Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Es fehlte aber in den Niedschiffen auch nicht an dunklen und unheimlichen Kabinen. Es wäre ja sonst kein Gefährt für das ewig spintisierende Volk zwischen Mosel und Saar gewesen.

Remigius las die

Geschichte von dem verhexten Haus
in Rupeldingen.

Nachts griff da eine Mutter neben sich, um ihr Kind in der Wiege zu fühlen. Sie meinte, es im Halbschlaf wimmern gehört zu haben. Aber das Kind war nicht da. Sie stiess einen erschrockenen Schrei aus, der ihren Mann weckte, so dass er gleich ihr aufsprang. Sie zündeten das Öllicht an, das an ihrem Bett stand, und begannen, in seinem ungewissen Schimmer zu suchen. Das Kind lag im äussersten Winkel der Kammer, die weit und gewölbt war, da das Haus zu einem früheren Klosterbau gehörte. Es wimmerte leise vor sich hin, und in seinen Augen stand ein grosser Schrecken. Es war aber ein Kind von vier Monaten, das natürlich weder gehen noch kriechen konnte, geschweige denn, dass es vermocht hätte, aus der 133 Wiege zu steigen. Die Eltern dachten an nichts Böseres, als dass die Magd in die unverschlossene Kammer geschlichen sei, um ihnen diesen boshaften Schabernack zu spielen, vielleicht aus Rache dafür, dass sie am Abend nicht hatte zum Tanz gehen dürfen. Sie wollten sie am anderen Morgen zur Rede stellen. Sie verriegelten jetzt die Türe und nahmen das Kind, aus dem dunklen Gefühl, es noch besser schützen zu müssen, zwischen sich. Das hinderte aber nicht, dass sie es noch ein zweitesmal suchen mussten. Sie fanden es jetzt unter einem der schweren Eichenschränke, die in der Kammer standen, fast wie hinuntergezwängt und diesmal schrecklich weinend. Da war es ihnen klar, dass der böse Geist im Spiel sei. Sie segneten das Kind und das Lager, sich selbst und die ganze Kammer mit Weihwasser und blieben wach, bis der Morgen dämmerte. Dann schliefen sie noch ein wenig, und es geschah nichts mehr. Bei der Morgensuppe schien es ihnen, als wenn die Magd verstohlen nach dem Kind hinblinzele, neugierig und boshaft zugleich. Sie gaben nicht viel darauf, wenn sie auch nichts von dem erzählten, was geschehen war. Am Abend beteten sie ein langes und herzliches Abendgebet, in dem sie besonders um Schutz gegen die Umtriebe des Satans flehten, sprengten wieder geweihtes Wasser und begaben sich dann immer noch sorgenvoll zur Ruhe. Sie hatten noch nicht sehr lange geschlafen, da erwachten sie von einem furchtbaren Krach, dem sogleich ein wahrhaft entsetzliches Weinen des Kindes folgte. Sie entzündeten das Licht, so rasch sie es mit zitternden Händen vermochten, und sahen zu ihrem unsäglichen 134 Schrecken, dass sich aus dem festen Gewölbe der Kammer ein Schlusstein gelöst hatte und dicht neben der Wiege des Kindes zur Erde gestürzt war. Sie legten sich jetzt nicht mehr schlafen, sondern gingen mit dem Kind in die Küche, die kleiner und heimeliger war. Da sassen sie neben dem noch nicht völlig verloschenen Herd und hielten es abwechselnd auf dem Arm. Beim Tagesgrauen aber sattelte der Bauer sein Pferd und ritt nach Bionville, dessen Pfarrer Toussaint im Geruch stand, »etwas« zu können, das heisst also: Herr zu sein über jene mitternächtliche Welt, die jetzt in das friedliche Bauernhaus eingebrochen war. Nach zwei Stunden war er zurück und berichtete, der Herr komme, und als es Mittag läutete, da war er da. Ein kleines, verhutzeltes Männlein in einer grünlichen Soutane war es, das da aus dem leichten Kutschwagen stieg und sich mit spitzen Fingern eine Prise nahm. Dann betrachtete er das alte Haus, nickte, schüttelte auch einmal den Kopf und betrat dann die Küche, an deren Eingang ihn die Frau mit dem Kind erwartete, das sie noch nicht vom Arm gelassen hatte. Er tätschelte ihm mit seiner dürren Greisenhand die Wange, machte ein paarmal t t t t dazu und sagte zu der Frau: »Ja, ja, ja! Es gibt böse Dinge auf der Welt!« Dann ging er weiter und traf die Magd. Er sah sie scharf an, worauf sie einen roten Kopf bekam und völlig unsicher wurde, sodass sie einmal die linke und einmal die rechte Hand in die Höhe hob und sich einmal durchs Haar und einmal durchs Gesicht fuhr. Er aber blickte sie unentwegt weiter an, um ihr dann ganz plötzlich, mit einer Raschheit, die man dem alten Mann nie zugetraut hätte, ein paar 135 ungeheuere Ohrfeigen zu geben. Es knallte und knallte nochmals und das dralle Gesicht der Magd, das schon rot gewesen war, färbte sich jetzt purpurn und blau. Sie schrie wie ein wütendes Raubtier und machte einen Augenblick Miene, ihrem Züchtiger mit den Krallen ins Gesicht zu springen. Aber er bändigte sie mit einem Blick, so dass sie zusammensank und auf einem Schemel niederkauerte. Er liess sie und ging, ohne zu fragen, in die Kammer, in der die nächtlichen Dinge geschehen waren. Er schnupperte ein wenig wie ein Hund, der auf eine Fährte gesetzt wird, machte ein paarmal Hm! Hm! und zog dann seine Stola heraus. Er betete lange, machte das Kreuzzeichen und machte es wieder und liess dann ein paar grossartige Spritzer Weihwasser auf die Lagerstatt des Ehepaars und des Kindes fallen. Dann steckte er die Stola in die Tasche, nahm bedächtig und umständlich eine Prise und sagte: »So, Bauer, das hat man davon, wenn man den verliebten Augen der Magd nicht gleich und immer kühl und stark begegnet. So, Bäuerin, das hat man davon, wenn man sich vor einer Magd, vor einem jungen Ding, das vor Lebensgier platzt, der Liebe seines Mannes rühmt. Viel anders nicht, als es auch ein unvernünftiges Tier könnte.« Klatsch, klatsch, hatte auch jedes der beiden seine Ohrfeige, ohne sich sehr stark zu wundern übrigens.

»So, das hätten wir!« sagte er. »Hoffentlich habt ihr jetzt für einen alten Mann etwas Ordentliches zu essen und zu trinken. Hab's verdient, wie mir scheint.« Er bekam beides, bekam eine gute Kaninchenpastete und ein Hähnchen mit Pommesfrites und Salat, und Käse von Brie und eingemachte Mirabellen, und bekam einen Vin gris und einen 136 Burgunder, und süssen, schwarzen Kaffee und einen Mirabelle. Und dann fuhr er davon. Aber in der letzten Minute lief er noch einmal in die Küche zurück, fuhr der Magd, die immer noch wie verzaubert auf dem Schemel kauerte – man sagte dem Abbé Toussaint nach, er könne die Leute bannen, das heisst, an irgend einem Ort festhalten gegen ihren Willen – er fuhr ihr also zart übers Haar und sagte: »Komm, du fährst mit nach Peltres zu den Schwestern. Da wirst du jetzt am besten auf gehoben sein.« Sie folgte, ohne ein Wort zu erwidern. Sie blieb dann in Peltres und soll eine fromme und treue Magd der Ordensfrauen geworden sein. In Rupeldingen aber geschah nichts Unheimliches mehr.

Ein Schatz von Geschichten beider Art

stand in dem Kalender, und Remigius ergötzte sich daran wie an einem guten, lothringischen Essen. Wie dabei, fehlte es auch hier nicht an Vorspeise, Hauptgang, Käs und Früchten, und wie bei jenem, konnte man auch hier nach freiem Belieben bei dem einen oder dem anderen länger verweilen. Konnte es eine grössere Lust geben, als die, inmitten des niederrauschenden Herbstregens in der Einsamkeit zu sitzen, geschützt und umhegt und mit einem Vorrat von Lektüre versehen, bei dem es einem wahrhaftig werden konnte, als wenn die Mutter einem erzähle oder eine der guten, alten Tanten, die es vor langen Jahren so gut verstanden. Er las noch beim Licht der Laterne, und er meinte, so vergnügt sei er seit langem nicht gewesen. Er musste sich schliesslich zwingen aufzuhören, und behielt dann den guten Geschmack eines Gedichtes auf der Zunge. 137

Ich gehe übers Land
An einem Schlehdornstecken,
Der grüsst am Wegesrand
Die schwesterlichen Hecken.

Er möchte blühn wie sie
Und blaue Früchte bringen
Und eine Melodie
Ins krause Haar sich schlingen.

Doch muss er mit mir gehn
Die weiten, stillen Wege
Und an der Kirchtür stehn,
Wenn ich will Gott entgegen.

Doch der kann uns zugleich
Zu neuem Leben wecken,
Dass wir in seinem Reich
Blühn an den Strassenhecken.

Wohl ein Dutzend Kalenderbände waren es, und Remigius war glücklich damit, wie einer, der eine reiche Erbschaft angetreten hat und sicher sein kann, sie in ganz langer Zeit nicht zu erschöpfen. Er blickte noch einmal auf das Titelblatt mit seinen bunten Farben und seinen reichen Figuren und freute sich noch einmal an den grinsenden Hechten. Deshalb wohl auch träumte er in der Nacht, er sitze an der Nied, die er gut kannte, und hole Fisch um Fisch aus seinen träumenden Wassern.

Am anderen Morgen regnete es immer noch, aber was konnte der Regen einem Mann anhaben, der in dem Schäferkarren sass und noch gut zehn Bände des Kalenders für das christliche Landvolk Lothringens, das Niedschiff genannt, zu lesen hatte. Warum es nicht gestehen: Der unwürdige Schreiber dieser wahrhaften Geschichte aus der Zeit hat sich 138 in diesen zeitlosen Kalender so sehr verliebt, dass er am liebsten selber noch tagelang darin blättern und seinen Lesern davon erzählen möchte. Etwa:

»Wie der Mirabelle des Curé von Varize in das Taufbecken geriet und wie beinahe damit getauft worden wäre.«

Oder:

»Wie der Hufschmied von Teterchen einen Maulesel beschlug und daraufhin die Tochter des Vicomte von Ausy heiratete!«

Oder:

»Wie einer Schnecken nach Metz brachte und einen Affen heim.«

Oder:

»Wie einer nach Busendorf beichten ging, um seinem strengen Pfarrer zu entgehen und dabei dem strengsten Kapuziner des Landes in die Hände fiel.«

So gibt es noch Dutzende von Titeln.

Und dann gibt es Ratschläge für unglücklich Liebende und für solche, die an Gelbsucht leiden. Heilmittel gegen Eifersucht und gegen den Schwamm im Hause, gegen die Mürrischkeit der Ehegatten und gegen Bettnässen der Kinder. Nein, nein, der Schreiber muss sich losreissen, wie Remigius selber am Abend. Ihm ist aufgetragen, die Geschichte vom Schäferkarren zu erzählen, und er hat keineswegs das Recht, sich in der bescheidenen Bibliothek des Schäferkarrens zu verlieren. Vielleicht hätte er dabei die Leser auf seiner Seite, aber wie man an den besten und zur Zeit berühmtesten Beispielen sieht, darf ein ordentlicher Schriftsteller sich durchaus nicht vom Vergnügen seiner Leser leiten lassen.

Im übrigen war es Remigius an diesem Morgen nicht vergönnt, lange zu lesen, denn in seine Lektüre fuhr ein Auto hinein. Es kümmerte ihn nicht 139 sehr. Da unten im Tal gab es Autos genug. Kein Mausfallenhändler kam ohne so ein ratterndes Gefährt aus. Aber dieses hier schien es auf ihn abgesehen zu haben. Es hielt. Zwei Männer stiegen aus, zogen den Kragen hoch vor dem Regen, zogen den Hut in den Kopf und stapften auf den Schäferkarren los. Remigius empfing sie in der offenen Türe. Sie grüssten ihn, und der Jüngere, der wohl auch der Untergebene war, sagte:

»Wir wollen zu Ihnen. Sie hätten sich auch ein weniger quatschiges Gelände aussuchen können.«

Remigius war noch so in den Geist des Niedschiffs versunken, dass er diesen Ausspruch für einen freundlichen Scherz hielt, obwohl ihn der Ton hätte anders belehren können. So antwortete er:

»Ja, warum haben Sie bei dem schlechten Wetter auch nicht telefoniert?«

Der junge Herr, der seine lehmbeschmutzten Schuhe und Hosen empört betrachtete, bekam ein rotes Gesicht – rote Haare hatte er schon – und dann sagte er in einem Ton, den Remigius seit einem guten Jahr nicht mehr gehört hatte:

»Machen Sie keinen Quatsch. Wir sind amtlich hier.«

Remigius erwiderte lächelnd:

»Ich auch.«

Da brüllte der andere:

»Nehmen Sie sich zusammen. Dies ist der Bürgermeister von Iplingen und ich . . .«, Remigius unterbrach ihn:

»Sie, Sie sind sicher der Lautsprecher von Iplingen.«

Der Herr Bürgermeister grinste ein wenig, aber er verbarg es sogleich hinter einer besonders 140 strengen Miene. Wie es schien, hatte er nicht übel Respekt vor seinem Sekretär oder was es sein mochte. Der Sekretär aber brüllte:

»Ich werd Ihnen, Sie Flegel. Verhaften werd ich Sie lassen; einsperren werd ich Sie lassen; überprüfen werd ich lassen, ob Sie sich überhaupt zum Schäfer eignen. Das ist ein für die Volksernährung wichtiger Posten. Wir können da keine Schlawiner gebrauchen. Verstanden?«

Remigius antwortete, immer noch lächelnd – wie herzstärkend doch ein paar Tage der Ruhe und Einsamkeit sind –

»Jawohl, Herr Feldwebel!«

Er hatte aber schon während der Schimpfrede des Fremden seinen Hund herbeigepfiffen. Der stand jetzt neben ihm, fletschte die Zähne wie ein Wolf und wartete darauf, an den Fremden zu springen. Das machte den Wütenden auf der Stelle sanftmütiger. Er sagte – diesmal mit ganz liebenswürdiger Stimme:

»Bitte, halten Sie doch den Hund zurück. Mein Name ist übrigens Has.«

Remigius nannte seinen Namen.

»Ich heisse Wolf«, sagte er, »aber ich heisse wirklich so, ich will Sie nicht aufziehen. Und wegen dem Hund können Sie ruhig sein. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht hereinholen kann. Aber der Karren reicht wirklich nur für einen Schäfer. Für einen Wolf, einen Has und noch einen Bürgermeister ist er wirklich zu klein. Und was wollen Sie nun?«

Die beiden schlugen die Kragen noch höher auf, steckten die Hände fröstelnd in die Taschen, und diesmal antwortete der Herr Bürgermeister selber: 141

»Wir sind gekommen, um Ihre Herde zu erfassen. Die muss nämlich erfasst werden, wissen Sie. Denn die Schafe sind wichtig, wissen Sie. Ich selber, wissen Sie, ich als Bürgermeister sozusagen, ich lege sehr grossen Wert auf Schafe. Aber es gibt Schafe und Schafe, wissen Sie –«

Der Sekretär unterbrach ihn:

»Wenn Sie gestatten, Herr Bürgermeister, so handelt es sich also um eine statistische Erfassung der Herden mit dem Ziel ihrer Höherzüchtung.«

Er zog einen Bogen heraus, schützte ihn mit seinem Mantel gegen den Regen und las dann:

  1. Anzahl der Tiere,
  2. Wieviel weibliche, wieviel männliche,
  3. Namentliche Aufzählung aller Tiere mit Alter, Gewicht, Charakter, bei weiblichen Tieren Trächtigkeitsdatum,
  4. Durchschnittsgewicht,
  5. Durchschnittsfruchtbarkeit,
  6. Durchschnittsalter der Widder,
  7. Durchschnittsalter der Mutterschafe,
  8. Durchschnittsfleischertrag in den letzten sieben Jahren,
  9. Durchschnittswollertrag in den letzten sieben Jahren,
  10. Verhältnis vom Fleischertrag zum Wollertrag,
  11. Namentliche Aufzählung der Verluste in den letzten sieben Jahren,
  12. Berechnung des Wollausfalls,
  13. Berechnung des Fleischausfalls,
  14. Verhältnis des Wollausfalls zum Fleischausfall,
  15. Prozentualer Anfall von Fleisch und Wolle auf den Kopf der Bevölkerung des Amtes,
  16. Amtsdauer des Schäfers im Verhältnis zum Ertrag der Herde, 142
  17. Amtsdauer des Schäfers im Verhältnis zu den Ausfällen der Herde.

»Sie sehen«, sagte er dann, »dass wir uns auf die wesentlichsten Fragen beschränkt haben. Wir hätten sonst natürlich noch über den Wollertrag im Verhältnis zur Trächtigkeit, über das Verhältnis des Wollertrags bei den Widdern zu dem bei den Muttertieren, über das Verhältnis der Sterblichkeit bei den einen zu der bei den andern, über Verhalten bei Nahrung aus dem Kalkboden hier und aus dem Sandboden unten, über den Einfluss trockener und nasser Jahre auf Gewicht, Wolle und Trächtigkeit, über mögliche Beziehungen zwischen dem erhöhten Auftreten des Kartoffelkäfers und erhöhter Sterblichkeit, über das Verhältnis des Körpergewichtes der Widder zu ihrer –, na ja, wir hätten also auch diese und viele andere Fragen noch stellen können. Aber wir haben uns vom Papierkrieg freigemacht. Wir sind grosszügig und halten uns an das Wesentliche.«

»Nur an das Wesentliche«, warf der Herr Bürgermeister dazwischen.

– »Also nur an das Wesentliche, und so muss es also bei den siebzehn Fragen bleiben. Das heisst, es ist Ihnen natürlich völlig unbenommen, Dinge, die Ihnen selber noch wichtig erscheinen, zur Sprache zu bringen. Aber die siebzehn Fragen, die wir – das kann ich wohl sagen – wissenschaftlich ausgearbeitet haben, müssen natürlich auf das genaueste und gewissenhafteste beantwortet werden. Und da die Arbeit sehr drängt, wäre es gut, wenn es gleich geschähe. Sie haben gewiss Unterlagen, auf Grund derer Sie das können. Wir können den Weg nicht zweimal machen.« 143

Der Herr Bürgermeister sagte:

»Sie haben sicher Unterlagen. Unterlagen sind Unterlagen, wissen Sie. Da ist nichts zu sagen, wissen Sie.«

»Nein, da ist nichts zu sagen«, erwiderte Remigius.

Er betrachtete die Herde, die sich jetzt im Regen aneinanderdrängte, betrachtete das weite Land, dessen schwermütiges Gesicht vom Regen wie von Tränen übergossen war. Er bedachte die gesegneten Stunden seiner Einsamkeit und all das, was sie ihm gebracht hatten, die Begegnung mit der lothringischen Frau und ihrer Tochter, die nächtliche Wallfahrt der Frauen, diese ganze Welt der Stille und des Geheimnisses, und dann sah er diese beiden Männer vor sich, die die kranke Welt wissenschaftlich heilen und erneuern wollten, mit einer wissenschaftlichen Amtlichkeit oder einer amtlichen Wissenschaft. Es kam auf eines heraus. Er schüttelte den Kopf, worauf der Sekretär erschrocken fragte:

»Wie, haben Sie die Unterlagen etwa nicht? Das ist doch unmöglich. Dies ist doch ein Ernährungsbetrieb sozusagen, da müssen Sie doch Unterlagen haben.«

Der Bürgermeister sagte:

»Unterlagen müssen Sie haben, wissen Sie. Unterlagen sind Unterlagen.«

»Ja, ja«, nickte Remigius, »und weil Sie selber gekommen sind; und auch noch im Regen, Herr Bürgermeister, sollen Sie sie haben. Schade nur, dass Sie nass werden dabei. Das Verhältnis der amtlichen Arbeit bei nassem Wetter zu dem bei trockenem, wissen Sie! – –« 144

Und dann griff er in seine Schäferbibliothek hinein und fing an vorzulesen, ein bisschen wie ein Schüler, den der Lehrer aufgerufen hat, langsam und mit schöner Betonung.

»Schafe zu ziehen, gehört wie jedermann weiss, zu den ältesten Künsten der Menschheit. Ueberall, wo die wilderen Sitten den zahmeren weichen, geht das Aufkommen der Schafzucht mit dieser freundlichen Entwicklung Hand in Hand.«

Die beiden Zuhörer waren masslos erstaunt, und der jüngere sagte erschrocken abwehrend:

»Mein Gott, fangen Sie doch nicht bei Adam und Eva an!«

Aber Remigius las unentwegt weiter:

»Als der sanfte Abel Gott dem Herrn ein Opfer darbringen wollte, nahm er ein ganz junges Lamm, das ohne Fehl war, und der Herr hatte sein Wohlgefallen daran. Als der Erlöser der Menschen mit seinen Jüngern das Abschiedsmahl feiern wollte, liess er ein Lamm zubereiten, und folgte dabei der uralten Sitte des jüdischen Volkes, das Passahmahl gleichfalls mit einem Lamm zu begehen.«

»Menschenskind«, sagte der Sekretär, »halten Sie uns doch keine Bibelstunde. Machen Sie uns Ihre Angaben und damit fertig.«

Remigius erwiderte:

»Sie sind so ungeduldig, warum nur? Aber ich will gerne zum Wesentlichen kommen:

In Lothringen ist die Schafzucht so alt, wie wir zurückblicken können. Funde aus der frühesten Zeit beweisen klar, dass unsere keltischen Vorväter ihr Leben mit den Schafen teilten, und als die Römer ins Land kamen, sahen sie in diesen nützlichen Tieren nichts anderes als alte Bekannte.« 145

Der Sekretär unterbrach ihn:

»Herr Wolf, ich sehe, dass ich mich in Ihnen getäuscht habe, Sie sind ein Mann von mancherlei Bildung. Wer weiss, was Sie zu dieser Herde verschlagen hat. Aber wir können doch jetzt nicht alles hören. Wir werden übrigens auch nass. Der Herr Bürgermeister ist ohnehin schon erkältet. –«

Der Herr Bürgermeister hustete gehorsam. – »Kommen Sie doch um Gottes willen zur Neuzeit und zu dem, was uns interessiert.«

Remigius schüttelte den Kopf:

»Ungeduld, Ungeduld! Aber ich will Ihnen gerne willfahren. Es scheint auch wirklich Regen zu geben, und ich möchte nicht, dass Sie nass werden! – Die beiden troffen schon vor Nässe – Also: Herzog Johann der Gute verhandelte mit dem Bischof von Metz, der grosse Schafherden auf den Weiden des Pays Messin besass, wegen der Lieferung von tausend Schafen für sein Heer. Aber der Bischof wies darauf hin, dass seine Schafe Wollschafe seien, und dass ihre Wolle jetzt im hohen Sommer nie an ihren Wert kommen könne.

Bei dieser Gelegenheit weise ich zum ersten Male auf den grundlegenden Unterschied zwischen Wollschafen und Fleischschafen hin. Ich werde noch ausführlich darauf zurückkommen müssen.

Der Herzog Johann, dem die Verpflegung seiner Truppen – – –«

Hier flohen die beiden Herren. Der Bürgermeister hustend, der Sekretär unter greulichen Flüchen.

Remigius schüttelte nachsichtig den Kopf. Er konnte durchaus nicht verstehen, dass der kluge, wenn auch etwas ausführliche Traktat des Abbé Simminger aus Metzerwies »über die Schafzucht 146 in Lothringen« solche Wirkungen hervorbringen konnte.

Aber die Fragen der Herren hatten ihm soviel Vergnügen gemacht, dass er sich einige ähnliche aufschrieb.

Ueber das mögliche Verhältnis der Bürokratie zu Wahnsinnsausbrüchen der Bürger.

Ueber das Auftreten der Schwindsucht im Gefolge der Sekretäre – und andere.

Aber dann setzte er sich wieder hinter seine Kalender und las und las, indes der Regen nicht aufhörte, auf das Dach zu trommeln und zur Erde niederzurauschen.

Er las die Wettervoraussagen für Jahre, die längst vergangen waren. Was mochte in jenem heissen Sommer des Jahres 1893 alles geschehen sein oder in dem sehr nassen Herbst des Jahres 1888. Oder war die Voraussage garnicht eingetroffen, wie so manche Voraussage. Er las die Ratschläge für die Landwirtschaft und wünschte sich von Herzen, er sässe irgendwo an der Nied und hätte ein kleines Bauernwesen, wo er diese Ratschläge befolgen könnte. Und er las schliesslich eine bittersüsse Liebesgeschichte von einem Chasseur, der nach fünf Jahren aus Afrika zurückkam. Da hatte sein Mädchen geheiratet und hatte schon zwei Kinder bekommen und war schon gestorben. Da schlossen sich die beiden Liebhaber zusammen, um für ihre Kinder zu sorgen. Am Abend sassen sie zusammen auf der Bank, die zwischen ihren Gärten stand. Der Chasseur erzählte von Afrika, seiner Wüste und seinen Oasen, der andere von seinen weiten Fuhrmannszügen über Land und beide erzählten sie immer wieder von der toten Liebsten. 147 So wollten sie aber zusammenbleiben bis zum Ende ihrer Tage.

Darüber wurde er inne, wie vom Grund all dieser Tage herauf das Bild Beatrixens leuchtete, immer nur dieses eine, gegen allen Willen und gegen alles Eingeständnis immer noch geliebte Bild. Céline, das Mädchen aus Lothringen, hatte ihm sehr gefallen. Aber es war doch noch ein kindliches Mädchen, ein Mädchen – Kind, und Beatrix war mit ihren Fehlern, ihrer Unzuverlässigkeit und ihrer Verräterei – ach ja, es war Verrat, wenn kein grosser, dann ein kleiner – eine ganz wirkliche Frau gewesen, und – noch einmal, trotz allem, trotz allem, – eine wunderbare Frau. Zum ersten Male jetzt flossen ihm die Tränen um sie. Mochte der Tod sie dahin entrückt haben, wo sie unverletzbar und ungefährdet blieb, er hatte ihr doch auch ihre warme, blühende Leiblichkeit genommen, den Glanz ihrer Augen und den Schmelz ihrer Haut, die Vollendung ihrer Glieder und die spöttische Zärtlichkeit ihrer Bewegungen. Er wusste, was aus all dem da unten im Tal wurde. Er kannte das hundert- und aberhundertfach aus dem Krieg. Es war furchtbar und grausam über die Massen. Ob es nicht doch besser und würdiger und befreiender war, die Toten den Flammen zu geben? Wenn die Kirche es verboten hatte, dann war es wohl vor allem, weil viele Menschen, die es anstrebten, damit gegen die Kirche und die Auferstehung der Toten und den lebendigen Gott selber anzugehen gedachten, dummer und lächerlicherweise, und dennoch ganz wirklich. Aber das musste ja nicht bleiben. Eine gute Sache musste nicht in den Händen von Narren oder Fanatikern bleiben, und dann würde eines 148 Tages der Priester das Kreuz auch über die reine Asche schlagen können, die der Wind in die Lüfte wehte, den Wolken und der Sonne entgegen.

Aber der dies dachte, war zu sehr ein Sohn dieser schweren, fruchtbaren Erde, als dass ihm nicht sogleich hätte der Gedanke kommen müssen, der Mensch gehöre der Erde und nicht dem Wind und nicht den Wolken. Was sie genährt habe, müsse auch ihr wieder zurückgegeben werden, und was grausam daran sei und bitter, sei eben Grausamkeit und Bitterkeit des Lebens, der man nicht entgehen könne, ohne das Leben selber zu verfehlen. Vielleicht hatten die alten Jägervölker ihre Toten verbrannt, da sie an keiner Stätte blieben. Aber hier, wo sie seit unvordenklicher Zeit die Saat in die gleiche Erde hineingesenkt hatten, wollten sie gewiss immer auch ihre Toten in die gleiche Erde hineinsenken, auch als eine Saat in die Dunkelheit, ins Unbekannte hinein –, auch in der Hoffnung auf Ernte in einem kommenden goldenen Herbst.


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