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Zweiunddreißigstes Kapitel: Tante Mathilde

Am letzten Sonntag, den Nelli vorläufig in Hamburg verlebte, hatte sie Lotte für den ganzen Nachmittag »losgeeist«, wie sie sagte. Frau Ohlstedt fand zwar, daß solche Wünsche in letzter Zeit reichlich oft laut wurden, aber sie mochte sich doch nicht sperrig zeigen. Da sie gerechterweise von ihrem Fräulein nicht behaupten konnte, daß es um eigenen Verkehrs willen irgend etwas im Hause versäumte oder sich nach einem gehabten Vergnügen zerstreut oder etwa nur gleichgültig gegen die Kinder zeigte, so meinte Frau Ohlstedt wohl gar in ihrem Sinn, es habe auch sein Gutes und Bequemes, wenn andere Leute für eine kleine Abwechslung im Leben ihres Fräuleins sorgten. Sonst mußte ja sie selber es tun, denn ihre Schwägerin, die Senatorin Fedders, gab ihr öfters zu verstehen, daß man einem so jungen Mädchen manchmal etwas bieten müßte, was seinen Jahren und Interessen entspräche. Ach ja, die Senatorin war eben so schrecklich gutmütig! Aber das hatte sie doch wohl vergessen, wie sie selber es in den ersten Jahren hielt, als Mademoiselle zu ihren kleinen Kindern Henry und Alice gekommen war.

»Ja, da hatte ich eben noch keine große Tochter wie jetzt du,« hatte die Senatorin auf solche Bemerkungen geantwortet. »Laß doch deine bald sechzehnjährige Gudrun einmal für die kleinen Geschwister sorgen und euch den Tee machen; das ist sehr gesund.«

»Ach, die heutigen Backfische,« seufzte Frau Ohlstedt darauf, »die haben ja nie Zeit! Das kennst du nun wieder nicht, liebe Schwägerin; zur Zeit deiner Alice machte man in der ersten Klasse nicht annähernd solche Ansprüche, wie sie an Gudrun gestellt werden. Sie ist ja nun wirklich eine sehr eifrige Schülerin und kommt fix vorwärts, besonders seit Fräulein im Hause ist.«

»Siehst du! Du kannst ja dem jungen Mädchen gar nicht dankbar genug sein. Euren Georges fördert sie ja auch, wie ich höre. In diesem Punkt leistet sie also um ein Beträchtliches mehr als unsere von früher her beibehaltenen Mademoiselles, die außer ihrer Sprache und der uns so wertvollen häuslichen Gewandtheit nicht immer allzu viel aufzuweisen haben, abgesehen von der unsrigen, die ja eine wahre Perle ist. Aber glaube mir, die Lotte Matersen kann das auch werden! Also haltet sie warm und sorgt, daß sie sich heimisch und wohl bei euch fühlt!«

An diese Rede dachte Frau Ohlstedt noch öfter und glaubte auch wirklich den besten Willen zu haben, es dem Fräulein heimisch zu machen. Nur daß sie nicht recht die Gabe hierzu besah, denn ihre Natur war nun einmal kühl und etwas eng; über den Kreis ihrer Familie hinaus sprach ihr Herz selten.

So tat sie in dieser Zeit, da Leonore Menkhausen in Hamburg war, ihr Möglichstes damit, das; sie die Freundinnen so viel zusammenkommen ließ, wenn es ihr auch im stillen nicht ganz recht und begreiflich war, daß Elinor, dies sonderbare Mädchen, nach ihrer Gudrun keinen Deut zu fragen schien, immer nur »Fräuleins« wegen kam, die ja auch von Elinors Vater, der in diesen Kreisen im Grunde der Angesehenste war, noch »Lotte« und »Du« genannt wurde. Sonderbar!

An diesem schönen Sonntag – man war allmählich in den Mai hineingekommen – wanderten die beiden Freundinnen also frühlich zusammen an der Elbe entlang, da, wo der stolze Strom sich stiller durch Wiesen windet, wo die kleinen bescheideneren Landhäuser stehen, nach denen Lotte schon öfter von fern Verlangen getragen hatte.

Nun sollte es zu Tante Mathilde gehen. Das hatte Nelli sich fest in den Kopf gesetzt, und wenn Lotte auch etwas von der alten Schüchternheit zurückkehren fühlte, besonders indem sie sich vorstellte, daß Frau Ohlstedt diesen Besuch zum mindesten sehr unnötig finden würde, so vergaß sie dies doch bald, als sie das kleine weiße Haus erreicht hatten. Vor dessen Tür standen zwei Apfelbäume über und über in Blüte, und in dessen kleinem hellem Flur trat ihnen wirklich eine solche schlanke, feine Frau entgegen, wie Lotte sich ausgemalt hatte. Sie trug ein schwarzes Kleid mit schmalem weißen Kragen, und ihr dunkles Haar legte sich in langen schlichten Scheiteln um das schmale weiße Gesicht, aus dem ein paar tiefblaue Augen seelenvoll und gütig blickten.

Lotte war gleich ganz bezaubert und meinte, daß sie solche Erscheinung allerdings noch in ganz Hamburg nicht getroffen habe. Als Frau Menkhausen nun erst sprach, mit tiefer sanfter Altstimme und warmer Betonung ihrer Fragen, die sie an die unbekannte Freundin ihrer Nichte richtete, da ging dieser vollends das Herz auf; sie sagte im ersten Augenblick, als sie mit Nelli allein war: »O Nell, ich danke dir, daß du mich hierher gebracht hast!«

»Nicht wahr?« entgegnete jene. »Aber zugleich schelte ich mich, daß es nicht früher geschehen ist.«

Jetzt, kam Tante Mathilde zurück und sagte heiter: »Heute am Sonntag habe ich natürlich mein Mädchen ausgehen lassen; das gibt Gelegenheit, daß wir es uns recht gemütlich machen – ich koche den Kaffee hier.«

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Sie dürfen es nicht völlig verlernen, sich auch mal als Gast zu fühlen.

Sie trug ein blankgeputztes Kohlenfaß mit roter Glut. Bald summte der Kessel, und in der kleinen Maschine von braunglänzendem Ton entwickelte sich der duftende Trank.

Lotte war es natürlich so, als müßte sie aufspringen und der Dame des Hauses diese kleine Tätigkeit abnehmen; aber Frau Menkhausen drückte sie sachte in den Stuhl zurück und sagte freundlich: »Nein, nein, mein liebes Fräulein Matersen! Die ganze Woche dienen Sie anderen – Sie dürfen es nicht völlig verlernen, sich auch mal als Gast zu fühlen.«

Damit goß sie dem jungen Mädchen ein und fuhr nun zu Nelli fort: »Du, mein Kind, könntest uns die kleinen braunen

Kuchen aus dem Schrank holen; du weißt vielleicht noch, wo ich immer den Blechlasten stehen hatte.«

»Natürlich, Tante Mathilde! Ist immer noch dieselbe Sorte darin, die ich als Kind so gern mochte?«

»Immer dieselbe, Nell! Albert würde es zu sehr vermissen, wenn er sie nicht hin und wieder zum Knabbern fände. Mögen Sie derlei auch, Fräulein Matersen?«

»O gewiß, es ist Ingwer dran, nicht wahr?« und beinahe hätte sie hinzugesetzt: »Das Gewürz, das bei uns in Hamburg so beliebt ist.«

Es war aber Nelli, die dies aussprach und daran erinnerte, daß es ihr als Kind ein besonderer Genuß war, wenn sie diesen etwas scharfen Geschmack auch einmal zu kosten bekam. Nell hatte überhaupt heute große Neigung vom »früher« zu sprechen und bat Tante Mathilde, doch auch Lotte das ganze liebe Häuschen zu zeigen. So ging man denn von einem Raum in den anderen, und Lotte staunte, einmal eine ganz andere Einrichtung zu finden als in all den Hamburger Häusern, die sie bisher gesehen hatte.

»Ja, bei uns ist es einfach,« sagte Frau Mathilde Menkhausen, als sie Lottes Blick auffing, mit dem sie sich in einem kleinen, ganz mit Büchern, alten Stichen und den allereinfachsten wenigen Möbeln ausgestatteten Raum umsah. »Dies hier ist eine Erinnerung an mein Zuhause – Vaters Studierzimmer, das ich zum Erbe bekam, und das mein Mann mir so gern wieder aufstellte, wie er auch dies kleine Haus damals gleich kaufte, damit ich, die einfach Gewöhnte, mich in dem großen Hamburg besser einleben könnte. Nun hängt auch mein Sohn so an dem Häuschen, daß wir noch immer hier wohnen, obwohl er in des Onkels Geschäft einen tüchtigen Weg zu machen hat, der ihm täglich viel Zeit nimmt.«

»Viel ist er wohl überhaupt nicht hier draußen bei dir?« fragte Nelli, aber Tante Mathilde sagte: »O doch, mehr als manche anderen Söhne! Heute freilich ist er mit seinem Ruderklub unterwegs. Aber das muß sein; solche Tagesausflüge bilden ein gesundes Gegengewicht zu den vielen Arbeitstunden im Kontor. Hier draußen sitzt er auch noch viel an Vaters Schreibtisch oder – hier.«

Aus dem kleinen Studierzimmer waren sie in die Gartenstube getreten, die größte im Hause, die ganz besonders freundlich und hübsch war. Hier stand auch das Klavier. Nun kam man natürlich auf Musik zu sprechen, und Nelli erzählte: »Tante Mathilde ist nämlich hoch musikalisch, Lotti – das ist was für dich!«

Dann holte sie einen Brief aus der Tasche und sagte: »Hier beim Klavier fällt mir ein, daß ich euch noch einen Brief von Amy Rodberts zeigen wollte. Tante Mathilde, du hast sie doch auch bei uns kennen gelernt und singen hören?«

»Gewiß; ich erinnere mich deutlich ihrer schönen, glänzenden Stimme.«

»Die dir trotzdem nicht zu Herzen ging. Das war ja die allgemeine Klage – auch damals in Grünweide – weißt du noch, Lotte? Alle waren entzückt von Mariannes kleiner Stimme und blieben kalt bei den Prachttönen der Amerikanerin.«

»Nun also, was schreibt sie?« unterbrach Tante Mathilde. »Kommt sie in der Musik vorwärts?«

Leonore las: »Man sagt immer, alle Deutschen sind so sehr groß im Briefschreiben; ich finde nicht, daß Sie, liebe Elinor, über mich treffen. Ich habe Ihnen schon viel mehr erzählt von Leipzig und meine Musik, als Sie von Ihre Gänse und Würste.«

Hier lachten alle und meinten, daß die Amerikanerin davon wohl wenig Genuß haben würde; dann las Leonore weiter: »Die deutsche Musik! O ja, leicht ist es nicht, wie sie es hier in Leipzig damit machen, aber meine Stimme ist schön, das sagen alle, und auch mein Ohr, und das ist die Hauptsache. Aber, obgleich sonst alle Leute sagen, ich spreche so gut Deutsch, so haben die Lehrer doch immer zu tadeln; manche Wörter gefallen gar nicht. So kann ich nicht so sagen, wie sie wollen: Waldeinsamkeit. Da ist ein Vers in ein Lied: ›Und über mir rauscht die schöne Wald–einsamkeit‹; da macht mir der Professor immer nach ›rauschti Walteinsamkeit‹. Es ist geradezu abscheulich!«

Hier lächelte Tante Mathilde, und sagte: »Das sind wohl Schwierigkeiten für fremde Zungen, und außerdem – sie wird es schwerlich so sagen und betonen, wie wir es nach unserer Empfindung tun, denn die Amerikanerin hat nicht dieses Gefühl für Waldeinsamkeit; kennt sie überhaupt nicht, wie wir Deutschen.«

»Das habe ich auch damals gedacht,« bemerkte Lotte. »Es ist nicht so einfach, singen zu wollen ›wie eine Deutsche‹, wenn man doch keine ist.«

»Tante Mathilde,« bat jetzt Nelli, »sing du doch einmal! Ich hörte dich so lange nicht!«

»Ach, Kind, ich bin alt – ich lasse mich nicht mehr gern hören – nur vor Albert manchmal, wenn er sehr bittet.«

»Und wenn wir sehr bitten, tust du es auch! Lotte muß dich hören und du auch sie!«

»Oh, ich kann doch gar nichts,« wehrte Lotte, aber Frau Mathilde schlug vor: »Wir singen zuerst einmal zweistimmig; dann fassen wir vielleicht Mut – ich, die ich eigentlich aufgehört habe zu singen, und Sie, die Sie erst anfangen sollen.«

So geschah es, und in dem kleinen Mendelssohnschen Sonntagslied vereinten sich diese beiden Stimmen, so verschiedenartig und doch von demselben echt musikalischen Geist beseelt.

»Das wollen wir öfter tun – so oft Sie zu mir herauskommen können,« sagte Tante Mathilde freundlich.

Lotte war von dieser Aussicht entzückt, denn sie merkte, daß sie von dem geschulten Gesang der Älteren viel lernen könnte. Tante Mathilde sang dann auch das Lied von der »schönen Waldeinsamkeit«, und die jungen Mädchen dachten wieder an Amy, der noch so viel fehlte, um ihre große, glänzende Gabe wirklich schön verwerten zu können.

»Aber sie ist klug,« sagte Nelli, »und sehr zäh; ich wette, sie singt doch noch in Hamburg einmal im Konzert.«

Sie waren jetzt vom Klavier weg und in den Garten getreten, der nur ein bescheidenes Fleckchen, aber in der Baumblüte von besonderem Reiz war. Lotte beobachtete eine Amsel in den Apfelbäumen und horchte auf ihre Stimme, die so süß und dringend durch den hellen Abend schlug. Ihr war lieblich zumute, halb heimatlich, halb sehnsuchtsvoll; das große Hamburger Haus, das immer noch die kühle Fremde vorstellte, schien für heute vergessen.

Noch oft dachte Lotte an diesen Nachmittag zurück. Als dann Nelli mit ihrem Vater nach Karlsbad abgereist war und sie sich einsamer als je fühlte, hätte sie der freundlichen Aufforderung von Frau Mathilde Menkhausen gern Folge geleistet und wäre einmal wieder zu dem freundlichen weißen Häuschen an der Elbe hinausgewandert. Aber sie wagte nicht, im Ohlstedtschen Hause davon zu sprechen.

Da kam eines Tages ein kleiner Brief von Nellis Tante, worin diese schrieb, Nell habe es ihr auf die Seele gebunden, sich um ihre liebe Lotte zu kümmern; auch aus eigenem Antrieb spreche sie gern den Wunsch aus, das junge Mädchen möge ihr doch einmal wieder einen freien Nachmittag schenken.

»Wenn ich als stillebende ältere Frau Ihnen auch nichts Besonderes zu bieten habe, so meine ich doch, wir haben uns neulich recht gut verstanden und werden es beim zweiten Male noch besser tun, wenn Sie mir noch mehr von Ihrer Heimat und Ihren Lieben erzählt haben. Auch wollen wir ja zusammen singen!«

Oh, wie drang dieser Ruf Lotte geradewegs ins Herz! So, das; sie den Mut faßte, sofort mit dem Brief zu Frau Ohlstedt zu gehen und die Bitte, jenen Besuch machen zu dürfen, gleich anzubringen. Zufällig traf es sich, daß gerade Frau Senator Fedders bei ihrer Schwägerin und sofort bereit war, Lottes Wunsch zu unterstützen.

»Ja, liebes Fräulein,« sagte sie in ihrer freundlichen Weise, »das kann ich mir wohl denken, daß Sie sich da draußen in dem kleinen Hause sehr wohl fühlten. Tante Mathilde, wie alle Kinder unseres Kreises sie nennen, ist auch eine besonders liebe und feine Frau, die gut die Jugend versteht, obwohl sie so einsam lebt. Da nehmen Sie nur Ihren ersten freien Tag, und benutzen Sie dies schöne Maiwetter! Meine Jugend hat eben jetzt auch allerlei vor. Henry und Alice wollen mit der neuen kleinen Jacht eine weitere Fahrt unternehmen, und Albert Menkhausen wird wohl auch mittun.«

»Da ist die gute Frau Mathilde ja sowieso allein,« sagte Frau Ohlstedt rasch, »da gehen Sie nur morgen, Fräulein, und leisten Sie ihr Gesellschaft!«

Froh sprach Lotte ihren Dank aus, und der nächste Nachmittag fand sie schon frühzeitig unterwegs. Gerade in diesen Tagen hatte die Mutter ihr ein Kofferchen mit Sommerkleidern geschickt, da der Mai sich so warm und schön anließ. So zog Lotte schnell entschlossen das weiße Kleid an, das höchst einfach, aber so frisch und niedlich war, daß sie richtig ein mädchenhaftes Vergnügen empfand, sich damit zu schmücken.

»In Gesellschaft komme ich ja doch nicht,« dachte sie dabei, »und schließlich macht es auch weniger Spaß, sich für einen großen Kreis von fremden Menschen zu putzen, als für eine einzige liebe Frau, die einen mit mütterlichen Augen ansieht!«

Sie hatte recht; sowie sie eingetreten und von Frau Menkhausen freundlich überrascht empfangen war, sagte diese auch: »Wie niedlich haben Sie sich gemacht, mir alten Frau zu Ehren! Das rechne ich Ihnen hoch an. Blühende Bäume und junge Mädchen in weißen Kleidern gehören zusammen. Nun wollen wir uns auch einen rechten Frühlingstag machen und nur von schönen lieben Dingen sprechen.«

Damit faßte die liebe Frau des Mädchens Hand und zog es in den Garten. Jetzt waren es schon die Kastanien, die in rosiger Pracht standen.

»Haben Sie mir denn auch das Versprochene mitgebracht?«

Glücklich faßte Lotte in die Tasche und brachte ein Päckchen Photographien zum Vorschein. Der Mutter ernste, von leisem Sorgenhauch beschattete Züge, eine Aufnahme von Grünweide mit dem vornehmen Bau des alten Herrenhauses und dem bescheidenen fliederumbuschten Verwalterhäuschen, und vor allem das neue Bild des glücklichen Brautpaares, das neulich hier in Hamburg aufgenommen wurde. Jedes einzelne sah sie aufmerksam an, die seine Menschenkennerin, die genau wußte, daß sie dem jungen Mädchen an ihrer Seite keine größere Freude machen konnte.

»Ich vermag mich ja etwas in Ihr Familienleben hineinzuversetzen,« sagte sie, »weil ich ebenso wie Ihre Mutter einen einzigen Sohn habe, der mir viel ersetzen muß – aber leider keine so liebe Tochter.«

Als sie so plaudernd den Gartensteig entlang gingen, klinkte das Gitterpförtchen, und Albert Menkhausen stand vor seiner überraschten Mutter.

»Du bist es, Albert?« fragte sie fast bestürzt. »Ist aus eurer Probefahrt nichts geworden?«

»O doch, Mutter, die anderen sind unterwegs; aber bei uns im Geschäft gab es heute eine überraschende Mehrarbeit durch unerwartete Nachrichten aus Amerika – da mußte ich zurückbleiben. Wir haben stramm gearbeitet, bis eben jetzt. Ich habe kaum ordentlich gefrühstückt, und nun hat auch meine Mutter wahrscheinlich gar nichts mehr für mich.«

Lächelnd legte er den Arm um sie, und diese versicherte schnell: »Das wollen wir schon machen! Ich freue mich, daß du es darauf ankommen ließest und dich nicht erst in der Stadt satt gegessen hast. Hier draußen ist heute so recht voller Frühling.«

»Das sehe ich,« erwiderte Albert freundlich und wandte sich an Lotte. »Es freut mich, Fräulein Matersen, daß Sie gerade unsere blühenden Bäume kennen lernen.«

»Vor drei Wochen sah ich schon die Apfelbäume,« entgegnete sie lebhaft, »die werden von den Amseln so gern besucht. Nirgends, dünkt mich, singen sie schöner als in den rosa Apfelblüten.«

»Diese Bemerkung,« sagte Albert, »zeigt wieder recht, daß Sie auf das Land, in die Natur gehören, Fräulein Matersen. Nicht wahr, die große Stadt kann Sie wenig fesseln?«

»Ich weiß nicht,« versetzte Lotte zögernd. »Vieles finde ich doch sehr schön und anziehend.«

»Wenn man nur mehr dazu käme –« Albert nickte gutmütig – »aber wissen Sie, unsere Elbe hier draußen, zwischen den abendlich beleuchteten Wiesen, das ist schön für jedermann! Wir wollen ein Boot nehmen, und ich rudere Sie und Mutter ein Stückchen den Strom entlang.«

»Fein,« rief Lotte entzückt, »aber zuerst müssen Sie essen, Herr Menkhausen; Ihre Mutter macht am Küchenfenster schon Zeichen, Sie sollen kommen.«

»Richtig – eine Mutter kann für ihren Sohn, wenn sie ihn auch weit weg geglaubt hat, zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas Gutes herbeizaubern. Und Sie, Fräulein Matersen, beweisen mit Ihrer freundlichen Mahnung auch, daß Sie gewohnt sind, ständig für andere zu sorgen.«

»Ach, in die Küche komme ich fast nie,« sagte Lotte verlegen, worauf Albert einfiel: »Das ist auch bei der allgemeinen Fürsorge nicht unbedingt nötig; in der Küche sind andere Leute. Was aber auf dem Fräulein oder der Mademoiselle alles liegt, das weiß ich ziemlich genau! Und ich meine –« er zögerte, und Lotte sah ihn fragend an – »ich finde, Sie sind viel zu jung für diese Stelle im Ohlstedtschen Hause.«

»Denken Sie, daß ich es nicht leisten kann?« fragte Lotte erschrocken, aber sein stiller Blick deutete ganz andere Gedanken an.

Nun klang ein Ruf vom Hause her, und Albert eilte im Laufschritt an das offene Fenster im Untergeschoß. Er schaute in die Küche und rief: »Am liebsten äße ich hier, Mutter, ohne jede Umstände, damit wir keine Zeit verlieren, und deine Küche ist so gemütlich!«

»So komm,« forderte die Mutter lachend auf, und schob einen Stuhl an den schneeweißen Küchentisch. »Was hast du denn noch vor, mein Junge?«

»Rudern will ich euch! Ich habe im Vorbeigehen schon ein Boot bestellt, ohne zu ahnen, daß du einen Gast hattest. Nun paßt es ja erst recht schön, daß wir zu dritt fahren können.«

In Geschwindigkeit und mit bestem Hunger verzehrte Albert ein Fleischgericht; bald darauf saßen sie zu dreien im Boot und glitten in das helle Abendgold hinein.

»Ein hübscher Ersatz für meine aufgegebene Jachtfahrt,« sagte Albert, gewandt das Ruder führend, und auch Lotte dachte still, daß sie so etwas Schönes nicht von diesem Tage erwartet hätte. Als sie dann beim weißen Häuschen wieder anlangten, ruhte Albert nicht, bis seine Mutter sich anschickte, ein wenig Musik zu machen, und auch Lotte dazu heranzog. Auch suchte er selbst Noten zum vierhändigen Spiel heraus und setzte sich zur Mutter ans Klavier, um zu Lottes Überraschung den Diskant einer Haydnschen Sinfonie zu spielen, mit hübschem Anschlag und Ausdruck.

»Die Fertigkeit ist ja sehr mangelhaft,« sagte er wie entschuldigend. »Man kommt im Geschäftsleben selten dazu; außerdem bietet die Großstadt so viel Bedeutendes an Musik, daß einem das eigene Spiel allzu gering deucht.«

»So ging es mir ja auch, mein Junge,« sagte Frau Mathilde. »Als ich zuerst nach Hamburg kam und dein Vater mich in die, großen Konzertsäle führte, gab ich in Gedanken jedes eigene Fortüben auf, weil ich dachte, es könnte meinem Mann niemals genügen.«

»Ach, wie schade,« warf Lotte bescheiden ein, und Frau Mathilde erzählte weiter: »Ja, so sagte auch mein Vater, der immer viel Freude am Zusammenspiel mit mir gehabt hatte, wie an meinem kunstlosen Gesang. Öfter äußerte er: ›Kinder, daß ihr mir die gute alte Hausmusik immer in Ehren haltet! Die wird heutzutage viel zu wenig gepflegt und macht doch eigentlich das Alltagsleben so reich. Mir können ja nicht alle Künstler sein; aber es ist wahrlich ganz verkehrt, wenn man seine eigene bescheidene Gabe vernachlässigt, weil andere mehr können, und man die höchste Stufe nicht erreicht.‹«

»Ich höre Großpapa sprechen,« sagte Albert sinnend, und seine Mutter fuhr fort: »Glücklicherweise verstand auch dein Vater diese Ansichten und unterstützte sie, indem er mir immer wieder zeigte, wie gern er meine ungeschulte Stimme hörte. Dann aber ließ er mir noch guten Unterricht bei tüchtigen Lehrern geben, so daß ich eigentlich als Frau am meisten gelernt habe. Mein einziger kleiner Junge hinderte mich nicht« – dabei zeigte sie schelmisch auf den großen Albert – »sondern war selbst ganz versessen auf Musik. Großpapa aber wunderte sich nun doch beinahe und fragte ängstlich: ›Versäumst du auch nichts darüber im Hause, meine Deern, wenn du noch so übst, wie ein junges Mädchen?‹ Aber mein Mann versicherte ihm, so wolle er es gerade haben. Er mochte schon damals abends nicht mehr viel ausgehen und sehnte sich gleichwohl, anderes zu hören als immer vom Geschäft.«

»Ja, ja, so war der Vater,« sagte wieder Albert. »Ich merkte es wohl schon als Junge, daß er anders war als die meisten Herren, die ich kannte. ›Zu wenig Kaufmann,‹ sagte ja Onkel öfter, und ich hörte eine Art Tadel heraus, den ich doch nicht begriff, denn ich sah Papa immer viel arbeiten, nach meiner Meinung. Aber solche Reichtümer erwarb er freilich nicht wie Onkel.«

»Sein Sinn stand nicht danach,« erwiderte Frau Mathilde, »sonst wäre er auch nicht darauf verfallen, sich eine unbemittelte Gymnasiallehrertochter zur Frau zu nehmen.«

»Er suchte eben nicht Glanz und große Stellung, sondern das stille Glück,« sagte Albert liebevoll und streichelte der Mutter schlanke Hand.

Lotte hörte still zu und fühlte sich unbeschreiblich wohl bei diesen Gesprächen, die ihr diese Menschen so nahe brachten. Beim Abendessen ließ man sie dann selber mehr zu Wort kommen und freute sich über den Takt, mit dem Lotte auf die Fragen über ihr Leben und ihre Tätigkeit einging, ohne, wie man wohl sagt, »aus dem Hause zu schwatzen«. Zurückhaltend mit ihrem Urteil über die Menschen selbst, erkannte sie freudig alles Gute an, das sie erfuhr, und verschwieg, was ihr schwer erschien.

Als Mutter und Sohn später am Abend allein zusammenfassen, fragte Albert ziemlich unvermittelt: »Nun, Mutter, wie gefällt dir Lotte Matersen?«

»Ich finde sie sehr anziehend,« entgegnete Frau Mathilde, »und dennoch wünsche ich nicht, sie noch oft hier wiederzusehen. Na, erschrick nur nicht, Albert! Ich meine, zu ihrem Besten wäre es, sie verließe das Ohlstedtsche Haus!«

Albert seufzte.

»Da hast du recht, Mutter; ich weiß sie auch ungern in dieser Stellung – habe ihr bereits angedeutet, daß ich sie zu jung finde für solchen Platz, aber –«

Die Mutter lächelte und sah ihn dann ernst an.

»Sag du lieber nichts, mein Sohn; wie willst du das begründen? Aber ich – ich habe ihr in vertraulichem Gespräch schon den Rat gegeben, sich doch lieber noch einmal auf die Schulbank zu setzen und weiter zum Examen zu arbeiten. Die ersten anderthalb Jahre werden ihr angerechnet, wenn sie keine zu lange Pause macht, und dann hat sie später ganz andere Aussichten in der Welt!«

»Und was antwortete sie?« fragte Albert gespannt.

»Sie gab mir nicht unrecht, aber ein Jahr will sie durchaus im Ohlstedtschen Hause aushalten; sie behauptet, das sei so eine alte Regel ihrer Mutter, aus der ersten Stelle dürfe man nicht vor Ablauf eines Jahres entlaufen.«

Albert seufzte wieder.

»Sie ist ein tapferes Mädel,« sagte er leise, »das weiß ich längst. Sie hat dir auch gewiß nichts geklagt, Mutter?«

»Nichts. Sie faßt alles sachlich auf und zeigt nirgends kleinliche Empfindlichkeit; aber man hört doch zwischen den Worten mehr.«

Albert nickte. »Aber, nicht wahr, solange sie noch hier bei uns in Hamburg ist, nimmst du dich recht ihrer an Mutter?«

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Nun, Mutter, wie gefällt dir Lotte Matersen?

»Das habe ich schon Nelli vor ihrer Abreise versprochen!« Dann kam Albert wieder auf die Erzählungen der Mutter aus der ersten Zeit ihrer Ehe zurück und fragte: »Wurde es dir eigentlich sehr schwer, dich hier einzuleben, Mutter?«

»Ein wenig wohl, mein Junge. Kleinstädter haben es nie ganz leicht in diesem andersartigen, großzügigen Leben; aber dein Vater war unbeschreiblich gut und feinfühlig und – kein reicher Mann. Das war für mich das Erleichternde. Wir hätten ja nie solch Haus machen können, wie Onkel und all die anderen, die ihr eigenes großes Geschäft besaßen oder ein städtisches Amt verwalteten. Papa war doch nur Angestellter seines Bruders.«

»Ebenso wie ich,« sagte Albert, aber die Mutter versetzte: »Dein Weg wird dich etwas weiter führen; dafür sorgt schon Onkel, und – du bist doch auch etwas anders als dein Vater! Vor allem gesünder!«

»Ich möchte trotzdem keine andere Art von Glück als er,« sagte Albert mit ernstem Lächeln, und die Mutter glaubte ihn zu verstehen.

Von diesem Gespräch ahnte ja Lotte nichts, aber die vorsichtigen Ratschläge der Frau Mathilde gaben ihr zu denken.

Als sie ein paar Tage später einen Brief von ihrer Mutter bekam, war es ihr wunderbar, wie deren Meinungen und die ihrer neuesten Freundin übereinstimmten.

Frau Matersen schrieb: »Wenn Hermann im Juli heiratet, gehe ich zunächst zu Hermine, die sich das schon lange wünscht, und die mich dann gerade gut wird brauchen können. Mit nach Lindenholm ziehe ich nicht. Sie haben dort auch keinen übrigen Platz. In Grünweide bleibe ich aber auch nicht, denn der neue Verwalter bringt eine Schwester mit; somit ist mein Platz dort ebenfalls besetzt. Ich denke also, ich nehme mir wieder eine kleine Wohnung in der Stadt wie damals, und Du, mein Kind, kommst zu mir und machst doch Dein Examen fertig. Marianne rät es Dir dringend, und Hermann will auch durchaus nicht, daß Du dauernd in Deiner jetzigen Stellung bleibst. ›Alle Achtung,‹ sagt er, daß die Kleine es so weit durchgeführt hat! Mehr Beweise ihrer Tapferkeit brauchen wir einstweilen nicht.‹«

Lotte war ganz bewegt beim Lesen dieses Briefes, aber wenn sie sich vorstellte, daß sie vielleicht schon sehr bald von Hamburg scheiden sollte, war es ihr doch nicht klar, ob es nur ausschließlich Freude war, was sie dabei empfinden würde. Nun, sogleich brauchte das nicht entschieden zu werden, sie hatte noch Zeit, mit sich zu Rate zu gehen, denn erst zum Herbst wollte die Mutter in die Stadt ziehen, und sie selber hatte ja nun ihre ersten Ferien vor sich.


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