerechtigkeit – nicht jene Gerechtigkeit, die mit verbundenen Augen dasteht, sondern eine, an deren freundlich-offenen Augen auch der Augenmacher Pietzsch in Igelshieb seine Freude gehabt hätte. Der Bürgermeister Müller war ein weiser Mann und ein geschickter zugleich, der nicht nach Schuld suchte, sondern eine etwas undeutliche Sache rundum zu betrachten verstand. Der ergrimmte Meister Umschlag saß trotzig pfeiferauchend in der Nische. Müller sah sein 146 Gestühl an und sagte: »Je, Meister, es gibt bequemere Gelegenheiten.«

»Ich bleibe hier sitzen, un wenn ich schwarz werde.«

»'s sieht aber nach Regen aus.«

»Mich trifft 'r nur von vorne, aber den Herrn Bürgermeister, wenn er da stehnbleibt, von vorne, von hinten un von oben.«

»Meister, das ist eine unbillige Denkungsweise.«

»Mir is Unrecht geschehn.«

»Wenn jeder, der sein Recht sucht, eine Nische für sich allein beansprucht – wieviel Nischen sollte ein Rathaus haben?«

»Das is Ratssache.«

»Und Handwerkssache ist sich zu fragen: wie sieht dann unser schönes Rathaus aus? Nichts als Nischen, eine an der andern, und in jeder säße einer, rauchte Pfeife und wartete auf sein Recht.«

»Ich warte, was es mit meiner Wand im Ratssaal auf sich hat.«

»Umschlag, die hat's in sich gehabt. Was läßt sich da ändern?«

»Nu bin ich 'n armer Mann geworden, Herr Bürgermeister.«

»In einem Rathaus sind viele Wände, Meister!«

»Rückwände zumeist, Herr Bürgermeister.«

»Wer das sagt, der kennt das Kranichstedter Rathaus nicht. An Nischen ist hier nur eine vorrätig. Aber der Saal ist zweimal da. Ein Stockwerk höher liegt der andere.«

»Jetzt passen doch meine Platten nich mehr!«

Der Bürgermeister sah fragend zu dem Meister in der Nische hinauf. Umschlag erhob sich, hörte auf zu rauchen 147 und schrie: »Es sin doch welche zerbrochen bei der Aufregung!«

»Dafür brennen Sie neue Platten.«

»Das kostet aber zusätzlich, Herr Bürgermeister.«

»Verschönerungen und Aufregungen kosten immer zusätzlich«, sprach der erfahrene Bürgermeister und nickte nachdenklich mit dem Kopfe: »Kommen Sie, Meister. Wir gehn mal durchs Haus und sehn uns die Räume auf Ihren Wandbelag hin an.«

Der Bürgermeister, der Töpfermeister und die Meisterschaft des Landes gingen ins Rathaus, etwas wortkarg noch, mehr wie eine Schar von namhaften Reisenden, denen der Bürgermeister des Ortes die Sehenswürdigkeiten persönlich vorführt.

Die Fenster des Rathauses wurden hell, strahlend fiel das Licht auf den nächtlichen Markt, als ob ein Bankett stattfände in den altersgeschwärzten Räumen. Aber Musik war nicht zu hören. Nur die lautlos wandelnden Schatten eines langen Zuges von Menschen sah man zuweilen an den Fenstern hingehn.

Unten auf dem Pflaster vor der leeren Nische stand das vermummte Spielmannsdenkmal geheimnisvoll-unförmig, ein Schutzmann links daneben, ein andrer rechts. Silbern zog der Mond auf über dem stillen Markt.

Eine halbe, eine ganze Stunde in dieser gefährlichen Nacht mochten die Schutzleute das verpackte Denkmal bewacht haben, als ein Rathausfenster nach dem andern dunkel wurde, das Portal aufging und die Meisterschaft unter Vorantritt Umschlags den Marktplatz wieder betrat. Gesittet gingen die Meister in kleinen Gruppen, gemäßigten Tones brachten sie ihre Meinungen vor, ruhigen 148 Schrittes wanderten sie nach der Scherbelschänke. Die Schutzleute wurden auf besondre Anordnung des Bürgermeisters in Ansehung der veränderten Lage von ihrem Posten zurückgezogen. Die müden Wächter legten sich ins Bett, die Töpfer konnten noch lange nicht an Ruhe denken. Der Tag hatte viel Mühe gebracht, Arbeit, Lauferei, Aufregungen – Scherben sogar! Darüber war nun noch manche langwierige Betrachtung anzustellen und mancher Trunk zu tun. Brüderlich rückte die Meisterschaft die Tische in der Gaststube der Scherbelschänke zusammen.

 


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