Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Andreas hatte im ersten Frühzug nach Leipzig soeben den Vorort Leutzsch erreicht, unweit Lindenau, hart vor den Toren der Stadt. Eigentlich wäre eine zunehmende Verdüsterung mit dem Näherkommen an das Häusermeer zu erwarten gewesen. Seine Mienen lichteten sich jedoch immer mehr auf. Ihm war ein hilfreicher Gedanke gekommen: Becker, sagte er sich, ist kein Musikant. Ihm kann ich mich schwer verständlich machen. Ich werde die Geschichte erst einem Musikanten erzählen. Der begreift die Wahrheit. Der hilft mir. Freilich muß es ein großer Musikant sein. Ein Geiger am besten . . .

In dieser für Besuche wesentlich zu frühen Morgenstunde begab sich Andreas nach seiner Ankunft nicht gradenwegs in das Museum, sondern er ging mit seinem Geigenkasten den Ring entlang und bog in die Thomasiusstraße ein. Hier wohnte der weltberühmte Dirigent des Gewandhauses. Der war in seiner Jugend Geiger – ein wirklicher Geiger, in Ungarn, wo die Menschen nicht sagen: er geigt, sondern: es geigt. »Der große Mann versteht mich«, sagte sich Andreas. »Der wird mich – nun, auf mich kommt's nicht so an, aber auf Agnes: der wird Agnes retten. Ein großer Musikant fühlt das Recht in seinem Herzen.«

Er fühlt's. Gewiß. Nur bringen die irdischen Bedingtheiten mit sich, daß ein unbekannter junger Mann nicht einfach an solch ein großes Herz klopfen kann, weil dieses Herz sonst gar nicht mehr zum Musizieren käme vor lauter Klopfen der bedrängten jungen Menschheit.

Andreas drückte auf den Klingelknopf. Er nannte dem Mädchen seinen Namen und fügte hinzu: »Ich möchte den Herrn Geheimrat sprechen.«

167 Erstaunt sah ihn das Mädchen an: »Jetzt? Vor 'm Frühstück?«

»Jawohl. Jetzt gleich.«

»Sind Sie bestellt?«

»Das nicht –«

»Herr Geheimrat ist Donnerstags überhaupt nicht zu sprechen.«

»Ich muß ihn sprechen.«

»Heute abend ist Gewandhauskonzert. Ich darf ihn nicht stören.«

Andreas hörte die Windmühlenflügel rauschen über sich, der Agnes Bild stieg auf vor ihm: »Und wenn das Konzert schon angefangen hätte, Fräulein – fünf Minuten nur, aber sprechen muß ich ihn.«

Das verwirrte Mädchen war dieser Lage nicht gewachsen, außerdem hatte der Mann einen Geigenkasten in der Hand – »Augenblick«, sagte sie, wollte die Tür schließen, aber der verzweifelte Mann trat ein, schloß die Tür selbst hinter sich und stand da auf der Diele.

Nach einer Weile erschien eine Dame, stattlich, energisch: »Na, nun sagen Sie bloß –« Andreas faßte sofort Zutrauen zu ihr. Sie strahlte Menschlichkeit aus. Andreas war ein Künstler, fühlte: diese Frau weiß, was Leben ist und was einem armen Mann alles zustoßen kann. Er umklammerte seinen Geigenkasten, daß die Finger weiß wurden vom Drücken und erklärte ihr bündig, daß er den Geheimrat sprechen müsse.

»Menschenskind, Ihr kommt einfach und denkt, weil Ihr müßt, haben andre nichts Eiligeres zu tun, als aus dem Bette zu springen! Mein Mann braucht Ruhe heute. Das verstehn Sie doch wohl als Musiker?«

168 Andreas verstand das durchaus, aber er sagte: »Gnädige Frau, sprechen muß ich ihn doch.«

»Ja, warum denn?!«

»Ich, ich –«

»Sie brauchen Geld?«

Andreas fuhr auf: »Um Gotteswillen –«

»Na, ist schon gut. Ich brauche immer welches. Sie haben also etwas komponiert, wie?«

Andreas schüttelte den Kopf.

»Aber zum Donnerwetter, wo fehlt's denn dann! Haben Sie vielleicht jemanden umgebracht?«

Er empfand die Güte ihres Wesens, sah sie an und sagte leise: »Beinahe.«

Die Geheimrätin lächelte, schüttelte den Kopf: »Kinder, Kinder, ihr macht's euch schwer untereinander!« Sie hätte keine Frau sein müssen, um hier nicht eine ganz besonders törichte männliche Unternehmung zu wittern. Ja, so stehn sie dann da, einer wie der andre . . . Sie kannte doch ihren Mann. Die Güte selbst war er. Jeder Droschkenkutscher in Europa wußte Bescheid, wenn der berühmte Mann, dessen Bilder in allen Schaufenstern hingen, seinen Wagen benutzte – der Kutscher las den Preis von der Uhr ab, aber der Kapellmeister sagte: ›Sie müssen sich geirrt haben, mein Freund das ist zu wenig.‹ Die Geheimrätin verstand wohl was es heißt, sich zwischen einen Mann und die Welt stellen zu müssen. Zweifelnd betrachtete sie Andreas. Wie ein Musiker sieht er wirklich aus . . . wegen Geld kommt er nicht, wegen Musik nicht – da blieb nur ein Drittes übrig: lieber Gott, kamen sie etwa schon in ihren Liebesangelegenheiten zu ihm? Sie öffnete eine Tür: »Warten Sie da drin! Wenn er schläft – wecken kann ich ihn nicht. Sie 169 müssen sich gedulden. Und vielleicht können Sie ihn dann trotzdem nicht sprechen. Ich weiß es nicht. Hören Sie?«

Andreas blieb in der Nähe der Tür stehen. Die Mitte des Raumes nahm ein großer Konzertflügel ein. Ein Notenpult daneben. Stöße von Noten lagen auf dem Tisch, den Sesseln. Vielleicht ist es am besten, sagte sich Andreas, wenn ich die Stradivari gleich auspacke und bereit habe. Wenn er hereinkommt, lege ich sie ihm einfach in die Hand und sage: Hochverehrter Herr Geheimrat, ich bin heute zu Ihnen gekommen, weil – weil ich heiraten will – nein, weil, weil ich heiraten muß – nein, weil die Stradivari – o Gott . . . Andreas wurde befangen. Der Raum atmete viel Vornehmheit und Kühle. Solche Stimmung ist Ansprachen immer abträglich. Und nun gar einer Rede, wie sie Andreas vorhatte! Wieder rauschten die mächtigen Flügel im Kreise wild brausend über ihm. Andreas mußte der Agnes Bild beschwören, um seine Gedanken zu sammeln. Oh, Agnes! Die wüßte gleich, was hier zu sagen ist, kurz und klar: Herr Geheimrat, diese Stradivari gehört dem Museum . . .

Der bedrückte Geiger hatte viel Zeit zum Überlegen. Niemand ließ sich sehen. Gewiß schlief der Meister noch. Andreas war aufgeregt, die Saiten der Geige wurden feucht in seiner Hand. Er legte das Instrument auf den Flügel. Auf dem Pult standen Noten. Er strengte den Blick an – Geigennoten? Andreas trat näher. Das Große Violinkonzert von Beethoven! Ob er das kannte! Er las die Noten, bewegte summend Kopf und Hände. Ein Papierblatt verdeckte die andere Seite. Andreas rückte es weg, das Blatt fiel. Er hob es auf, las – das Gewandhausprogramm mit dem Datum des heutigen Tages. Sieh da, murmelte 170 Andreas, Schlitterwang spielt das Konzert. Ungeheure Musik, schwer zu geigen: »Da können die Leipziger ihre Ohren aufmachen, das kriegen sie selten zu hören«, sagte Andreas, blätterte, suchte – da war die Stelle. Leise schlug Andreas ein paar Elfenbeintasten an: gläserne Hämmerchen schlugen an silberne Glocken. Er schüttelte den Kopf: Gegeigt will das sein, wenn es klingen soll.

Andreas war längst nicht mehr in einem großen Erkerzimmer in der Thomasiusstraße – in diesem Beethovenkonzert drin war der Geiger. Seine Hand legte sich von selber an den Geigenhals. Hauchleise spielte er, nur andeutend die verzweifelt schwere Stelle. Aber sie gehorchte ihm! Andreas blätterte zurück, spielte den Anfang, begann noch einmal, hielt nun die vorgeschriebenen Tonstärken – er fing wieder an, wandte sich um und geigte nun endlich ohne Noten . . .

Hinter ihm öffnete sich die schwarzlackierte Flügeltür. Der Geheimrat stand im weißseidenen Schlafanzug auf der Schwelle: ›Da sind Sie ja, Schlitterwang‹, hatte er sagen wollen. Sehr erstaunt ruhten die Augen des Kapellmeisters auf der Erscheinung des fremden Geigers in seinem Musikzimmer. Er strich die dunkle Haarsträhne aus der Stirn. Seine Haltung war gelassen wie immer, nur den Kopf legte er jetzt ein wenig auf die Seite, nahm Platz in einem Sessel . . .

Andreas aber sah weiße Wolken durch den Himmel hoch über den Dächern ziehen und geigte seinen Abschied von der Stradivari – Glück und Unglück auf Erden waren wieder belanglos, ununterscheidbar geworden für ihn.

Langsam setzte er nach dem letzten Ton die Stradivari ab, aber noch hielt er reglos den Bogen in der Luft: um den 171 Klang des Schlusses nicht zu stören auf seinem Weg in den Anfang zurück . . .

»Mein Freund«, sprach es hinter ihm – ruhig, ein wenig fremdländisch das r rollend, das Wort ›Freund‹ in der Schwebe haltend, wie Andreas den Schlußton. Andreas wandte sich nicht um . . . ›Freund‹ klang das Echo der Musik. Wie tröstlich schön . . . Wird es noch einmal ›Freund‹ antworten aus seinem Abschiedslied? Nein – es sprach jetzt andere Worte hinter ihm: »Wo kommen Sie her?«

Jetzt senkte Andreas den Arm mit dem Geigenbogen, drehte den Kopf. Da saß der große Kapellmeister, strich seinen Bart, sah den Geiger nachdenklich von unten her an: »Woher?«

»Von – von Kranichstedt, Herr Geheimrat.«

»Ah, daher« – der Kapellmeister lächelte – »grüßen Sie die heilige Ildewig von mir, wenn Sie morgen zurückkommen. Ich dankte ihr für die Aushilfe –«

»Ich muß heute, jetzt gleich muß ich –«

»Heute spielen Sie im Gewandhaus – wie heißen Sie übrigens?«

Andreas starrte den Kapellmeister an.

»Sie kommen von der Ildewig, aber Sie haben doch hoffentlich einen Namen?«

»Ich, ich –«

»Es täte mir leid, wenn Sie nur ein Gespenstermusikant wären. Ohne Namen und Wirklichkeit.«

Andreas nannte seinen Namen.

Der Geheimrat stand auf und notierte den Namen mit Bleistift auf dem Programm: »Aus Kranichstedt. Soso. Aus Paris oder aus Rom oder sonst einem Ort mit 172 D-Zug-Haltestelle können Sie ja auch nicht kommen, sonst würde ich Sie kennen. Ja, es ist ganz in der Ordnung so: aus Kranichstedt kommt man, heißt irgendwie und spielt das Große Konzert. Deutschland, Deutschland . . . Ja«, sagte er kopfschüttelnd, griff ein paar Akkorde auf dem Flügel. Dann nahm er langsam Platz vor den Tasten: »Spielen Sie das Ganze noch einmal« – er hob die Hand. Andreas begann. Er glaubte nicht so gut zu geigen wie vorhin, als er seinen Abschied von der Stradivari zu spielen wähnte. Jetzt geigte er nicht für sich. Er fühlte wie der große Kapellmeister sein Spiel lenkte – oder war es so noch besser?

Der letzte Ton verklang. Bewegungslos stand Andreas an seiner Stelle im Erker, starrte den Geheimrat an.

»Sie sind ein Geiger, mein Freund« – der Kapellmeister mußte lächeln, denn Andreas sah ihn völlig verständnislos an, stand wirklich da wie verlorenes Leben, das plötzlich wieder das Strömen des Saftes fühlt – »hat Ihnen das noch keiner gesagt? Nun ja, die Ildewig bei euch in Kranichstedt redet nicht. Oder nur, wenn ein Künstler gehenkt werden soll, regt sie sich. Das kommt heute nicht mehr vor. Aber ich sehe, die Ildewig lebt noch in der Musik, steht mitten drin auf ihren schönen nackten Füßen: Sie werden mir zur guten Stunde geschickt. Dieser Schlitterwang hat in letzter Minute absagen müssen. Ich setze für das Konzert ein andres Stück aufs Programm, und ich wache auf aus dem Schlaf, und da steht jemand und spielt das richtige Konzert . . .«

»Ach, Herr Geheimrat, daß ich hier stehe, hat mit einer Heiligen leider gar nichts zu tun. Der Grund ist ein sehr natürlicher. Oder vielmehr ein sehr unnatürlicher –«

173 »Also – wie ich sagte.«

»Nein, nicht so. Diese Geige nämlich –«

»Ihre Geschichten, mein Freund, später. Heute ist Gewandhauskonzert, nicht wahr? Seien Sie eine halbe Stunde vorher im Direktionszimmer bitte.«

»Nur dies eine muß ich noch erklären –«

»Bitte, ich bin etwas älter als Sie. Ich muß jetzt ruhen. Wir sprechen uns nach dem Konzert. Sie speisen bei mir zu Abend bitte.«

»Aber ich habe doch gar keinen Frack mit!«

Ein unauffälliger Blick des Geheimrats glitt über die Erscheinung des Geigers. Er führte Andreas durch das Nebenzimmer, entnahm seinem Schreibtisch irgendein gefaltetes Papier: »Damit leiht man überall einen Frack. Nur einen Geiger, mein Freund, den bekommt man nicht überall. Es ist sehr gut so.«

Der Kapellmeister grüßte mit gemessen liebenswürdiger Dirigentengeste. –

Auf dem sauber mit Granitplatten belegten Bürgersteig kam Andreas allmählich zu sich. Er lachte. Er preßte den Geigenkasten an sich und lachte! Der Schutzmann an der Ecke sah ihn an und lachte auch. Von einem Dreirad stieg ein Bote, der lachte ebenfalls.

Wie freundliche Menschen wohnen in dieser Stadt, dachte Andreas. Das ist mir noch gar nicht so aufgefallen.

Wer den strahlenden Geiger ansah, machte ein freundliches Gesicht. Eau de la rêve . . .

An der Thomaskirche vor dem Bachdenkmal aber stand Andreas still, lachte nicht mehr, sondern sprach andächtig: »Es tagt, Agnes, Amen.« 174

 


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