Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Wie ein Kranker, der wieder gehen lernt, schritt Andreas über den Bahnhofsplatz in Kranichstedt – acht auf den Weg geben! Der Verantwortung vor der ungeheuren Last, die er unterm Arme trug, war er sich wohl bewußt.

Wenn jemand ruchlos genug wäre, den Ort Kranichstedt zu stehlen, Haus für Haus, samt Rathaus und Kirche – das könnte alles wiedergebaut werden, sogar die Marienkirche, von den Sarkophagen unten in der Gruft bis zum Turmhahn hinauf: die Pläne sind niedergelegt in der Landesaufnahme der Kunstdenkmäler. Aber wenn jetzt dem Andreas die Stradivari abhanden käme – trotz der haargenauen Beschreibungen und Maßangaben im Archiv des Museums würde sie keiner nachbauen können. Manche Dinge in der menschlichen Welt hat sich Gott vorbehalten. Andreas, ein armer Mann ohne Namen und Auftrag, ohne die Hilfe und Sicherung von Amt und Gesetz, vermochte solch ein Vorbehaltsgut nicht drei Tage und drei Nächte widerrechtlich zu verwalten. Noch fühlte er die Gefahr nur verworren, denn der Geiger Andreas war ja einer Stradivari gewachsen – nur dem kleinen 73 unbekannten Kranichstedter Einwohner Andreas, dem war sie viel zu schwer! Diese ungeheuerliche Last drückte ihn, der schon seit dem unseligen Abend im Künstlerzimmer des Lamms keinen rechten Weg durchs Leben mehr erkennen konnte, nun vollends nah und näher an den schattigen Ausweg aus dem Leben in den Tod. Es schritt jetzt also über den Bahnhofsplatz zu Kranichstedt ein Mann, der unterm rechten Arme die Stradivari trug und linken Armes eingehenkelt ging mit dem Tod. Drei Tage, drei Nächte wollte er geigen, dann lag die Stradivari wieder in ihrem Kristall, und er hatte erlebt, was einem Geiger vor seinem Ende beschieden sein kann. In Hinsicht seines abgetragenen Rockes und seiner leeren Taschen befand sich Andreas in gefährlich vornehmer Gesellschaft. Mit dem Tod Arm in Arm – dieses Bündnis hat schon manchem armen Mann Haltung gegeben weit über seine Verhältnisse und Jahre hinaus – jene Positur nämlich, die wie Freiheit aussieht, aber nur ihre Spiegelung im Unglück ist.

Mit dem Betreten des Bahnhofsplatzes begann des Andreas dreitägiger Urlaub vom Tod. Drei Tage sind im Leben meist nicht viel, im Handel mit dem Tod aber eine ungeheure Sekundenzahl. Rings umgeben von herrlichem Leben, muß sich Sekunde für Sekunde der Vertrag neu bewähren. Die Helle des freien Platzes umgab Andreas. Er legte den Kopf in den Nacken. Der Osterwind wühlte ihm in den Haaren – sein Hut hing noch im Künstlerzimmer des Lamms. Wegen der paar Tage holte er ihn nicht erst. Erhobenen Hauptes schritt Andreas über den Platz, mitten durch ein so emsiges Gelaufe und Gefahre, daß es ihm hätte auffallen müssen. Aber er sah nicht um sich. Luft waren die Einwohner Kranichstedts für Andreas. Es gab für 74 Andreas nichts zu gucken hier und keinen guten Tag zu wünschen. Zu geigen hatte Andreas, nur zu geigen noch. Seiner Kammer in der Seifengasse strebte er zu, gedachte die Marktstraße längs, die Ratsgasse und dann die Nickelsgasse zu wandeln, den Herrn des Lebens zutraulich eingehenkelt: Andreas hatte den Tod eingehenkelt, nicht der Tod ihn – das ist ein Unterschied. Wen Freund Hein führt, der braucht nicht zu sorgen ums Abhandenkommen seines Genossen, der läßt nicht leicht los, wen er einmal untergehakt hat. Wer aber verwegenerweise seinerseits den Tod zu führen glaubt, muß wohl achtgeben, daß der sich nicht so sachte beihin verkrümelt unterwegs. Andreas gab acht auf ihn, scherte sich nicht um die Kranichstedter und ihre törichten Unternehmungen. Er rechnete mit Ewigkeitswerten. Leider erfüllte aber den sonst stillen Ort gerade heute ein geräuschvoll lebendiger Umtrieb. Im Menschengedränge verzieht Ewigkeitsgefühl wie Rauch im Wind. Wer aller nasenlang angerempelt wird, muß schließlich die Augen aufs Leben richten. Er kann wie Andreas voll Verachtung die gebügelten Hosen seines Vordermannes betrachten – die Tatsache drängt sich dabei doch in die schwebendsten Gedanken, daß dieser Vordermann vielleicht Herr Dielebein ist und die Schloßkonditorei betreibt. Wir leben ein schweres Leben – Gestirne verbleichen vor einer Straßenlaterne für unsre Sehnerven.

Et lux perpetua, summte Andreas vor sich hin, gewalttätig nach Sammlung suchend. Kranichstedt spielte die Blockflöte dazu, Kranichstedt polterte, lachte, bumste. Und diese Wagen! Andreas mußte gut zusehen, daß sein Urlaub vom Tod nicht auf der Stelle und auf dem Fahrdamm endete samt der Stradivari. »Eintagsfliegen«, hatte er 75 gemurrt im Fußgängerschwarm. Aber diese Eintägler bewegten sich auch rädernd fort. Er sprang hier zur Seite, da rückwärts – so viel Wagen gab es doch gar nicht in diesem Nest! Nein, nicht halb so viel: von auswärts kamen sie, bunt beladen mit Topfwerk, geschmückt mit Tannengirlanden und Fahnen.

An der Ratsgassenecke stand eine Plakatsäule, die den Fußgängerstrom teilte wie ein Brückenpfeiler die Flut. Andreas fand einen Fußbreit Raum zum Ruhigstehen. Er holte Atem. Hinsehen auf die bunten Anschläge wollte er nicht. Was konnte schon draufstehen? Die letzten Neuigkeiten der Ilmpost, vielleicht: . . . Archivrat Mittenzwey ins Johannishospital überführt, Schädelbruch, die Ärzte hoffen noch . . . Aber Andreas sah doch hin beim Atemholen. Fettgedruckte Buchstaben sind auf der Straße stärker als tiefe Gedanken. Andreas sah bald nicht nur hin: er las mit Begierde. Das las sich ja ganz friedlich und gut! Quartettabend auf den Dreiundzwanzigsten verlegt, las Andreas. Und der Vorstand Mittenzwey wird diesen besonders genußreichen Abend, an dem der bekannte Geiger Victor Müller aus Schmiedefeld zum ersten Male in Kranichstedt auftritt, mit einem Vortrag im kleinen Lamm-Saal einleiten . . . Teufel, dachte Andreas, Mittenzwey redet schon wieder? Hier – an dieser Stelle mußte es geschehen sein, hier mußte ihm sein großer Freund, der Tod, unversehens abhanden gekommen sein. Plakatsäulen sind rund und interessant – man liest, eine Wendung, der Begleiter ist im Gewühl verschwunden, und man steht allein und verlassen da. Einen Augenblick nur mochte sich Andreas vergessen haben über dem Lesen der neuesten Nachricht. Daß unbekannte Kräfte diesen stillen Ort heute in Aufregung 76 versetzten, erlebte er – jetzt las Andreas des Rätsels Lösung von der Säule ab. Der Topfmarkt beginnt! In der furchtbaren Nacht war ihm dieses nahende Ereignis ebenso aus dem Gedächtnis entschwunden wie die weiteren Feste, denen die Einwohner entgegengingen: das tausendjährige Bestehen der Stadt Kranichstedt galt es in wenig Wochen zu feiern. Topfmarkt – verächtlich las er drüber hin. Das Verhältnis zwischen Topfware und soviel Lärm leuchtete ihm nicht ein. Aber Tausendjahrfeier – auch ein in Ewigkeitswerten rechnender Geiger kann tausend Jahre nicht für einen Tag nehmen –

»Tausend Jahre«, sann Andreas . . .

»He!« – er wurde am Rockärmel gezupft. Erschrocken sah sich Andreas um. Meister Pröhle lachte ihn an mit dicken Backen und fächelte die Holzkohlen unter seinem Bratwurstrost – »Wo haben Sie denn gesteckt?«

»Ich?« fragte Andreas verlegen.

»Die alte Weißpfennigen hat heute früh Gehacktes gekauft zum Sonntag, und da hat sie gesagt, Sie warn weg. Un Ihre Wirtin muß es doch wissen, hähä.«

»Da bin ich ja«, sagte Andreas – leichtsinnig genug, denn er sagte das nicht zu seinem Freund, dem Tod, sondern zu Meister Pröhle, der so laut sprach, daß es der ganze Rathausplatz hören konnte. Rasch trat Andreas dicht heran an den Rost. Der Rauch beizte ihm die Augen. Sie tränten. Andreas wischte. »Da bin ich doch.«

Pröhle lachte: »Das tät 'ch dem Fräulein Agnes sagen, wenn ich Sie wäre. Die hat doch Stunde bei Ihnen heute früh. Weg is 'r, hat die Weißpfennigen zu ihr gesagt.«

Nahe am Rost stand Andreas, damit Pröhle nicht mehr so laut redete, ganz nahe am Rost: »Wie gut riechen 77 Bratwürste, wenn man so lange nichts gegessen hat«, seufzte er. Acht Stück lagen da nebeneinander . . . wenn der Tod seinen Freund Andreas nicht schon an der Plakatsäule im Stich gelassen hätte: bei diesem Blick des Geigers auf die acht lebenerhaltenden Würste wäre er bestimmt seiner Wege gegangen und hätte sich nach zuverlässigerer Kundschaft umgeschaut! Aber Meister Pröhle sah den Blick des Geigers, und ließ den hungrigen Mann nicht im Stich: »Eine gefällig?«

Andreas tastete an der Westentasche. Sie war leer. Er schluckte. Schon hielt ihm Pröhle die Wurst hin. Auf keinem Topfmarkt hat je eine Wurst so lieblich geduftet – leider, hätte Thedor Kegel gesagt, nur wie Eau de la rêve, wie Traumwasser zu deutsch. Andreas sog den Traumduft der Wurst ein: »Zufällig habe ich grade kein Geld bei mir, Meister.«

»Ach was. Nu mal los. Sie sehn je aus wie eine wandelnde Hungersnot, verdammig.«

Andreas biß hinein. Meister Pröhle sah ihn beißen. Er nickte sachkundig: »Ihnen schmeckt's!«

»Ich habe Hunger.«

Pröhle nickte abermals sachkundig: »Das macht die Ausarbeitung. Geigen is eine gelinde körperliche Bewegung. Aber so was wie im Lamm« – der Meister hob das Schüreisen und schlug es dem Holzkohlensack auf den Kopf, daß Andreas erschrocken beiseitetrat – »sich 'nmal so ordentlich ausprügeln für 'ne Woche, das zehrt.«

Fast hätte Andreas die Traumwurst fallen lassen vor Schreck: Prügelei im Lamm? Pröhle ergänzte die Wurstreihe auf dem Rost und sprach gelassen: »Tut gut, so wupp druff. Wut is Gift. Gift frißt 's Innere. Raus damit.«

78 »Reden die Leute darüber, Meister? Ich meine über die Sache da im Künstlerzimmer?«

»'s spricht sich rum.«

»Aber es ist doch gar nichts weiter passiert. Herr Mittenzwey hält doch eine Rede am Dreiundzwanzigsten –«

»Wegen Mittenzweyn spricht sich das nich rum. Wegen Ihnen. Das hat Ihnen mannig einer nich zugetraut. In meiner Brangsche, da is einer leichter bei der Hand. Aber in Ihrer – nee nee, allen Respekt.«

Als ein Geächteter glaubte Andreas einzuziehen in Kranichstedt, Arm in Arm mit dem Tod. Und nun war er gar nicht geächtet . . .

Meister Pröhle hielt ihm die zweite Wurst hin: »Langen Sie ruhig zu. Die Ware is gut. Toppmarktwurscht. Prima.«

»Aber nein, danke –«

»Zugefaßt!«

Andreas machte wieder die ergebnislose Bewegung nach der leeren Westentasche. Pröhle schüttelte den dicken Kopf und sah ihn schlau an: »Zahl'n Sie nich in bar. Zahl'n Sie mit Musike.«

Rasch biß Andreas in die Wurst, und Pröhle fuhr fort: »Passen Sie auf. Heute abend, wenn der Toppmarkt in Gang is, spielen Sie hier einen auf. Das lockt Kundschaft an, un Sie kriegen Wurscht, bis Sie nich mehr können.«

Der Meister rechnete gar nicht schlecht. Das Unglück mit der Geige im Künstlerzimmer des Lamms hatte den Andreas aus dem höheren Musikleben der Stadt herausbefördert, aber damit anscheinend nicht aus der Welt überhaupt, sondern nur bis ins Volk. Vielen Einwohnern, nicht nur dem Meister Pröhle, war das Dasein des Geigers 79 nunmehr wesentlich verständlicher geworden. Andreas hatte über Nacht mit Hilfe einer zerschmetterten Geige gewonnen, was ein junger und unbekannter Künstler mit einer heilen Geige schwerlich so rasch erreicht. Er sah es an dem vertraulichen Zunicken manches Vorübergehenden. Freilich gehörte dieses Publikum nicht einem Kunst-, Lese- oder Quartettverein an, überhaupt nicht den zarteren Berufsständen, sondern den mehr gewalttätigen Zünften. »Der da«, sagte Pröhle mit achtungsvoll gesenkter Stimme, »der is Schmiedegeselle. In der Talschmiede. Letzthin hat der einen durch die zugemachte Türe durchgeschmissen.« Andreas entsetzte sich vor diesem seinem neuen Publikum, aber Pröhle rechnete im stillen: »Wenn der Geiger heute abend an meinem Stand ein bißchen Musik macht, sind die paar Würschte, die er essen kann, bald wieder raus mit Zins- und Zinseswürschten.«

Und Andreas dachte seufzend: Ich habe Hunger. Und heute abend werde ich wieder Hunger haben. »Warum nicht, Meister? Ein paar Lieder. Oder Tänze.«

»Tänze. Dann kommen die Mächens. Un wo die sin, is 's Geschäft.« Pröhle klopfte bei diesen Worten mit der großen Holzgabel an den Geigenkasten. Dieses Klopfen aber klang dem eben auf der Rückkehr ins Leben befindlichen Geiger wie ferner Donner – der Kasten barg nicht seine eigne Geige! Seine Geige hatte ihm zwar die Popularität eingetragen, sie war jedoch in Trümmer gegangen dabei. Jetzt hielt ihn Meister Pröhle für einen ordentlichen jungen Menschen, der was auf sich hält – aber dieser Mensch hatte eine Stradivari in seinem Geigenkasten, die er vor seinem Tode noch, in drei Tagen, zum Museum zurückbringen mußte: »Halt, Meister. Keine Wurst mehr. Danke. Mir fällt eben ein, das mit der Musik heute abend, 80 das geht nicht. So im Gedränge, wenn der Geige was zustößt« – der brave Fleischermeister sollte jetzt ahnen, daß die Geige in dem Kasten mehr wert war als sämtliche städtischen Großschlachthöfe im Reiche zusammengenommen!

Pröhle ahnte nichts. Er schmunzelte nur: »Ja ja, so 'ne Geige. 'n zerbrechliches Ding. Jemandem 'n bißchen aufn Kopp, hin is se. Aber da bin ich ja auch noch da.« Er richtete sich auf. Andreas mußte zugeben: wenn dieser vierschrötige Meister eine Zerbrechlichkeit schützte, war sie geschützt. Unschlüssig fragte er: »Das hat wohl dieser Kerl, der Schratte, in der Stadt rumerzählt?«

»Wer was erzählt, läßt sich nicht sagen, wenn was erzählt wird, was nich weitererzählt werden soll. Aber sehn Sie mal her. Ich rücke meinen Rost die Ecke da weiter. Vors Rathaus.« Pröhle ging hin, zeigte die Stelle genau. »Grade unter die Nische da stelle ich mich. Sie setzen sich hinein in die Nische. Da sind Sie geschützt vorm Gedränge. Hier unten drunter stehe ich un brate. Sie sitzen oben drüber un machen Musike.«

»Nein, danke wirklich«, sagte Andreas und starrte gebannt die dritte Bratwurst an, die ihm Pröhle hinhielt.

»Da essen Sie die Wurscht zu Hause.« Der Meister wickelte sie in eine Zeitung, gab sie Andreas: »Also heute abend, so um achte, halb neune rum!«

 


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