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Elftes Kapitel: Freundschaftsbriefe

Leonore Menkhausen an Lotte Matersen.

Hamburg.

Liebe Lotte!

Daß es nun mit der Ferienherrlichkeit vorbei ist, o wie jammerschade! Und daß ich zuerst nahe daran war, diese ganze Herrlichkeit zu verderben – ohrfeigen könnte ich mich, wenn ich daran denke! Lotte, Du trägst mir doch ganz gewiß nichts nach wegen meiner Dummheit? Sieh, daß Du mir doch die liebste von allen bist, wie immer, das merkte ich recht deutlich, als es immer weiter fortging von Grünweide und ich immer noch keine rechte Freude empfand auf das demnächste Wiedersehen mit Mabel Dixon und Lyda von Stecken. Nun aber höre, wie es kam! Wir haben uns überhaupt nicht getroffen! Die ganze Rückreise ist aufgeschoben; ich sitze seelenvergnügt noch zu Hause, und der einzige Kummer ist, daß dieses »Zuhause« nicht mehr Grünheide heißt.

Also: Miß Dixon ist schleunigst nach England zurückberufen und kommt überhaupt nicht wieder nach Genf; Lydia wurde durch ernste Krankheit ihrer Mutter verhindert, schon abzureisen. Das tut mir natürlich sehr leid für sie, aber – hätten beide nicht etwas eher Nachricht geben können, statt ausgerechnet im letzten Augenblick zu telegraphieren, wenn man an der Station ist und ein Reitknecht hinterdrein gejagt werden muß? Papa war auch ärgerlich und nannte es einen rechten Frauenzimmerkram. Ich aber umtanzte und umjubelte ihn, das; er schließlich ganz gerührt sagte: »Kleine Nell, möchtest du so gern noch ein wenig beim alten Papa bleiben?«

»Natürlich,« schrie ich, immer zwischen zwei Küssen, »und am liebsten möchte ich, der alte Papa kehrte sofort mit mir um und wir blieben in Grünweide – so lange, bis – nun wenigstens bis Weihnachten.«

Davon wollte er aber nichts wissen. Er versicherte, es sei die höchste Zeit, daß er zurückkehre und sich wieder im Geschäft umsehe, und ich müßte auch hier bei ihm aushalten, daß ich zur Stelle sei, wenn sich eine passende Reisebegleitung fände. Na, ich halte schon aus und hoffe nur, daß es recht lange dauert, bis mich jemand unter seine Flügel nehmen kann.

Du wunderst Dich vielleicht, Lotte, daß nicht Tante Pine mich einfach nach Genf bringt. Sie täte es wohl gern, aber Papa sagt, daß er sie jetzt nicht entbehren könne. Ein Geschäftsfreund hat sich angesagt, aus Neuyork; da muß das Haus Menkhausen sich »würdig präsentieren«, und dabei ist nun Tante Pine recht in ihrem Fahrwasser. Sie kennt die Regeln der vornehmen Haushaltsführung aus dem Effeff, und das hat Papa sehr gern, besonders wenn der Amerikaner kommt. Also, in Genf muß man sich vorläufig ohne mich behelfen – fein!

Weißt Du, Lotte, sonst behaupte ich ja immer, ich könnte die Reise sehr gut allein machen; es sei lediglich eine Anstandsfrage, das mit der Begleitung. Aber jetzt halte ich mich auch gern an eben diese »Formsache« und erfreue damit Tante Pine, die daraus schließt, daß ich endlich »zur Einsicht komme,« wie sie das nennt. Aber sie täuscht sich, die Gute! Durchbrennen möchte ich am liebsten, nach Grünweide – allein! Aber Du bist dann nicht mehr dort, und so fehlte am Ende doch das Beste! Schreibe mir nur bald, wie es Dir nun wieder in der Stadt vorkommt und in der Schule! Und schreibe vor allem, daß Du kein bißchen mehr böse bist

Deiner Nell.

Lotte an Nelli.

Meine liebe Nell!

Na, uns ist es diesmal wirklich recht quer gegangen! Ganz ohne Not die Abreise für Dich, und ich – ja, ich bekam am nächsten Tage gleich nach der Schule eine Nachricht, auf die ich auch sofort hätte umkehren mögen. Denke nur: Mutter ist auf der Treppe ausgeglitten und hat sich eine Sehnenzerrung am Fuß zugezogen!

Bild

Durchbrennen möchte ich am liebsten, nach Grünweide.

Wäre ich doch dort! Ich weiß ja, wie es um diese Zeit zu Hause ist. Die Ernte geht allem vor, Hermann immer draußen und alle Leute bis zum Hühnermädchen herunter mit bei der Feldarbeit – Mutting also fast immer allein! Und da müssen doch Umschläge gemacht und allerlei Handreichungen getan werden – ich bin geradezu verzweifelt, daß ich hier Mathematik ochsen und Aufsatz schreiben muß, statt meine Mutter zu pflegen. Siehst Du; Nell, ich hätte noch viel mehr Grund, ans Durchbrennen zu denken wie Du. Aber bei uns sind sie ja so strenge, weißt Du. Mutter in ihrer Anspruchslosigkeit behauptet natürlich, sie brauche keine Pflege, und immer Gesellschaft haben zu wollen, sei auch Verwöhnung. Und Hermann – na, der behauptet bei jeder Gelegenheit: »Über alles die Pflicht,« und meine Pflicht ist ja leider noch die Schule. Wäre es nicht so kurz vor Michaelis, wo Zeugnis und Versetzung auf einen lauern, ich bettelte mich doch frei! Für Dich, Nell, macht es natürlich nichts aus, daß Du etwas später in Deine Genfer Pension zurückkommst und noch Ferien hast. Aber daß wir dies nicht mehr zusammen genießen, ist sehr, sehr schade! Ist Dir dies genug, oder verlangst Du noch deutlicher die Versicherung unveränderter Freundschaft von

Deiner Lotte?

Liebste Nell, was sagst Du aber jetzt? Werde auch nicht zu neidisch, wenn Du den Poststempel siehst! Ja, ich bin wieder daheim; es schien doch nicht anders zu gehen. Nicht, daß es mit Mutter schlechter steht, aber Hermann wollte es so. Er meinte, ich könne durch doppelten Fleiß wieder einholen, was ich jetzt in acht Tagen versäume; dann nämlich will Hermine kommen, sich nach Mutter umzusehen. Nun aber, Nellchen, habe ich hier gar keine Zeit zum Briefschreiben, denn ich will doch Mutter recht zur Hand sein und – sonst noch jemand! Sei also für heute zufrieden mit dieser Karte von

Deiner Lotte.

Leonore an Lotte.

O Du Beneidenswerte! Das ist nun beinahe nicht zum Aushalten. Du noch als losgelassenes Füllen auf der Weide, Grünweide genannt, ich dagegen jeden Augenblick gewärtig, eingepfercht zu werden! Aber höre, Lott', das; Du so wenig schreibst, ist mir verdächtig! Du hast doch gewiß schon sie gesehen, die Herrin unseres Puppenhäuschens, auf Deutsch gesagt: Fräulein Froben, die Dorflehrerin! Ist sie so niedlich, daß Du es gar nicht sagen magst, damit ich nicht zu neugierig und neidisch werde! Oder magst Du sie nicht? Am Ende doch eine alte Jungfer? Nun leb wohl! Wenn Du keine Zeit zum Mehrschreiben hast, hab' ich sie auch nicht! Eiligst

Deine Leonore.

PS. Entschuldige, daß ich gar nicht nach Deiner Mutter fragte. Das war häßlich, aber nichts weiter als Flüchtigkeit. Wie geht es mit dem Fuß? Darf sie noch gar nicht damit auftreten? Da mußt Du natürlich bei ihr bleiben, wozu gibt es sonst Töchter? Viele Grüße und gute Wünsche an Deine liebe Mutter von ihrer künftigen Wirtschaftsschülerin Leonore Menkhausen.

Lotte an Nelli.

Armes Nellchen! Nun bist Du gewiß schon unterwegs! Ich richte diesen Brief so ein, daß er Dich in Genf empfängt. Recht so? Nun also weiteres von hier. Mutter geht es leidlich, aber Schonung ist noch lange geboten, sagt der Doktor. Ich bleibe also, bis Hermine kommt und sich umsieht. Inzwischen tut dies noch jemand außer mir, und das ist sie, Marianne Froben! Nell, sie ist keine alte Jungfer, wenn auch nicht so jung, wie Du vielleicht dachtest. »Niedlich«, wie Du immer sagtest, ist sie nicht gerade – dazu nicht klein und zierlich genug, finde ich – auch keine Schönheit –

»Na, was denn, wie denn!« Ich sehe Dich zappeln vor Ungeduld. Ja, Du, ich finde sie einfach zum Liebhaben!

Mittelgroß und kräftig, dunkelblondes Haar, ganz schlicht gescheitelt und im Knoten aufgesteckt, große graue Augen und schöne Zähne – da hast Du ihr Bild. Dazu eine angenehme Stimme beim Sprechen – weißt Du, darauf horche ich immer so sehr – und ein freundlich bestimmtes Wesen. Nell, findest Du nicht, daß ich großartig beschreibe? Mein Aufsatzlehrer könnte zufrieden sein. Aber ich mußte Dir doch das Bild ungefähr geben; das bin ich Dir schuldig, und es ist das einzige, was ich für Dich tun kann, wenn Du etwa immer noch nicht darüber weg bist, daß Du – nun eben, daß Du so weit weg sein mußt, statt hier die Lehrerin als ihre Schutzherrin zu empfangen. Ich habe ihr schon viel von Dir erzählt und unsere gemeinsame Tätigkeit im Schulhause geschildert. Das hat ihr Spaß gemacht, und sie versichert, daß ihr alles sehr gefällt, das Häuschen mit allem Drum und Dran, auch der viel besprochene Sekretär. Natürlich schreibt sie ein Tagebuch daran! Ich glaube wenigstens – es lag gerade auf der Platte, als ich sie besuchte – ein Schulheft war das nicht.

Himmel, was sie da wohl hineinschreibt! Hier ist doch jetzt gar nichts los. Ich fragte, ob es ihr nicht manchmal langweilig sei, da sie doch aus der Stadt kam. »Aber nie,« antwortete sie lustig und erzählte, daß sie so viel zu tun habe mit der Schule und ihrem kleinen Haushalt. Sie hatte sogar ihre erste Wäsche gehalten, und ich habe ihr plätten helfen. Sie kann es – wahrlich! Dann haben wir zusammen im Garten gearbeitet, der ihre besondere Freude ist.

»Und Mutter?« wirst Du sagen. »Ich denke, Du bist zur Pflege Deiner Mutter da?«

Ja, natürlich, Nell, aber Du weißt doch, wie die ist. Niemals würde sie es leiden, daß jemand den ganzen Tag bei ihr herumsitzt und »pflegt« und »unterhält«. Was sie an Hilfe braucht, besorge ich gewissenhaft und bin auch sonst alle Augenblick bei ihr, was sie, glaube ich, doch mehr freut, als sie merken lassen will; aber am späten Nachmittag treibt sie mich immer vom Hof. Und noch eins: Sonntag soll die Lehrerin zu Mittag eingeladen werden! Mir kommt es beinahe so vor, als wäre das ein Grund mit, daß sie mich haben kommen lassen. Mutter findet diese Einladung notwendig, sie sagt: »Wenn ich mir denke, meine Lotte säße ganz allein in einem fremden Dorfe, und niemand kümmerte sich um sie! Wir sind doch hier die nächsten dazu.« Mutter hatte es schon mit Hermann besprochen, ehe ich kam, und da ist dem natürlich angst und bange geworden, daß er dann in der Hauptsache den Wirt spielen sollte. Du weißt ja, Nell, er ist Damen gegenüber etwas schwerfällig, und jetzt gar – und nach den dummen Geschichten, von denen wir aber nicht mehr sprechen – ist er so ungesellig geworden. Wie also Mutting wieder von der Einladung anfing, sagte er beinahe unwirsch: »Meinethalben – nun ist ja Lotte hier, da geht es eher.«

Du siehst also, meine liebe Nell, ich bin hier nützlich aus mehr als einem Grunde. Auch versäumt wird nichts. Hermann arbeitet jeden Tag – oder Abend vielmehr – eine halbe Stunde Mathematik mit mir, Fräulein Froben hat alle meine Hefte eingesehen und will beim englischen Aufsatz helfen, der mir schwer scheint. Den deutschen kann ich! Aber sie will ihn gern lesen, also werde ich mir rechte Mühe geben. Und jetzt lebe wohl, liebe Nell, ich muß zu ihr. Ade, ade, ich verschwatze mich ganz, und sie (!) wartet auf

Deine Lotte.

Leonore an Lotte.

Das ist ja wirklich niedlich! »Sie (!) wartet« – »ich muß zu ihr«! O Lotte, Charlotte Matersen! Solche Schwärmerei hätt' ich Dir wirklich nicht mehr zugetraut! Du bist doch sonst so gesetzt und findest leicht etwas übertrieben. Na warte, wenn ich Dich einmal neidisch mache! Vorläufig ist nur noch kein Gegenstand da; die alten Geschäftsfreunde von Papa werden nicht gerade danach sein. Aber – »ja, bist Du denn immer noch nicht in Genf?« höre ich Dich fragen. Nein, mein liebes Kind, Deine Epistel, die mich dort empfangen sollte, was ich trotz allem Neid auf »sie« ziemlich rührend fand, diese Epistel also hat man sofort wieder umadressiert und mir nach Hause geschickt. Ich reise noch nicht. Papa gibt mich nicht her, denn – der Amerikaner bringt seine Damen mit, Frau und Tochter, und da wünscht Papa, daß sein Haus außer der vortrefflichen Tante Pine auch noch etwas jüngere Weiblichkeit aufweise. Mit einem Wort, ich soll für Miß Amy Rodberts ein wenig die Führerin durch Hamburg machen. Wie findest Du das?

Heute abend kommen sie. Wir fahren gleich ans Schiff, und in der nächsten Zeit werde ich nun auch wohl immer sagen: »Ich muß zu ihr!« Es grüßt Dich

Deine Nell.


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