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Vierzehntes Kapitel: Mariannes Erfahrungen

Als Marianne dann allein war, setzte sie sich gleich an ihren Schreibtisch und begann einen Brief an ihren Vater. Ohne Umschweife – denn die Erzählungen und Erlebnisse gingen stets an Mutterchens Adresse – schrieb sie:

»Ich möchte so gern etwas mit Dir besprechen, Vater, Deinen Rat hören. Du hast mich früher im Hospiz bei den Kindern oft aufmerksam gemacht auf natürliche Anlagen, die teils auf Vererbung zurückzuführen sind, teils aber zum ersten Male sich in einem jungen Geschöpf auszubilden scheinen, nicht bloß in körperlicher Beziehung, sondern auch geistig. Du hast mir Beispiele von unbegreiflichem Hang zum Stehlen genannt, oder eine grausame Ader, die sich im Tierquälen zeigt, und einmal auch eine krankhafte Sucht, mit Feuer zu spielen. Nun will es mir nicht aus dem Sinn, daß wir hier vielleicht ein Kind mit solcher Veranlagung haben, und daß man mit dieser Erkenntnis möglicherweise der Ursache zu den hiesigen Bränden auf die Spur kommen könnte.«

Nun erzählte sie von Hinrich Stoppsack, mit dem sie im Unterricht schlechterdings nichts anfangen könne, den sie aber doch nicht für blödsinnig halten möchte, was auch der Verwalter bestreite. Sie habe nun mehrfach beobachtet, wie in dem stumpfen Gesicht des Jungen ein sonderbares Leben aufgehe, sobald von Feuer die Rede sei, und daß er auch einen besonders scharfen Geruchssinn dafür habe, außerdem zeige er sich nie so geschickt, als wenn er ihren kleinen Küchenherd mit trockenem Holz versorgen oder ihr gar selbst das Feuer anmachen dürfe.

»Ich habe mir,« fuhr sie fort, »in der ersten Zeit nichts dabei gedacht, es mir nur zu gern gefallen lassen, denn, daß ich's gestehe, Vater: die städtische Gasflamme hat mich doch zu sehr verwöhnt, und ich sah mit Beschämung ein, daß ich für den häuslichen Herd noch gar nicht tüchtig bin. Also, ich ließ es mir gefallen – die Kinder wollten mir ja alle gern gefällig sein. Der eine tat dies, die andere brachte das. Wenn also Hinrich am besten Feuer anmachen konnte, war mir das eine wertvolle Hilfe. Nun aber denke ich: könnte er nicht diese Neigung und Geschicklichkeit einmal zum Verderben angewandt, kann er nicht das Feuer auf dem Hof angelegt haben? Nicht aus Bosheit, lediglich aus kindischer Sucht zum Zünden, aus Lust an den Flammen? Du hast mir einmal gesagt, es gebe so etwas: nun komme ich von diesem Gedanken nicht los. Und dieses Rätsel wird mich bald mehr beschäftigen, als meine ganze Schule. Erschrick nur nicht, Vater! Meine Pflichten werde ich darum doch nicht vernachlässigen. Aber Herr Matersen sagt auch, die Schule allein tue es nicht bei uns im Dorf!«

Auf diesen Brief Mariannes erhielt sie bald ein paar Zeilen von dem vielbeschäftigten Vater, der ihr riet, sich mit jenem Knaben so eingehend wie möglich zu beschäftigen und sein Vertrauen zu gewinnen; es sei immerhin nicht unmöglich, was sie ihm da angedeutet habe.

Als dieser Brief kam, war gerade die Schule aus, nur Hinrich Stoppsack wurde noch nicht entlassen. Er war wieder, ohne irgend etwas gelernt zu haben, in die Stunde gekommen, hatte seine Tafel vergessen und sein Heft verschmiert.

Fräulein Froben zählte all diese Untaten vor der Klasse auf und warf die Frage hin: »Was muß er dafür erhalten, der Unnütz?«

»Schacht« (Schläge), war die einstimmige Antwort.

Als die Lehrerin dies Urteil gemildert haben wollte und sich an den jüngsten Thielke allein wandte, konnte auch dieser Kleine mit dem gutmütigen Gesicht nicht anders als schlau blinzeln und gleich den anderen verfügen: »Schacht!«

Aber Marianne mochte sich nie zum Stock entschließen. Deshalb wandte sie sich an Anning Kasten, und hier kam die gewünschte weibliche Milde zum Durchbruch, es klang höflich: »Nachsitzen, Fräulein.«

So kam es denn und war für die Lehrerin ebensoviel Strafe wie für den faulen Schüler. Denn diesen konnte sie nicht allein mit einer Strafarbeit in die Klasse setzen; sie mußte dabei bleiben, seine greulichen Krakelfüße beobachten und ihm unermüdlich die Aufgabe wieder vorsagen.

Sie war nur schnell vorher in die Küche gegangen und hatte den Suppentopf auf das Feuer gesetzt, damit es nicht allzu spät mit dem Mittagessen würde. Rote Mohrrüben und Sellerie hatte Anning ihr in der Zwischenstunde sauber geputzt: die tat sie in das Wasser. Etwas später sollten die von Johann Thielke geschälten Kartoffeln dazu kommen; das gab eine gute Suppe.

Nun wieder zu dem Nachsitzer! Beharrlich lernte sie mit ihm und sprach ermutigend auf ihn ein, wenn sie auch im stillen dachte: »Nutzt es denn überhaupt irgend etwas?« Da – mitten in ihrem Vortrag unterbrach er sie: »Door brennt wat an!«

Marianne eilte zur Tür, und richtig, wie sie diese öffnete, nahm auch sie den brenzlichen Geruch wahr. Das Feuer war zu scharf gewesen – sie hätte wohl ein Torfstück auflegen müssen – alles Wasser verkocht, und zu Kohle gebrannt lagen die schwarzen Mohrrüben auf dem Grunde des leeren Topfes.

Marianne war ärgerlich auf sich selbst, zugleich aber wieder verwundert über den Geruchsinn des Jungen, der mit funkelnden Augen festgestellt hatte, daß auf dem Herd etwas nicht in Richtigkeit sei. Immer alles, was mit Feuer zusammenhing! Merkwürdig! Aber für heute wollte sie ihn nun freigeben. Länger sollte des Vaters Brief nicht warten, und zum zweiten Male wollte sie ihr Mittagessen nicht verderben lassen – es konnten ohnehin jetzt nur Eierkuchen sein, die Kartoffelsuppe war dahin!

Während des Backens las sie die kurzen Worte von des Vaters Hand. Wie gut und treu er doch auf ihre Andeutungen einging, trotzdem er eben von einer Operation kam!

Ja das Vertrauen des Jungen gewinnen – dachte sie mutlos – das schien so schwer! Noch merkte sie nicht den geringsten Einfluß ihrer Güte, aber jedenfalls durfte sie ihn nicht durch zu große Strenge verscheuchen, nicht verprügeln, wie ihr alter Vorgänger getan hatte? darum wollte sie auch nicht auf die Ratschläge der anderen Schüler hören, die in kindischer Schadenfreude immer gleich mit »Schacht« bei der Hand waren.

Ja, die Schadenfreude –- das war auch so ein Zug, gegen den man immer wieder ankämpfen mußte – ach, und gewiß noch gegen so vieles, was die junge Lehrerin noch kaum ahnte, was mit der Schule, mit Lesen, Schreiben und Geradesitzen wenig zu tun hatte!

Sie wollte nur heute mal wieder Besuche im Dorf machen, denn schon hatte sie einige hämische Bemerkungen aufgefangen: »Nach uns kommt sie nich hin – sind wir ihr nich gut genug?«

Marianne fühlte sich ohnehin recht allein. Lotte Matersen fehlte ihr. Das frische kluge Mädchen, mit dem man so gut über alles sprechen konnte, war abgereist, um nun endlich nicht länger die Schule zu versäumen. Der Mutter ging es jetzt besser, wenn sie den Fuß auch noch etwas schonen mußte; außerdem erwartete sie ihre ältere Tochter zum Besuch. Aber die war in Trauer um ein verlorenes Kind und hatte vielleicht wenig Interesse daran, die fremde Lehrerin kennen zu lernen, dachte Marianne. Darum beschloß sie, sich vorläufig zurückzuhalten, überhaupt mußte sie sehen, auch ohne Verkehr mit ihresgleichen hier auszukommen; die letzten acht Tage hatten sie recht verwöhnt. – Also nun frisch ins Dorf, zu dem Maurer Sievert, dessen Kinder ihr wenig gefielen!

Auf der Bank vor dem Hause saß die älteste Tochter, die schon aus der Schule war, und nähte emsig. Sie war ein blasses Mädchen mit verschüchtertem Ausdruck. Als die Lehrerin sie freundlich ansprach und ins Haus zu treten wünschte, errötete sie und sagte: »Ach, Fräulein, heut grade? Ich rat' Sie da nich zu, Vater is nich gut an'n Kopp – Sie wissen woll, was ich mein'.«

Marianne hatte allerdings davon gehört, daß der Maurer gern trank,' als sie jetzt gar Lärm aus dem Hause hörte, verstand sie das Mädchen und zögerte etwas. Dann fragte sie nach der Mutter. Sie erfuhr, daß die fast immer krank sei und sich so viel gräme, weil sie die kleinen Kinder nun nicht mehr davor hüten konnte, daß der Vater sie zu Boten brauchte, wenn er Durst hatte. Immer müsse der kleine Gusche im Dorfkrug die große Schnapsflasche füllen lassen; nun habe er selbst schon das Zeug zu kosten angefangen und sei kaum davon abzubringen.

Marianne schauderte. Ihr fiel ein, welch sonderbares Wesen der kleine siebenjährige Maurerjunge neulich gezeigt hatte, und wie ihr der Fuselgeruch an ihm aufgefallen war. Sie ging nun doch entschlossen ins Haus. Das blasse Mädchen dauerte sie, und nach der Mutter mußte man sehen.

Sie fand im Bett eine elende Frau, die ebenso rot wurde, wie vorhin ihre Tochter, als der Mann sich wankend erhob und das Fräulein auf seine Art höflich begrüßen wollte.

Marianne nahm sich zusammen und sagte mit freundlicher Entschlossenheit: »Ei, ei, Sievert, schon Feierabend gemacht? Ich denke, auf dem Hof ist jetzt so viel Arbeit? die wollen Sie doch nicht den Stadtmaurern überlassen?«

Der Mann grinste und erinnerte daran, es sei Montag; ob das Fräulein nicht wisse, daß man da »blau zu machen« pflege. Tapfer erwiderte Marianne: »Ich weiß es leider, aber ich sehe den Grund nicht ein. Gerade nach dem freien Sonntag sollte man doch um so frischer und freudiger zur Arbeit gehen.«

Wieder lachte der Maurer höhnisch und sagte mit schwerer Zunge: »Na, nu predigen Sie man nich lang', Fräulein! Sie sind noch viel zu jung dazu – sehn Sie man nach Ihrer Schule!«

Marianne wandte sich ab und sprach mit der Frau, fragte nach ihren Leiden und gab ein paar Ratschläge, die ihr als Doktorstochter geläufig waren. Die Frau lächelte dankbar und versprach, dies und jenes zu tun, was das Fräulein sagte, wenn – »wenn hei (er) mi nich stürt (stört)!« Dann sprachen sie von den Kindern. Marianne konnte sie nicht loben, meinte aber, sie würden sich gewiß noch an die Schulzucht gewöhnen, wenn nicht dagegen gewirkt würde.

Wieder flüsterte die Frau mit bezeichnendem Blick: »Dat deiht hei (das tut er)!« und sie erklärte, als der Maurer die Stube verlassen hatte, daß er den Kindern oft vorhalte, sie hätten es nicht nötig, anderen zu gehorchen als ihm. Die Reichen bildeten sich immer ein, sie hätten das Recht des Befehlens, und die Schullehrer erst gar; die wüßten immer alles am besten und mischten sich in Dinge, die sie nichts angingen.

»Ach, nehmen Sie's man nich übel, Fräulein,« unterbrach sich die Frau ängstlich, »aber weil Sie doch so freundlich sind und fragen – ich hab' es schwer, und er, was mein Mann is, wird immer so böse, daß ich krank bin und nicht so viel arbeiten kann, wie die anderen, und ich kann doch nicht davor.«

»Natürlich nicht, liebe Frau,« sagte Marianne, »darum ist es ja gut, daß Sie die große Tochter haben, die für Sie arbeitet!«

Aber die Frau erwiderte, die Mile müßte ja eigentlich in Dienst: darüber tobe der Mann auch, daß sie noch keinen habe. Die »Madam« wollte sie sonst schon gern in die Küche nehmen, aber sie sagte selbst: »Sievertsch, Sie können die Mile nicht entbehren! dann ginge ja alles drunter und drüber.«

»Kommt Frau Matersen manchmal zu Ihnen?« fragte Marianne, die schon wußte, wer mit »Madam« gemeint war.

Die Maurerfrau bejahte und lobte dann sowohl den umsichtigen Verwalter wie auch seine Mutter.

»Je, Fräulein, das ist ja nicht so, als wenn man 'ne richtige Gutsherrschaft auf dem Hof hat; aber was sie können, das tun die Verwalters auch für unsereins.«

Nachdenklich kehrte Marianne heim. »Es ist nicht so, als wenn man 'ne richtige Herrschaft auf dem Hof hat.« Das ging ihr durch den Kopf. Auch dachte sie daran, wie neulich der philosophische Schuster gesagt hatte: »Fräulein, schad' ist es doch, daß auf all unseren schönen Gütern im Lande jetzt so viel Fremde sitzen! Früher, da erbte so 'n Hof immer vom Vater auf den Sohn, und die Herren kannten so gut wie ihren Boden auch ihre Leute, Haus bei Haus. Jetzt – was wissen die großstädtischen Herren, die sich hier überall im Lande ankaufen, von richtiger Landwirtschaft und von der Lage ihrer Arbeiter? Unser Herr Geheimrat ist gewiß 'n guter Herr; ich mag ihm leiden und sprech' manches Mal 'n Wort mit ihm, wenn er kommt und sagt, er hab' sich schon wieder 'n Paar Sohlen durchgelaufen – natürlich auf den Stoppeln, wenn sie hinter die Rapphäuhner (Rebhühner) her sind, denn weiter suchen diese Herren, was jetzt die Gutsbesitzers sind, nichts auf 'n Lande, als Jagen und Fischen und Spazierengehen!«

Diese Betrachtungen des Schusters hatten sie zuerst belustigt,dann aber dachte sie ernsthaft, sie hätten wohl recht, die Leute, wenn sie sich unter einer Art Fremdherrschaft fühlten. »Und,« setzte sie in Gedanken hinzu, »ich wünschte wohl, das kleine Fräulein, die Leonore Menkhausen, führte ihren Vorsatz aus und bildete sich zu einer tüchtigen Gutsherrin heran, die auf ihrer Besitzung daheim ist und ihre Leute als ihre richtigen Gutskinder betrachtet.«

Herr Matersen hatte freilich zu solchen Träumen, wie er die Reden seiner Schwester und ihrer neuen Freundin nannte, gelächelt und gesagt: »Was denken Sie sich, Fräulein Froben! Leonore Menkhausen heiratet natürlich irgendeinen hanseatischen Millionär, bleibt in der Großstadt und sucht, wenn's hoch kommt, manchmal ihre Sommerfrische in Grünweide auf, wie jetzt.«

»Aber,« rief Marianne dazwischen, »sie könnte doch auch einen Landwirt heiraten, der mit ihr zusammen Freude und Verständnis an dem schönen Gut hätte!«

Hermann blieb jedoch dabei: »Ich glaub's nicht! Diese Damen mit der überfeinen Erziehung bleiben am Ende immer in der Stadt.«


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