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Vierundzwanzigstes Kapitel: Ein bewegter Tag

Als Lotte am nächsten Morgen zur Bahn fuhr, fing Marianne mit der Schule wieder an. Ihr stilles Häuschen belebte sich. Als die Kinder, wenn auch ziemlich geräuschvoll, so doch nicht unmanierlich, wieder anrückten, trat ihnen die junge Lehrerin freundlich entgegen und hielt Überschau.

»Nun, die Ferien sind vorüber, und ihr seid ja alle wieder da,« sagte sie eben, da wurde ihr die mehrstimmige Antwort: »Hinrich Stoppsack is weg!«

»Ja, ich weiß es schon, Kinder; der kommt nicht mehr – der wird jetzt anderswo Unterricht erhalten!«

»Ja, hei (er) is man utritscht (durchgebrannt),« klang es wieder im Chor, und Marianne erschrak.

Christian Thielke mußte berichten, was er von der Sache wußte. So erfuhr die Lehrerin, daß der Junge durchaus nicht zu finden sei und die Großmutter schon immerfort nach ihm suche. Gastwirt Thielke habe ihn ja gerade heute zur Bahn bringen sollen, und nun sei er weg.

»Ach, was mag das Unglückskind nun wieder angestellt haben,« dachte Marianne voll Schrecken.

Da hörte sie draußen ein Scharren und Stöhnen, und in die Tür drängte sich ängstlich die alte Botenfrau.

»Is hei hier oog (auch) nich?« jammerte sie. »Frölen, ick säuk (suche) und säuk, von Klock söß (sechs Uhr) an bün ick up de Been (auf den Beinen), vor Dau un Dag möt hei weglopen sin (vor Tau und Tag muß er weggelaufen sein).«

Marianne fragte die Kinder, wann eins von ihnen Hinrich zuletzt gesehen habe. Am Abend vorher, berichteten sie, wußten aber nichts Rechtes und sahen nur alle ungeheuer neugierig aus, was das Fräulein nun wohl machen würde.

Da sagte Marianne schon: »Kinder, wir wollen mit der Stunde noch nicht anfangen; ihr paßt doch nicht auf!«

»Nee,« klang hie und da eine kleine kecke Stimme, die aber die Lehrerin diesmal ausnahmsweise nicht weiter beachtete.

»Helft der Großmutter suchen! Die alte Frau kann nicht mehr, und ihr wißt ja auch besser, wo ihr hinzulaufen pflegt, wenn ihr euch verstecken wollt.«

»Jaaa,« klang es wieder eifrig, und die Kindergesichter nahmen fast alle einen verschmitzten Ausdruck an. Marianne aber durchblitzte es: »Die Hundehütte,« und sofort erklärte sie: »Ich will auch suchen gehen. Thielke, du kannst mit mir kommen, und mir gleich mal sagen, wann dein Vater zur Bahn fahren wollte!«

»Um zehn Uhr,« antwortete Christian, und die Großmutter klagte: »Allens is prat (bereit), allens inpackt, bloß de nige (neue) Jack' hett hei noch nich an, un dat's man gaut (gut); wer weit (weih), wo hei sick rümdrifft (wo er sich rumtreibt)!«

Marianne eilte. Auf dem Hof war es recht still; der Verwalter brachte seine Schwester zur Bahn. So kam sie unangeredet bis zur Hundehütte, die dem alten Statthalter schon lange ein Dorn im Auge war, und die doch immer noch nicht weggenommen war, weil Hermann im stillen dachte, es müsse wieder ein Hund angeschafft werden. Er konnte sich nur noch nicht entschließen, weil ihm der vorige so lieb gewesen war.

»Jochen,« sagte Marianne jetzt zu ihrem kleinen Schüler, »kannst du wohl in die Hütte kriechen? Du bist ja nicht dick – versuche es mal!«

Oh, das wollte er schon tun! Daher also hatte er die Ehre, die Lehrerin zu begleiten, weil er so klein und dünn war!

Er kroch schon auf allen vieren, und alsbald hörte man aus dem alten Kasten Geräusch. Fast wie ein Zischen und zorniges Wehren, aber ein Tier war das nicht! Man war auf der rechten Spur, und schon krähte der kleine Jochen: »Hier is hei, ick heww em (hier ist er, ich Hab' ihn)!«

Ruhig gebot Marianne: »Kommt heraus, Kinder – Hinrich, dir geschieht ja nichts!«

»Hei will mi biten (beißen),« schrie der kleine Jochen, und nun wurde es Marianne bange. Dies war fast so, als wenn einer aufs Dach geflohen ist; da kann man auch nicht hinterdrein!

Sie sah die alte Hundehütte an und wunderte sich zum ersten Male ein bißchen über Herrn Matersen. Warum ließ er das alte Ding noch stehen? Das war ja wohl mit ein paar Fußtritten zusammenzubrechen!

Sie sah sich um – niemand kam, aber aus der offenen Stalltür klangen Stimmen. Mit ein paar raschen Schritten war sie am Schafstall und erwischte den alten Statthalter. Sie machte ihm schnell die Sache klar und schlug ihm vor, rasch die Hundehütte zu zerstören, damit die beiden Jungen wieder ans Licht kämen, ehe sie sich in dem engen Kasten bei der Balgerei was zuleide täten. Der Alte war auch sofort bei der Hand.

»Ich tu's, Frölen; ich wollt' dem alten Ding schon immer zu Leibe –« er kratzte sich hinterm Ohr –- »aber Sie müssen das dem Herrn Entspektor sagen, daß es auf Ihren Wunsch geschah!«

Das versprach Marianne. Da schlug der Alte schnell die morschen Bretterwände auseinander, daß man die beiden Jungen erreichen konnte. Sie hatten sich richtig ineinander verkrallt. Hinrich sah wild und verbissen aus, der kleine Jochen zornig, aber mutig. Stroh und Haare und Erde hafteten an ihnen, und Marianne dachte, wie die Großmutter: »Gut, daß er sein neues Zeug noch nicht anhatte, der kleine Reisende!«

»Kommt jetzt schnell,« sagte Marianne, »du mußt zur Bahn, Hinrich.«

»Ick will nich,« stieß der Junge hervor und machte ein störrisches Gesicht.

»Aber warum nicht? Bist du schon einmal auf der Eisenbahn gefahren?«

Keine Antwort.

»Du weißt gar nicht, was für ein Vergnügen das ist! Wenn ich könnte, führe ich gleich mit dir, aber ich muß ja Schule halten. Ich habe schon die erste Stunde versäumt, um dich zu suchen.«

Nun sah der Junge sie mit einem sonderbaren Blick an, fast als dächte er wirklich etwas – vielleicht: »Warum tust du das?«

»Komm nur recht schnell, Hinrich,« fuhr sie fort. »Du mußt dich noch waschen, und Großmutter hat eine neue Jacke für dich zum Anziehen. Auch viel Gutes zu essen hat sie dir eingepackt – ich glaube, sogar Kuchen.«

Der träge, widerwillige Schritt beschleunigte sich ein wenig; als gar der kleine Jochen auf den schlauen Einfall kam: »Kriegst Bonbons aus Vatting seinen Laden,« da schien Hinrich überwunden.

Marianne erzählte noch von der Eisenbahn, wie schnell das Fahren darauf geht, wie alles an einem vorbeifliegt, Häuser, Bäume und Menschen – aber das machte wenig Eindruck. Erst als sie von dem großen Kohlenfeuer sprach, das da angeheizt wird, kam wieder das unheimliche Glitzern in seine Augen.

Schließlich rannte er sogar das letzte kleine Stück bis zum Hause der Großmutter.

Marianne war ziemlich erschöpft, wich aber nicht eher, als bis sie Hinrich, sauber gekleidet und in jeder Hand eine Bonbontüte tragend, auf dem Wagen des Wirts verstaut sah und die Versicherung des braven Thielle hörte: »Frülen kann sick up mi verlaten (auf mich verlassen), ick pass' em up, bett (bis) ick em an den Herrn Entspektor afliever (abliefere).«

Also der wollte ihn selbst in jene Anstalt bringen! Marianne war beruhigt und kehrte nun schleunig in ihre Schule zurück.

Dort hatten die Kinder, denen noch die Ungebundenheit der Ferien in den Gliedern steckte, natürlich die unverhoffte Freistunde nach Gefallen ausgenutzt. Ziemliches Getobe scholl der Lehrerin entgegen. Nur die Größeren hatte sie ja zum Suchen ausgeschickt, und diese waren unverrichteter Sache längst wiedergekommen. Über Tische und Bänke war es gegangen, und der zum Schulanfang sauber gescheuerten Stube sah man dies nicht mehr viel an. Aber Marianne schalt nicht; sie fand, daß dies alles ganz natürlich zuging, und dachte nur: »Gut, daß die kleine Mama dies nicht mehr erlebt hat!«

Im selben Augenblick erfuhr sie etwas Liebliches. Aus ihrer kleinen Küche trat Anning Kasten, trug sorglich ein Brett vor sich mit einer dampfenden Tasse, und »Kaffee!« rief die Lehrerin; »Anning, du bist ja ein Goldkind! Ich bin so müde und durstig, denn Hinrich Stoppsack – na, Jöching kann euch die Geschichte erzählen; der hat mir auch brav beigestanden. Setzt euch auf eure Plätze, Kinder, und seid recht still; ich will nur meinen Kaffee austrinken. Anning, wie hast du den so schnell fertig bekommen?«

»Da war doch noch Extrakt in der Buddel (Flasche) – un Wasser hab' ich schon lang auf'm Feuer,' ich dacht, wenn Fräuling kam' –«

»Gut gedacht,« lobte Marianne und setzte im stillen hinzu: »Da ziehe ich mir ja wirklich eine kleine Stütze heran!«

Endlich stand die Lehrerin auf ihrem Platz neben der Wandtafel und sagte: »Nun wollen wir beten, Kinder, und dann recht fleißig sein!«

Keinen eingelernten Vers, sondern schlicht und gerade aus dem Herzen kommend betete Marianne den Kindern vor, dabei auch besonders des armen Jungen gedenkend, der nun nicht mehr in ihrer Mitte weilte, aber hoffentlich in anderer Schule auf den rechten Weg geführt würde. Dann gab sie eine Lesestunde, obwohl Rechnen auf dem Plan stand; aber sie wollte nicht nur den Kindern noch allerlei für heute Passendes und Bedeutsames zuführen, was sie aus dem wohlbekannten Lesebuch mit Leichtigkeit herausfand, sie wollte es auch endlich sich selbst ein klein wenig leicht machen, denn sie fühlte jetzt wirklich diesen stürmischen Morgen.

Aber es schien, als sollte heute keine Ruhe und Regelmäßigkeit eintreten.

Nach gar kurzer Zeit rief ein am Fenster sitzendes Mädchen: »Nu kümmt de Paster!«

Richtig, ein kleiner Einspänner fuhr vor, auf dem mit Decken und Fußsack verpackt der gute alte Pfarrer Treumund aus Langendorf saß.

»Gerade heute,« konnte Marianne nicht umhin flüchtig zu denken; aber dann war sie doch schon draußen und bot dem mit Hilfe des Knechtes mühsam herabkletternden alten Herrn herzlich Hand und Arm, um ihn ins Haus zu führen. Ein ganz klein wenig ächzte er wohl dabei, denn für seine gichtischen Glieder war es immerhin ein Unternehmen, diese Fahrt; aber dann sagte er schon mit der liebenswürdigen Schalkheit, die Marianne gleich anfangs an dem ehrwürdigen Herrn entdeckt hatte: »Ich konnte die alten Knochen nicht länger berücksichtigen; die Zeit wurde mir zu lang, bis ich Ihr freundliches Gesicht wiedersehen sollte, Fräulein – Kottwitz? Brandenburg?«

»Warum nicht gar Homburg?« entgegnete Marianne, schnell auf den Scherz eingehend.

»Ich weiß schon – Froben, der sich statt seines Großen Kurfürsten vom Schimmel stechen ließ! Nun, wenn das Ihr Ahne ist, so machen Sie ihm keine Schande, Kind! Ich habe so allerlei tapfere Sachen gehört und verstehe, daß Sie noch keine Zeit wieder hatten, in mein stilles Studio zu kommen. Wenn man so ernste, eingreifende Dinge vorhat –«

»Oh, es war auch allerhand Vergnügliches dabei, Herr Pfarrer,« sagte Marianne verlegen ablenkend.

»Ich weiß auch das,« fiel der alte Herr ein, »und habe mich für Sie gefreut, daß Sie einmal mit jung sein durften! Emmi von Dahlen war bei mir – Nelli Menkhausen konnte ich leider nicht annehmen, weil ich an dem Tage recht jämmerlich zu Bette lag.«

»Oh,« bedauerte Marianne, und Pfarrer Treumund fuhr fort: »Ja, ja, Kind, es geht mir recht mäßig, trotz der langen, teuren Badekur! Nie wende ich wieder so viel Geld an mich! Der Doktor verlangte es durchaus, aber der liebe Herrgott scheint anders zu wollen und die Schmerzen heilsam für mich zu finden. Nun, ich habe es oft genug auf der Kanzel auslegen dürfen, daß uns ›alle Dinge zum Besten dienen müssen‹. Ich weiß schon – Oha,« unterbrach er sich plötzlich, »das tat mal wieder weh! Aber still doch – still – wer redet wohl so viel von sich und seinen Leiden, wenn so ein frisch-freundliches Mädchen vor einem steht!«

Marianne hatte es dem alten Herrn in ihrem Sofa so bequem wie möglich gemacht, ein Glas Wein vor ihn gestellt – dafür hatte neulich der Vater gesorgt, daß sie es konnte – und fragte nun bescheiden: »Wollten Herr Pfarrer heute noch etwas vom Unterricht hören, oder soll ich die Kinder lieber fortschicken?«

»Ich müßte die Gelegenheit benutzen,« sagte Pfarrer Treumund zögernd, »denn wer weiß, wann ich wiederkommen kann? Aber für den Augenblick – das gestehe ich – möchte ich mich nicht schon wieder aus diesem Eckchen rühren. Wie freundlich es bei Ihnen ist – wie die Sonne meinen alten Gliedern wohltut, ob es auch bereits Oktobersonne ist! Und buntes Weinlaub haben Sie auch noch vor dem Fenster!«

»Aber nicht so schöne Blumen, wie Sie, Herr Pfarrer!«

»Kommen sicher noch! Meine Kordel soll Ihnen Ableger einpflanzen.«

»Verzeihen Herr Pfarrer einen Augenblick – ich will nur die Kinder beschäftigen, bis Sie sich ausgeruht haben und dann doch vielleicht noch einen Augenblick hinüber in die Klasse kommen.«

Der Gast nickte, und Marianne ging hinaus. Sie hieß die Kinder ihre Schönschreibehefte nehmen; sie setzte einen kleinen Preis für die beste Schrift aus, die dem Herrn Pfarrer vorgelegt würde, und vor allem bat sie: »Seid recht still, Kinder! Herr Pfarrer kann keinen Lärm vertragen – ist ja krank! Nicht wahr, ihr tut es mir zuliebe?«

Da waren sie alle still, und ergeben blickten die meisten das Fräulein an.

Marianne aber saß nun in Ruhe bei dem alten Herrn, antwortete auf alle seine Fragen nach den letzten Erlebnissen und sagte manchmal wie entschuldigend dazwischen: »Bin ich auch nicht gar zu selbständig vorgegangen, Herr Pfarrer? Ach, ich hätte gern manchmal einen Rat eingeholt, aber es ergab sich immer alles aus der Gelegenheit des Augenblicks, und dann konnte ich nichts weiter, als ein kleines Stoßgebet zum Himmel schicken, daß ich es nur recht machen möge.«

»Und was anderes hätte ich Ihnen raten können, mein Kind?« erwiderte der Greis milde.

Marianne gestand noch, daß ihr doch manchmal recht bange gewesen sei vor der unheimlichen Natur jenes Kindes, daß sie nun aber ruhiger denke, seit ihr Doktorvater die Sache unter Zustimmung des Gutsherrn in die Hand genommen habe.

Davon wußte der alte Herr noch nichts Näheres, und nun durfte Marianne nach Herzenslust erzählen, vom gütigen Geheimrat Menkhausen, von Nellis freudiger Hilfsbereitschaft, vom eigenen klugen und tüchtigen Vater, und schließlich von der »lieben süßen Mama«.

Der alte Herr hatte sich sichtlich erholt; er stöhnte nicht mehr. Regste Anteilnahme lag in seinen hellen blauen Augen, und heiter sagte er plötzlich: »So, mein liebes Fräulein, nun habe ich mich soweit ausgeruht und gestärkt, dank Ihrer hausfraulichen Sorgfalt – nun möchte ich Sie auch noch als Lehrerin kennen lernen! Bitte, lassen Sie uns hinübergehen!«

Im Schulzimmer saßen die Kinder still und ordentlich, als die junge Lehrerin den ehrwürdigen Herrn hineinführte und freundlich aufmunternd sagte: »Nun sollt ihr dem Herrn Pfarrer mal zeigen, was ihr wißt – von den schönen biblischen Geschichten, von Liedern und Sprüchen. Anning Kasten, fang du an und sag das Lied, das wir zuletzt gelernt haben!«

Sogleich stand das Kind mit gefalteten Händen da; es ließ die großen blauen Augen einmal zaghaft zwischen der Lehrerin und dem Pfarrer hin und her gehen und dann ruhig auf dem vertrauten Gesicht Mariannes haften, während es aufsagte: »Befiehl du deine Wege –«

Drei Verse, ohne Stocken, dann forderte Marianne auf: »Nun eine von den Großen weiter! Mile Sievert, willst du?«

Ein wenig sperrte sich die Große, als wäre sie ihrer Sache nicht sicher, aber dann ging es doch; nur klang es jetzt in dem bekannten Leierton, während man bei der kleinen Anna das Gefühl hatte, als verstehe sie schon, was sie sagte, und habe Freude daran.

Mile Sievert, eins von den Maurerkindern, gehörte eigentlich zu den begabteren Schülerinnen; aber die schlechte Erziehung, der Ton zu Hause machten sich viel bei ihr geltend und erschwerten es der Lehrerin, sie so zu fördern, wie es ihr Wunsch war und bei Miles Begabung sich wohl hätte erreichen lassen.

Ehe Marianne weiterging, fragte sie bescheiden: »Herr Pfarrer, wünschen Sie jetzt zu fragen, oder soll ich fortfahren?«

Der alte Herr lächelte.

»Bitte, Sie, Fräulein Froben; ich höre heute nur zu.«

Marianne verstand, daß sie und ihre Art des Unterrichts hauptsächlich geprüft werden sollte. Es focht sie aber gar nicht an. Sie erzählte, sie fragte, sie flocht in die biblischen Geschichten kleine Nutzanwendungen auf das tägliche Leben, wie es diese Kinder umgab, und alles klang so natürlich und einfach, und doch so durchtränkt von tiefster Ehrfurcht vor der heiligen Sache, daß der Pfarrer seine helle Freude daran hatte.

Zuletzt tat er dann doch noch selbst einige Fragen, und wirklich, ein paarmal wurden ihm Sprüche angeführt, die er dabei im Sinne hatte. Das zeugte doch von Unterricht, bei dem es nicht bloß auf geistloses Auswendiglernen abgesehen war, sondern wo jedes einzelne Kind mittun mußte und Freiheit hatte, sich zu äußern, wie es wollte.

Als es zwölf Uhr schlug und vom Turm die Mittagsglocke klang, senkten alle Kinder einen Augenblick die Köpfe; dann hieß es: »Aus! Ihr könnt heim!«

Nun gingen sie alle einzeln beim Herrn Pfarrer vorbei, und er sah aufmerksam in jedes kleine Gesicht. Er nannte manchen Namen oder fragte danach, wo sein Gedächtnis ihn verließ. Zuletzt äußerte er sich noch mit einem lieben feinen Lächeln: »Ihr habt es jetzt gut, ihr Kinder – vergeßt das nie!«

Als das Zimmer dann leer war, sagte er: »Nun danke ich Ihnen, Fräulein Froben, und habe zugleich schon wieder eine Bitte. Führen Sie mich noch ins Dorf; ich möchte auch die Alten im Armenhause aufsuchen. Die alte Stilling hat schon manchmal mir gepredigt, während sie Erbauung von mir erwarten durfte; jetzt, da mich das gleiche Leiden faßt wie sie, wird sie gewiß ein gutes, gescheites Wort für mich haben.«

Dies letzte rührte Marianne geradezu. In stiller Freudigkeit ging sie mit ihrem ehrwürdigen Gast die sonnige Dorfstraße entlang, ihn sorglich führend, wie eine Tochter. Dann bestellte sie im Krug, daß der dort eingestellte Wagen den Herrn Pfarrer vom Armenhause abholen solle, und kehrte schnell heim.

»Ist das ein Tag!« sagte sie vor sich hin. »Wenn doch jetzt nichts Besonderes mehr käme!«

In dem Schulgärtchen war es noch so sonnig und warm, als hätte die Oktobersonne sommerliche Kraft. »Man kann wahrlich noch ein Weilchen hier sitzen,« dachte sie und trug einen Stuhl unter den Apfelbaum.

Wie sie glänzten, die rotbackigen Äpfel! Leise löste sich hie und da einer und fiel ins hohe Gras. Man mußte wohl daran denken, jemand zu beauftragen, der sie geschickt abnahm, ehe das Wetter etwa umschlug. Auf den richtig erfaßten Zeitpunkt kam es bei jeder Ernte an, das wußte sie schon. Saat und Ernte sind es ja, die dem Leben auf dem Lande das Gepräge geben. War sie nicht auch ein Sämann, und war nicht der berufene Prüfer ihrer Tätigkeit heute mit ihrer bescheidenen Schulmeisteret zufrieden gewesen?

Marianne fühlte sich recht glücklich, sie holte sich ein liebes Buch und las still des Dichters Worte von hilfsbereiter Menschenliebe.


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