Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Am anderen Tag fing es heftig an zu schneien, als wenn der Himmel diese alte, traurige Erde in eine hellere, in eine Weihnachtserde verwandeln wolle. Remigius war am Morgen auf seinem alten Werk gewesen und hatte ausgemacht, dass er nach Neujahr an einer der wieder aufgestellten Drehbänke die Arbeit aufnehmen würde. So war er denn am Nachmittag guter Dinge und gab sich an seine letzte weihnächtliche Arbeit, von der wir zu seiner Zeit erzählen werden. Als er daran sass, kam der Doktor herein. Er hatte im Dorf erfahren, dass Remigius zurück sei, und da hielt es ihn nicht. Er duzte ihn. Es schien ihm, er habe dies immer getan und es sei das einzig Mögliche:

»Na, du alter Kumpan! Hast du dich für Weihnachten doch wieder zurück gemacht? Ich bin ordentlich froh. Ab und zu muss man doch ein anständiges Gesicht sehen. Wenn man so Tag um Tag und Stunde um Stunde Visagen vor sich hat, die unsere Abstammung vom Affen wahrscheinlich machen, dann wird man melancholisch, und ich neige sowieso zum Laster der Melancholie. Melancholie ist ein Laster wie Trunksucht.

Wie gesagt; ich bin froh, dass du wieder da bist. Aber warum bist du wieder da! Ich an deiner 241 Stelle wäre nicht wieder gekommen. Und warum bist du's?«

Remigius erwiderte:

»Weil man nicht da oben bleiben kann. Sie könnten's auch nicht.«

»Wieso?«

»Weil Sie hierher gehören. Weil Sie helfen müssen. Weil Sie die Menschen gern haben, über die Sie spotten, und ein bisschen so geht es mir auch. Ich bin daheim hier in diesem kaputtgeschossenen Drecknest. Auf die Dauer muss ich wieder morgens um halb sechs aufs Werk gehen, wie die anderen, mit meinem Brot und der Kaffeekanne unterm Arm. Ich bin daheim, hier bei meiner Schwester und den Kindern, ja sogar bei diesem Grossangeber von meinem Schwager, und ich muss den Garten instandhalten und den Geissenstall. Gerad hat mich der Nachbar gefragt, ob ich ihm zwischen Weihnachten und Neujahr helfen wolle, seine zerschossene Küche zu flicken. Bretter und Balken hat er.«

»Es geht nichts über Edelmut. So lange wie er hält. Meistens tut er's nicht sehr lange. Da hab ich neulich den heimgekehrten Kriegsgefangenen bewundert, der seiner ehebrecherischen Frau nichts anderes sagte als armes Luder! Jetzt ist er daran, sich scheiden zu lassen, und ein anderes Mädchen hat er auch schon gefunden. Er ist natürlich auch nur ein armes Luder. Aber mit dem Edelmut ist es aus. Das versteht sich. Vielleicht hält deiner länger. Aber ich möchte nur wissen, warum du dich dann überhaupt in den Schäferkarren gehockt hast. Ich dachte schon, das sei jetzt die grosse Wandlung bei dir, Rückkehr zur Natur, Jean Jacques 242 Rousseau, wenn du davon einmal gehört haben solltest, oder zum einfachen Leben Ernst Wiechert. Das kennst du auch nicht? Na, schadet auch nichts, Ich selber, ich glaube auch nicht an Rückkehrer. Es geht immer weiter. Nur, wie gesagt: warum hast du dich dann in dieses herrliche Vehikel gehockt?«

Remigius dachte nach, und dann erwiderte er:

»Sie sind ein zu schlechter Christ, Herr Doktor, um zu wissen, was Exerzitien sind. Man zieht sich da eine Weile zurück und bedenkt betend und büssend die ewigen Wahrheiten. Sie brauchen nicht zu grinsen. Es ist ja klar, dass ich das nicht aus mir habe. Und über die ewigen Wahrheiten selber brauchen Sie auch nicht zu grinsen. Aber eigentlich grinsen Sie ja nur über sich selber.«

»Du bist ja ein toller Menschenkenner!«

»Ich glaube nicht. Aber Sie kenn ich wirklich ein bisschen. Und wenn Sie mich jetzt ohne Grinsen und ohne Spott zu Ende reden lassen wollten, dann möchte ich sagen, ich hab da oben auch eine Art von Exerzitien gemacht. Man geht aber nicht dahin, um zu bleiben, sondern um nachher ein bisschen frischer und gesünder zurückzukehren. Ich glaube, dass ich das jetzt bin.«

»Seltsam, wie klug die Leute reden, wenn sie ein bisschen in der Welt gewesen sind. Ich bin wirklich zu früh sesshaft geworden. Das wird mir immer nachgehen. Uebrigens war ich neulich mal da oben. Mit so einem blöden Weibsbild. Sie hat mich nicht schlecht geärgert, und ich hab sie zum Teufel gejagt. Du hast sicher schon gehört, dass ich ein Schürzenjäger bin. Leider ist es halb wahr, und ich könnte mich dafür ohrfeigen – ich könnte, ich 243 könnte! –, ich hab mich schon dafür geohrfeigt. Aber die Wirkung hält genau so lange an, wie das Brennen der Ohrfeige zu verspüren ist, nicht länger. Mich kommt tausendmal das Kotzen vor mir selber an. Aber schliesslich hab ich es mir ja nicht ausgesucht, ich selber zu sein. Ich wäre mit Wonne mein Kollege in Bratzweiler, der in seinen freien Stunden Bienenzüchter ist und eine herrliche natürlich-übernatürliche Abhandlung über den Honig geschrieben hat:

›Der Honig in der Heiligen Schrift und in der Klassischen Dichtung der Griechen und Römer.‹ Ich habe auch wirklich acht Tage mit dem Schmok von eurem Speicher da gesessen und überlegt, ob ich nicht eine Abhandlung schreiben solle über Wetter und Gesundheit, Wetter und Charakter, Wetter und Weltgeschichte. Aber ich habe keine Ruhe dazu, und ich bin auch nicht dazu gemacht, Bücher zu schreiben, sonst hätte ich die Ruhe. Na ja.

Aber ich will dir was ganz anderes sagen. Du hast da eine Entzündung an der Oberlippe, kratz mir nicht dran und piddel nicht dran. Das ist nämlich nicht ungefährlich. Es sind mir zwei Patienten an solchen Geschichten gestorben.«

Nun, Remigius starb nicht an dieser Geschichte. Aber als der Doktor gegangen war, nahm er einen Handspiegel, um zu sehen, was daran wäre. Es war nicht viel daran. Wahrscheinlich hatte der Doktor nur die Rede darauf gebracht, um einen guten, jedenfalls medizinischen Abgang zu finden. Eine kleine Pustel, nicht grösser als ein Nadelkopf. In zwei Tagen wird nichts mehr zu sehen sein. Aber der Selbstbetrachter entdeckte etwas, was er noch nie gesehen hatte; eine winzige Warze, rechts von 244 der Nasenwurzel. Seine Mutter hatte die gleiche gehabt. Da er aber schon einmal daran war, sein Gesicht zu erforschen, kam er zu den Augen, und es waren die Augen seiner Mutter. Was für ein Geheimnis! In den Spiegel zu schauen und dann die Augen der Mutter zu finden. Die eigenen Augen, aber doch die der Mutter, die der Grossmutter oder des Grossvaters oder ferner Ahnen. Wie du da gehst, fliesst in dir das Blut von Vater und Mutter, von zwei Grossvätern und zwei Grossmüttern, von vier Urgrossvätern und vier Urgrossmüttern und so weiter und so weiter. Das Blut, das hell- oder dunkelrot zum Vorschein kommt, wenn du dir in den Finger schneidest oder dich beim Rasieren ritzest, ist das Blut ungezählter Jahrtausende, ist in ungezählten Kämpfen schon geflossen und in tausendfältigem Rausch der Leidenschaft heiss geworden. Aber das Blut ist in seinem ewigen Strömen etwas Namenloses, nicht zu Fassendes, nicht zu Deutendes. Es strömt und strömt und strömt, und es ist ihm gleich, ob es durch die Adern Napoleons oder eines Strassenkehrers strömt. In diesem Gesicht hingegen blickt dich die Vergangenheit an. Mit den Augen, die vielleicht dunkel sind von den Tränen, die vor tausend Jahren geweint wurden, oder in denen ein Schalk aufblitzt von jahrhundertealtem Lachen. In dem Gesicht sind Züge eingezeichnet von Schreckenstagen ferner Kriege und von dem Glockenklang und dem Orgelbraus längst versunkener Feste.

Alles das ging undeutlich und wogend durch den Kopf des Remigius Wolf, der sein eigenes, durch tausend Gefahren hindurch gerettetes Antlitz mit den Augen der Mutter und der fernen Ahnen 245 betrachtete. Er fuhr mit der Hand darüber wie über das Antlitz eines Fremden, schüttelte ganz leise den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Er tat es immer in den Stunden, in denen die grösseren Kinder nicht da waren, denn sie sollten erst am Heiligen Abend sehen, was da herauskam. Er arbeitete an einem zweiten Schäferkarren, einem viel grösseren, einem, der aus dem Zusammenhang der Krippe heraus gelöst war, einem, der für sich stand und genommen und geliebt werden konnte. Wenn er daran war, wehte wieder die Luft der Höhe um ihn, und der Ruch der Herde umgab ihn, und die Geschichten des Niedschiffes lebten auf. Es tat ihm sehr gut, so zu sitzen und zu bosseln, und die Stunden brachten ihm noch etwas ein. Seine Schwester sass oft bei ihm, und wenn sie auch meistens beide schwiegen, so kam es doch ab und zu zu einem kurzen Gespräch, in dem langsam die Fremdheit dahinschmolz, zu der die Jahre der Ferne zwischen ihnen gefroren waren, trotz allem. »Siehst du«, sagte sie, »der wird nun viel schöner als der erste, und du brauchst jetzt dem Johann gar nicht mehr so bös zu sein.« »Ach, ich hab das ja schon vergessen. Das liegt schon so lang zurück. Zwischen dem ersten kleinen Schäferkarren und diesem grösseren gab es doch den grossen, den richtigen. Sei nur ganz ruhig.« »Ja, aber du hast doch immer noch etwas gegen ihn. Das spür ich doch.«

»Ich habe nichts gegen ihn. Ich mach mir nur nichts aus ihm. Ich habe mir nie etwas aus ihm gemacht.«

»Aber du könntest dich doch ein bisschen anstrengen und, und – – –«

»Was denn und?« 246

»Ach, du verstehst mich schon. Ich hab doch nur dich und ihn und die Kinder noch. Und wer weiss, vielleicht leb ich gar nicht so lang mit meinem Herzen. Heut nacht hab ich wieder nach Luft geschnappt. Und da mein ich – – –«

»Du meinst, ich soll Freundschaft schliessen mit deinem Mann. Aber Kind, er will das ja gar nicht. Er macht sich aus mir noch weniger als ich mir aus ihm.«

»Sag das nicht, Remi!« Sie lächelte ihm zu wie in ihren Mädchentagen, zart und besänftigend. »Sag das nicht. Er hat dich gern, auf seine Art natürlich. Er weiss, dass du mehr wert bist als er. Nicht als wenn er nichts wert wäre. Er ist ein guter Mann und ein guter Vater. Er hat ein bisschen leichtes Blut. Das hat er von seiner Grossmutter, die eine Italienerin war. Ein bisschen leichtes Blut. –«

»Sehr leichtes Blut. Ich will nicht darüber sprechen. Ich will dir nicht wehtun.«

Sie wurde heftiger:

»Aber er ist mein Mann. Ich hab ihn gern, und ich wollte keinen andern. Und er hat mich auch gern. Du weisst nicht, wie das ist; verheiratet sein, zusammen gehören. Wenn ich ihm die paar Dummheiten verzeih, kannst du sie ihm doch erst recht verzeihen.«

Remigius antwortete verdutzt:

»Aber ich bin doch nicht mit ihm verheiratet.«

»Meinst du? Ein bisschen doch. Du gehörst doch zu mir, und darum musst du auch zu ihm gehören. Ein bisschen, nur ein bisschen. Du darfst ihn nicht so verachten. Er hat sich ja nicht selber gemacht. Remi, Lieber, gelt versprich es mir.«

Er versprach es, ohne recht zu wissen, wie er's 247 halten solle. Auch die Spinnen oder die Kröten haben sich nicht selber geschaffen und können nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind, und doch halten wir sie uns vom Leib.

Er versprach es also, und vierundzwanzig Stunden später, da wäre es ihm herzlich lieb gewesen, wenn er mehr Kraft und Willen in dieses Versprechen hineingelegt hätte. Denn da brachten sie Johann Mohl tot heim. Er war in der Grube von fallendem Gestein erschlagen worden. Die Brust war ihm zerquetscht. »Es hat ihm das Herz abgedrückt«, sagte einer von seinen Kameraden. Aber der Kopf und Gesicht waren unversehrt und der Tod hatte dieses hübsche aber gewöhnliche Gesicht mit dem Adel der Vollendung geweiht.

Maria stand mit bebenden Lippen, aber lautlos vor dem Toten, so blass wie er. Dann sank sie dem Bruder ohnmächtig in die Arme. Der Arzt war sehr besorgt als er kam und knurrte etwas gegen den toten Johann Mohl, der genau so rücksichtslos gestorben sei, wie er gelebt habe. »Du musst verdammt zart mit dem armen Ding umgehen, sonst werden die Würmer da bald auch ohne Mutter sein.« Er tat das Seine. Aber es dauerte doch Tage, bis die Frau länger als für eine Viertelstunde aus der Dämmerung auftauchte, die sie umfangen hielt. Es war eine wohltätige Dämmerung. Sie ersparte der Armen die bitteren und erbarmungslosen Tage zwischen Tod und Begräbnis, all die Menschen, all die Reden, alle gutgemeinten Tränen, allen gut gemeinten Trost.

Auch als der Pfarrer kam, lag sie ohne 248 Bewusstsein. So wandte der alte Mann sich an Remigius, den er noch als Knaben gekannt hatte. Er war ein strenger und eifriger Mann. Er wies mit ausgestrecktem Arm und starrem Zeigefinger auf die Totenkammer: »Und wenn du jetzt da lägest?«

Remigius blickte ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann sagte er: »Ach ja, das wäre besser für die Kinder und für meine Schwester. Ein Onkel ist kein Vater und ein Bruder ist kein Ehemann.«

Der Pfarrer erwiderte mit grollender Stimme. – »Aber du? Wo wärst du?« »Nun, ich läge ja da drüben!«

»Hast du wahrhaftig schon verlernt, dass du eine unsterbliche Seele hast?«

»Ich glaube nicht, dass ichs je verlernt hatte. Und wenn ich's einmal vergessen hätte, dann wüsste ich's jetzt wieder. Denn ich bin traurig, und ich glaube, ich bin mit meiner Seele traurig und nicht mit meinem Bauch.« »Aber wo wäre sie denn jetzt, deine Seele, du Tottänzer?«

Jetzt war es Remigius klar, worauf es hinauslief, und ein plötzlicher Zorn wollte ihn packen. Aber er beherrschte sich aus Achtung vor dem alten Mann und seiner Würde. Er sagte nur:

»Ich weiss es wirklich nicht. Vielleicht können Sie es mir aber sagen, Herr Pastor?«

»Das kann ich, und das will ich, du Narr. In der Hölle wäre sie.«

»Im Feld haben wir einmal einen Prediger gehabt, der hat gesagt, man könne nicht einmal von Judas sagen, ob er in der Hölle sei, geschweige denn von irgend einem anderen armseligen Menschen.« 249

»Das ist eine Theologie für Weichlinge, nicht für mich. Wer in der Todsünde stirbt, der ist dem ewigen Feuer verfallen. Basta.« Dieses Basta schrie der alte Mann und bekräftigte es mit einem Faustschlag auf den Küchentisch. Da gab es einen Wehlaut aus der anstossenden Kammer, in der Maria lag. Remigius wollte zu ihr springen, aber der alte Mann war rascher als er. Er hielt der Kranken, die er aus ihrer Dämmerung aufgeschreckt hatte, den Kopf, hob ihr den Eimer hin, als er merkte, dass sie erbrechen musste, wartete geduldig, wischte ihr dann mit seinem grossen, weissen Taschentuch Mund und Gesicht ab, legte ihr den Kopf wieder behutsam in die Kissen und fuhr ihr ganz zart und wie hypnotisierend immer wieder über die blasse Stirne. Sie beruhigte sich, seufzte tief und schlief wieder ein.

Remigius sah voller Staunen zu, wie zart dieser alte Polterer sein konnte, und er verzieh ihm sein Poltern. Auch er hatte sich ja nicht geschaffen. Sie verliessen behutsam das Krankenzimmer. Der Pfarrer flüsterte jetzt:

»Wo sind die Kinder?«

Remigius antwortete: »Bei der Nachbarin!«

»Du wirst dich um sie kümmern?«

»Natürlich!«

Der Pfarrer zog ihn vor die Tür. in den kleinen Vorgarten, wo schmutziger Schnee auf den gestutzten Buchsbaumhecken lag. Er packte ihn hart am Arm und sagte:

»Das ist anständig von dir. Aber das andere! Mensch! Ein junges Mädchen buchstäblich in den Tod hineintanzen.« Der alte Mann in seinem 250 ehrlichen, erbitterten Gram tat dem jungen leid, und so erzählte er ihm alles, wie es gewesen war, erst stockend und dann fliessend, und schliesslich konnte er nicht hindern, dass ihm ein paar Tränen übers Gesicht rannen.

Der Priester sagte:

»So, das war Bekenntnis und war Reue und alles, und ich könnte ein Kreuz über dich schlagen und dir die Lossprechung geben. Aber ich tu es nicht. Ich tu es nur im Beichtstuhl. Ich bin ein alter Mann, der keine neuen Dinge mehr lernen kann, und eh ich eine Lossprechung erteile, hätte ich wohl selber eine nötig, weil ich so hart und so dumm gerichtet habe.«

»Lassen Sie das nur gut sein, Herr Pastor. Ich versteh Sie schon. Nur eins, wer bringt Ihnen denn diese Nachrichten, wer stellt Ihnen so eine Sache im falschesten Licht der Welt vor?« Der alte Mann brummte etwas vor sich hin von dummen Weibern und ging dann mit raschen Schritten in die graue Dämmerung des Dezembertages hinein.

Remigius blickte ihm nach. Da ging ein guter Mann, fromm, selbstlos, voller Verantwortungsgefühl. Aber auch ein wilder, unbeherrschter Mann, der nicht viel anders als ein Heidenpriester der Vorzeit seine Herde verteidigte, mit Zorn und Gewalt. Mein Gott, was sind deine Menschengeschöpfe für seltsame Wesen!

So dachte Remigius, und darum war er auch nachsichtig, als es noch einen völlig unerwarteten Besuch gab. Arthur Thiever kam, im dunklen Anzug, mit schwarzer Krawatte, mit würdiger Trauermiene:

»Ich weiss, Herr Wolf, also ich weiss – – – trotzdem wollte ich nicht versäumen – – Sie 251 verstehen, es ist sehr, sehr traurig. Es häuft sich sozusagen, das Traurige, es ist peinlich, sehr peinlich – –«

Dies war das Wort, das er auch angesichts der toten Beatrix gesagt hatte, und in Remigius stieg eine wilde Lust auf, diesen korrekten Schwätzer, diesen korrekten Krawattenträger, diesen korrekten Autofahrer, diesen korrekten Mädchenverführer am Kragen zu packen und in den Winterdreck hinauszuwerfen. Aber was dem einen recht war, war dem anderen billig. Wenn man einem alten, grauen Pastor mit Nachsicht begegnen musste, warum dann nicht einem jungen, spatzenhirnigen Fant. So sagte er denn:

»Dankeschön, Herr Thiever, Sie sind sehr freundlich. Passen Sie auf, dass Sie sich nicht stossen, wenn Sie hinausgehen. Die Tür ist so niedrig. Und es wird schon dunkel draussen. So, sehen Sie, so geht's.«

Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages wurde Johann Mohl begraben. Die eine armselige Glocke, die der Krieg übriggelassen hatte, läutete jämmerlich aus dem halbzerstörten Turm. Der lange, düstere Zug bewegte sich durch das Ruinendorf, aus dessen Kellern neugierige Kinder blickten. Das Grab war gegraben auf dem Friedhof, der von hunderten von Granaten getroffen worden war. Man hatte Gebeine und Leichenteile sammeln müssen, als der Kampf zu Ende war. Die Kreuze waren zerschossen, und es waren längst noch nicht alle Granatlöcher aufgefüllt. Die alten lateinischen Worte klangen, von der strengen Stimme des Pfarrers gesungen, über den Sarg und das offene Grab. Eines davon hiess: 252

»Antequam nascerer, novisti me«, und Remigius wusste noch aus seiner Messdienerzeit, was das bedeutete; »Bevor ich geboren wurde, hast du mich gekannt.«

Es lag ein starker Trost darin für diesen plötzlichen Tod und für das eigene dunkle Leben.

Der Kaplan, der ihnen damals, vor langer Zeit, die Worte erklärt hatte, hatte gesagt:

»Im Menschenherzen leben zwei Wünsche, der eine ist, ganz verborgen zu sein, wie das Tier im innersten Dickicht des Waldes, und der andere ist, ganz erkannt zu sein, besser als man sich selber erkennt, bis in den allerletzten Winkel, bis in die allerletzte Falte hinein. So erkannt sein, heisst gerettet sein, und so erkennen kann nur Gott. Er aber hat uns erkannt, bevor wir geschaffen wurden. Man singt das über unser Grab, wenn unsere Seele schon in seinen furchtbaren und gnädigen Händen ist, und unser Leib der Auflösung hingegeben wird.«

Gott hatte diesen stummen, leichtsinnigen und doch auf irgend eine Weise liebenswürdigen Johann wohl gekannt, bevor er war, und er hatte ihn leben lassen, obwohl er ihn kannte oder weil er ihn kannte. Wer vermochte das zu sagen? Er hatte diese dunkle und wirre Welt gekannt, bevor er sie schuf. Er hatte gewusst, dass sie dunkel und wirr sein würde und hatte sie doch erschaffen. Er würde sie eines Tages wieder an sein Herz nehmen müssen, so dass sich alle Dunkelheit und Wirrnis löste. Eines Tages, eines Tages – – –

Als Remigius heimkam, fand er seine Schwester mit der Nachbarin und dem kleinen Kind, das der alte Doktor damals mit dem Penicillin gerettet hatte. Sie lag blass und kraftlos in den Kissen und 253 weinte still vor sich hin, ein furchtbares Weinen. Da nahm er sie in die Arme und hielt sie und wiegte sie ganz leise wie ein kleines Kind.

»Ich bin doch bei dir«, sagte er, »und ich bleibe bei dir. Es wird sein, wie es früher war in unserer Kinderzeit. Und jetzt pass auf, jetzt wollen wir doch auch ein bisschen Weihnachten haben. Oder die Kinder sollen es wenigstens haben.« Damit holte er die Weihnachtskrippe aus seiner Kammer und baute sie auf, und er lächelte, als er sah, wie der neue Schäferkarren alles andere überragte und in den Schatten stellte. Sein Neffe stürzte sich auch sogleich darauf und hatte keinen Blick mehr für die Krippe und das heilige Kind. Ein kleiner Johann Mohl. Das Leben würde schon weitergehen. Die beiden Mädchen aber standen stumm und mit hellen Augen vor der Krippe und dem Kind, vor seiner Mutter und dem heiligen Josef, vor den Hirten und ihren Schafen, und dann drängten sie sich an Remigius und verlangten, auf seinen Arm genommen zu werden. Er willfahrte ihnen und trat so vor seine Schwester. »Siehst du«, sagte er, »wir helfen uns.«

Am zweiten Weihnachtstag, gleich nach Mittag, hielt ein Wagen vor der Türe. Céline und ihre Mutter stiegen aus. Das Mädchen strahlte vor Freude, aber dann sah sie, dass Remigius, der ihnen entgegenkam, sehr ernst und blass war. Sie sah auch die schwarze Krawatte, die er trug, und erfuhr dann, was geschehen war. Sie blickte ihn fragend an, und er schüttelte ganz leise den Kopf.

Später sagte er ihr:

»Ich muss hierbleiben. Meine Schwester braucht mich, und unsere Kinder brauchen mich. Du 254 kannst nicht hierherkommen. Es wäre kein Leben, das zu dir passte, und du selber würdest nicht hierherpassen. Du hast geträumt, und ich habe mitgeträumt. Aber jetzt ist der Traum aus. Ich muss jetzt leben und arbeiten. Ich muss jetzt wach sein und wachen über die da.«

Er wies auf die Kinder. »Ach, ich möchte auch gerne glücklich sein. Und ich glaube auch, dass wir zum Glücklichsein auf der Welt sind, aber nicht anders als die Blüten zum Fruchtbringen. Zehn von hundert kommen so weit nicht mehr. Und ausserdem gibt es vielleicht auch noch ein Glück, das nicht diesen Namen trägt, das überhaupt keinen Namen trägt, ein Glück mit stummem Mund und mit Tränen in den Augen.«

Vor Abend besuchte Remigius das Grab Beatricens. Es war das erste Mal. Er zeichnete langsam und feierlich ein Kreuz darüber, und dann stand er lange davor. Was war Leben, was war Tod? Wer da ist, muss versuchen, gut zu sein. Das ist alles.

 


 


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