Kurt Kluge
Die Zaubergeige
Kurt Kluge

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Wege im Dunkeln führen leichtlich in die Irre: Agnes ging doch lieber bis zur Scherbelschänke mit.

Die offene Gaststubentür zeigte ein Bild, das auf zwei 151 junge Mädchen nicht eben einladend wirkt in der Nacht: bis auf den letzten Stuhl saß der verqualmte Raum voll trinkender Männer, und diese Gäste vollführten beim Trinken nicht das übliche Getöse. Sie sprachen wenig, schienen zu grübeln. Einer hielt den Kopf in die Hand gestützt, ein andrer rieb den Kopf und meinte: »Merkwürdige Sache. Da kommt was aus einer Wand raus, tausend Jahre alt soll's sein, und unsereiner hat die Scherben davon.« – Agnes trat ängstlich zurück. Aber Hasel machte die Tür wieder auf und ging sicheren Schrittes, schlank und biegsam, durch die vernebelte große Gaststube, den struppigen Trinkern ruhig in die Gesichter blickend. Jeden einzelnen sah Hasel aufmerksam an.

Die hat Mut, dachte Agnes und wollte lieber draußen warten. Aber Hasel kam nicht sogleich wieder. Sie suche einen Herrn, sagte sie in sachlichem Geschäftston zu Frau Krumbiegel am Bierausschank. Die Wirtin kannte diesen Ton recht gut und fragte ebenso sachlich: »Wie sieht er 'n aus, meine Dame? Is 'r jung oder 'n bißchen älter vielleicht? 'n besserer Herr doch wohl?«

Die Gesamtheit der Scherbelgäste hatte sich inzwischen nach dem Mädchen aus der Fremde umgewandt. »Dunnerwetter«, murmelte einer der jüngeren Töpfermeister.

Hasel beschrieb den gesuchten Herrn, und Frau Krumbiegel rief: »Ach der! Herrjes, Sie meinen doch nicht etwa den Geiger?! Kennen Sie den vielleicht näher?«

»Ob er hier ist, meinte ich.«

»Eben habe ich ihn doch noch gesehn! Nu sowas. Aber sagen Sie mir nur Ihr'n Namen, meine Dame, un wenn ich 'n sehe –«

»Danke«, sagte Hasel und schritt nochmals aufmerksam 152 durch die Männerversammlung – saß Andreas unter den Trinkern? Die düsteren Kerle betrachtete sie ruhig wie die Löwenbändigerin die ihr vertrauten Untiere.

»Was will'n die hier?« fragten sich die Männer.

»Na Fräulein, suchen Sie mich?«

»So 'n ähnlichen«, sagte Hasel ruhig. –

Agnes war wartend vor das Haus getreten, ein paar Schritte gegangen: »Wer ist die nur?« fragte sie sich unruhig . . .

Hinter der Schänke drehten, sausten die Windmühlenflügel. Der Wind sang in den vier Flügeln. Gebannt sah Agnes, wie im wechselnden Rhythmus des Windes die Flügelarme über dem Dach hochhuschten, verschwanden. Da war der singende Ton wieder . . . Nicht der Wind, die Flügel klangen wohl so beim Drehen in ihren Lagern. Agnes ging ein paar Schritte näher – da sah sie plötzlich Andreas. Auf einem Steinhaufen saß der Mann und starrte zu den drehenden Flügeln hinauf – »Andreas!« rief Agnes.

Er hörte sie nicht rufen, die Flügel brausten zu mächtig, rauschten. Und jetzt sang es auch wieder in dem drehenden, schwebenden Flügelholz. Andreas summte den Ton mit, sang ihn, zupfte ihn an der Geige, die er im Schoß hielt, in der Terz zuweilen, in der Quinte. Wenn die Flügel schneller und crescendo in ihrem Kreise hinfegten, hielt der Geiger, reglos den Kopf gesenkt, den Mund halb geöffnet. Er lächelte unbewußt. Der Anblick eines Menschen, welcher Naturlaute in sich aufnimmt und darüber selbst im Unbewußten sich zu lösen scheint, erschreckte Agnes. »Andreas!« schrie sie.

Er lächelte weiter, drehte nur den Kopf ein wenig zu ihr 153 hin, erblickte sie, erschrak aber gar nicht vor dem plötzlichen Anblick des Mädchens. Andreas nickte ihr zu, als ob es ganz selbstverständlich wäre, daß Agnes und er jetzt die Windmusik anhörten, zur Nacht, in der Scherbengasse unter der Mühle.

»Was tust du hier im Dunkeln, Andreas?«

»Hörst du's, Agnes? Wenn die Flügel schneller drehn, steigt der Ton. Jetzt!« – er griff nach dem Bogen, stand auf – »da fällt er schon wieder. Der Rhythmus schreibt die Melodie.«

Die brausenden Flügel, der Nachtwind, Stradivarius und Andreas spielten der entsetzten Agnes ein wildes Quartett vor.

Unbewegt sah der Geiger dabei Agnes an, ohne zu wissen, daß er lächelte. Andreas geigte den Wind zu Musik und lächelte immer noch, als ihm schien, Agnes stehe – – zweimal in der dunklen Gasse. Einmal an der Hausecke stand das Mädchen und einmal mitten im Weg . . .

Der Wind saß scharf in den Flügeln, der Ton pfiff höher, die Grenzen zwischen den steigenden Klängen verwischten, und der Ton entwich auch Andreas' letzter Lage auf der Saite – der Geiger schloß die Augen: er begleitete in schweren dunklen Tönen, was da oben auf den unerreichbaren Tonwellen im Rohrflötenhauch des großen Pan durch die Nachtluft sang –

»Andreas!« rief Agnes.

»Andreas!« rief Hasel und faßte nach seinem Arm. Fast wäre ihm die Geige entglitten. Agnes hielt sie am Wirbelkasten fest, nahm ihm das Instrument aus der Hand – er stand zwischen den beiden Mädchen. Die Mühlenflügel brausten. Andreas spürte den Duft Hasels, empfand den 154 Druck ihrer Hand. Er fühlte Agnes, die seinen Arm an sich preßte – wie ihr Herz unter der Brust klopfte!

»Du lebst doch!« rief Hasel und sah ihn strahlend an.

Agnes sah die Geige an.

»Halte sie gut!« sagte Andreas. Der Nachtwind wehte ihm ein paar ihrer Haare ins Gesicht. Andreas hielt sie mit den Zähnen fest. Unverwandt sah Agnes die Geige an, drehte sie so, daß das Mondlicht voll auf das schimmernde Holz fiel: »Was ist das für eine Geige, Andreas?«

»Erkennst du sie, Agnes? Faß das Holz sachte an! Stradivarius hat sie gebaut. Zweihundert Jahre vor meinem Tod. Ganz vorsichtig mußt du sie angreifen.«

»Du redest irre« – sie starrte die Geige an – »Andreas, das ist nicht Lichtermarks Geige«, sagte Agnes stockend, hielt sie von sich ab und sah das Mondlicht auf ihr spiegeln.

»Du hast Fieber, Andreas«, sagte Hasel, »du zitterst.«

»Das kommt von dem Flügelschlag über uns. Das Rondo im Wind – gib die Geige her, Agnes! Ich will dir's geigen.«

Agnes machte sich los aus seinem Arm: »Wo hast du die Geige her, Andreas?«

»Aus dem Bernstein.«

Agnes sah ihn fest aus klaren Augen an: »Sag's genau, woher« – sie nahm seine Hand – »Du hast kein Fieber, Andreas. Warum redest du so?«

Andreas sah sie an, lange. Dann nickte er: »Und du hast keine gläsernen Augen, Agnes. Du hast lebendige Augen. Darum fragst du so« – er zog ein Depeschenblatt aus der Tasche – »Lies! Becker liest das auch um diese Stunde. Hoffentlich hat der auch lebendige Augen.«

155 Das Blatt knitterte in Agnes' Hand . . . »Allmächtiger Gott!« sagte sie.

»Gehört die Geige nicht dir?« fragte Hasel leise. Sie sah sich um, ob ein Fremder in der Nähe wäre und lauschen könnte.

Agnes drehte das beschriebene Blatt in der Hand: »Seit wann hast du die Geige?«

»Den zweiten Tag.«

»Dann hast du zwei Tage zu spät geschrieben« – sie ließ das Blatt sinken – »armer Andreas.«

»Versteck sie doch!« flüsterte Hasel.

Agnes packte ihn an der Hand: »Die Nacht noch fährst du nach Leipzig und bringst die Geige an ihren Ort.«

Hasels Augen leuchteten auf: »Ja, Andreas. Nach Leipzig. Jetzt gleich. Komm! Ich trage sie dir.« Sie wollte Agnes die Geige aus der Hand nehmen, aber Agnes legte die Stradivari in den Kasten: »Dann trage ich sie selber hin.«

»Was geht Sie das an?« rief Hasel.

»Was wissen Sie von einer solchen Geige« – Agnes drückte die Schlösser des Kastens zu.

»Viel nicht. Aber von den Leuten weiß ich mehr wie Sie, Fräulein von Kranichstedt! Den Mann ist das Pack gar nicht wert. Andreas« – sie redete leise weiter – »ich verstecke die Geige für dich. Komm. Rasch!«

Die Windmühlenflügel jagten sich im Kreise. Andreas stand reglos.

Hasel und Agnes rangen um eine Geige: Denn wer die Geige hat, der hat den Mann, dachte Hasel.

Wer diese Geige hat, der hat den Tod, dachte Agnes.

Hasel kannte die Welt, kannte sie leider viel zu gut 156 für ihre Jahre, und ihre Jugend trotzte dem Unrecht der Welt, die sie begriff: wir wollen ihr unser Glück aus dem Rachen reißen!

Aber Agnes kannte den Geiger Andreas – von der Welt draußen wußte sie wenig, von Andreas' Herz wußte sie mehr als alle Welt. Und jetzt verstand sie auch, daß die Fremde gefragt hatte, ob er noch lebe.

Über den drei Menschen brausten die Flügel ihren ewigen Weg durch die sausende Luft: den Weg im Kreise in sich selber zurück. Dem Geiger hatten die dunklen Mächte seines Wesens und seiner Musik die Flügel abgerissen –

»Andreas!« Agnes packte seine Hand so fest sie konnte.

»Andreas!« rief Hasel, wollte ihn zu sich ziehen – da hob im ungeheuren Schattenstreif der Marienkirche die Turmuhr aus und schlug hallend, das Sausen der Windmühlenflügel mächtig übertönend, die elfte Stunde.

»Herr Schmalfuß«, sagte Hasel erschrocken, »der wartet schon. Mein Zug geht. Ich muß fort. Andreas, habe keine Angst. Ich helfe dir. Laß dir nichts einreden. Es geht ganz anders zu unter den Leuten. Du kommst zu mir. Du mußt ja nun kommen, Andreas. Jawohl, Fräulein Kranichstedt, ich kann jetzt ruhig gehn. Ihr feinen Leute könnt ihm allzusammen nicht mehr helfen. Er kommt von selber zu mir. Ich warte auf dich, Andreas. Klopf an den Fensterladen. Wann's auch ist.«

Agnes hatte beim Stundenschlag erschrocken an ihren Vater gedacht – »Es wird spät.« Jetzt schlug auch die Uhr auf dem Nikolaiturm. Hasel war fort. Sie stand allein mit Andreas in der Gasse.

Er führte Agnes an den grasbewachsenen Hang, der von 157 der anderen Seite der Gasse aufstieg zur Mühle. Die Musik ihrer Flügel sang ungestört von Uhr und Glocke wieder allein das alte Nachtlied, und Andreas erzählte, was sich zugetragen hatte seit dem Unglück im Künstlerzimmer des Lammes.

»Ich glaube dir, was du erzählt hast, Andreas. Aber niemand sonst kann dir's glauben. Darf's auch nicht glauben: solche Wahrheit steht in keinem Gerichtsbuch, weil dann die Welt nicht mehr weiterginge« – sie sah ihn an mit feuchten Augen: »Einer gegen die ganze Welt, Andreas –«

»Zwei Menschen gegen die Welt, Agnes« – er hatte den Kopf in ihren Schoß gelegt.

Sie beugte sich zu ihm, faßte seinen Kopf mit beiden Händen – »Vielleicht sind zwei mehr als die Welt. Höre auf mit Träumen, Andreas! Bringe deine Sachen in Ordnung! Was auch werden mag, wenn du nur leben bleiben willst! Dann werden sie eines Tages kommen und dir glauben müssen. Wenn ich darüber nachdenke, wie das hergegangen ist mit dir, im Museum nachts, im Keller dort, dann auf der Bank im Park und gestern in der Nische am Rathaus die Musik und was dann noch geschehen ist – Andreas, ich glaube, die Wahrheit ist auch nicht einfach da und fertig aus einem Buch abzulesen. Die wird auch – wie alles andre langsam wird. Du mußt wahr machen, was die Menschen nicht für wahr nehmen wollen. Komm! Steh auf! Du mußt mit der Geige nach Leipzig.«

»Der nächste Zug geht nun erst morgen früh.«

»Mein Vater ängstigt sich. Ich will nach Hause.«

»Ich auch, Agnes« – er umfing sie.

158 Sie wollte jäh aufstehn: »Wir haben kein Haus«, flüsterte sie.

Agnes fühlte, wie seine Hände sie langsam losließen. Andreas' Gesicht war im Schatten nicht zu erkennen. Er richtete sich auf. Sie sah ihn nach dem Geigenkasten greifen: »Wo willst du hin, Andreas?«

Er schwieg erst, dann sagte er: »Unterkunft suchen gehen. Für die Geige und für mich. Wohin dachtest du sonst?«

Agnes griff nach seinem Rock, zog Andreas heran zu sich: »Unterkunft suchen in der Not. Das dachte ich auch«, sagte sie leise und zog ihn herab zu sich.

»Agnes!« Er küßte sie.

Langsam ließ sie sich zurücksinken in seinen Armen.

Die Stradivari blieb in ihrem Kasten, hielt sich ganz still. Aber die Flügel über ihnen sangen mit dem Winde eine Serenade, die nachmals sehr berühmt wurde in der Welt und widerklang in mancher Hochzeitsnacht.

 


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