Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Er schritt in die Dämmerung hinein und wusste immer noch nicht, wohin er seine Schritte lenken solle. Aber dann wusste er, dass er auf dem Weg nach der Höhe war, nach einem jener Bergdörfer, die an der lothringischen Grenze gelegen, selber schon völlig vom stilleren und seltsameren Geist des lothringischen Landes geprägt sind. Da freute er sich über seinen Weg, denn er liebte das Dorf und er hatte darin einen alten Freund, den er seit dem Krieg nicht wiedergesehen hatte. Er schritt rüstig aus und bald hatte er das Tal hinter sich gelassen. Es war ein ruhiges Land, über das er jetzt dahinwanderte, da und dort ein einsamer Hof, da und dort eine Baumgruppe, irgendwo am Rande der schwarze Wald, und über allem stieg jetzt gerade der volle Mond empor, ein wenig traurig, ein wenig wehmütig, aber doch mit der tröstenden 48 Gelassenheit der ewigen Dinge. In diesem zarten Licht daherzugehen, in diesem nie versinkenden Licht so lang versunkener Tage, das war nun endlich wie ein richtiger Heimweg. Mein Gott! Da unten in dem zerstörten Dorf, in dem es keine Mutter mehr gab und kein Vaterhaus, in dem selbst die hohen alten Bäume verstümmelt und verdorben waren, da war er trotz der Treue der Schwester, trotz den Kindern, die er so gern hatte, immer noch nicht frei von dem Gefühl geworden, dass dies eigentlich nur ein Traum sei, aus dem man doch endlich wiedererwachen müsse. Aber dies hier war die wahrhaftige Heimatstube, in der kein böser Traum aufziehen konnte. Ihre Mauern standen unerschüttert und der Mond, der jetzt schon stärker zu leuchten begann, war wie die freundliche alte Lampe, die die Mutter an den Abenden der alten Zeit angezündet hatte. Fast hätte Remigius angefangen eines der alten Lieder zu singen, die er in solchen Abendstunden wohl von ihr gehört hatte. Aber das Land war zu still auch noch für eine leise singende Stimme.

Es war schon ziemlich spät, als er am Haus des Freundes ankam. Aber das Licht brannte noch und als er pochte, tat sich ihm alsbald die Türe auf. Sie führte gleich von der Strasse in ein enges Gemach hinein, dem man ansah und anroch, dass es eine Schusterwerkstatt war, und der Mann, der im Schein der hellbrennenden Lampe stand, war ein Schuster, so richtig wie nur irgendwo und irgendwann einer gewesen sein mochte. Er hatte eine dicke Brille auf der schmalen Nase. Ueber seiner übermässig hohen Stirn wuchs ein unbändiger Haarwald auf. Der Mund war gross und 49 hielt eine kurze Pfeife mit sehr heimatlich duftendem Knaster. Der Mann hatte eine Schürze vorgebunden und war im übrigen in Hemdsärmeln. In der einen Hand trug er einen Schuh, der wie ein erschreckendes Bild der schlechten Zeit erschien, so krumm und verbeult und vielfältig zusammengeflickt war er.

Das alles sah der Eintretende mit einem Blick und er lachte vor sich hin. Hier war wirklich noch nicht alles zerstört, was vor der grossen Zerstörung das Leben gut gemacht hatte.

Er trat einen Schritt näher ins Licht. Da liess der Mann den Schuh fallen, dass er auf den Steinboden klatschte.

»Remigius, Remigius. Gott sei Dank, dass du im Land bist. Ich habe schon so lang auf dich gewartet.«

Sie schüttelten sich die Hände, und als dann der Schuhmacher Christoph Biehl zum Tisch hinhinkte, um dem Freund einen Platz zu richten, da war der wirklich zum erstenmal daheim seit sehr langer Zeit. Aber der Schuh, der gefallen war, wurde wieder aufgehoben. Er brauchte noch eine gute halbe Stunde Arbeit.

»Das hab ich versprochen. Der Caspar Riehm nebenan muss ihn haben morgen früh um halb fünf. Er hat eine halbe Stunde Weg bis zur Strassenbahn, und wenn er schon mit nassen Füssen in ihr sitzen soll, ist der ganze Tag durchfroren und verdorben.«

Remigius sah sich um. Es gab Berge von zu heilenden Schuhen, und es waren wahrhaftig Elendsberge. über die Kinderschühlein, die etwas herausragten, hätte man wahrhaftig weinen können, so erbärmlich waren sie, und die Schuhe der 50 Grossen, der Männer und Frauen, sahen alle so aus, als wenn sie schwere und weite Wege gegangen wären.

»Siehst du, mein Alter,« sagte Christoph, »da kommt das ganze Dorf hereinspaziert, weil es sonst nicht mehr weiter spazieren könnte. Und es ist doch sehr gut auf dieser Welt, auf der so viele nichts anderes können als kaputtschlagen, ein bisschen zu heilen und zu flicken. Ich hab kein Leder und hab keine Nägel und keine Pinnen. Oder hast du vielleicht da unten bei euch einen Schuster gesehen, der etwas davon hat? Und ich mach es doch, ich mach es doch. Und morgen früh wird der Caspar trockenen Fusses seinen Weg machen. Und wenn er dem ersten Menschen begegnet an diesem Morgen, einem, der ebenso früh heraus muss und es ebenso schwer haben wird den langen Tag hindurch, dann wird er vielleicht lachen anstatt zu fluchen. Und das ist doch etwas Gutes. Siehst du noch Menschen, die zufrieden sind, Remigius? Selten, sehr selten, denk ich. Aber sieh mich an, dann hast du einen. – –

So, und nun langt es. Die Kinder haben keine Schule morgen. Sollen ruhig in den Tag hineinschlafen. Eine Stunde Schlaf ist mehr als ein tüchtiger Bissen Butterbrot und ein langer Zug aus der Milchtasse. Sollen schlafen morgen früh. Derweil seh ich, was aus diesen armen Schuhruinen noch zu machen ist.«

Remigius erzählte ihm kurz, wie es zu dem Auszug da unten gekommen war. Der Freund liess ihn erzählen, ohne ihn auch nur mit einer Silbe zu unterbrechen. Aber als er fertig war, sagte er:

»So eine Schweinerei. Aber das ist doch einmal 51 eine, von der ein Mensch etwas hat. Ich nämlich, dass ich dich endlich wieder zu sehen bekomme. Du, dass du einmal wieder hier heraufkommst. Es hat dir immer gut getan. Das weisst du.«

Er reichte ihm seinen Tabak hin.

»Das ist alles, was ich dir geben kann. Es wäre denn grad, du hättest noch Hunger. Brot ist da und Milch auch noch. Nur Schnaps und Viez auch nicht ein Tropfen. Geht auch so. Dass unser Dorf stehengeblieben ist, mit seiner Kirche, seiner Schule und all seinen Häusern, dass wir dasein und leben und ein bisschen helfen können, das macht mich immer wieder so froh wie kein Wein der Welt. Aber du könntest wohl eine Aufmunterung brauchen. Sehr froh scheinst du nicht gerade zu sein.«

Remigius erzählte ihm zögernd die Geschichte mit Beatrix, und der Freund, der hinkte und hässlich war, sagte:

»Ach, das arme Ding. Es ist nicht gut, schön zu sein. Aber man kann sich eben beides nicht aussuchen, das Schönsein nicht und das Hässlichsein auch nicht, und man muss mit dem einen wie mit dem anderen fertig werden. Stell dir mal vor, dass ich mich in so ein hübsches Mädchen verliebe. Das ist ja dann noch hundertmal schlimmer.«

Er spottete noch eine Weile über sich selber, aber Remigius spürte, dass dieser Spott ohne Bitterkeit war und im Grunde aus einem fröhlichen Herzen kam. Sie redeten die halbe Nacht miteinander, über Gott und die Welt und als sie aufstanden, um schlafen zu gehen, – Christoph Biehl wollte dem Freund sein Bett lassen und selber in der Küche schlafen, aber der gab es nicht zu – als sie also schlafen gingen, da hob der Schuster die 52 Arme, als wenn er sich recken wolle, um Luft genug für die ganze Nacht in die Lunge zu bekommen. Aber – so lächerlich es klingen mag – es war auch etwas von Anbetung und Danksagung in der Bewegung des kleinen Mannes. Er sagte:

»Es ist furchtbar auf dieser Welt. Aber es ist doch auch gut; ich jedenfalls, ich bin froh, dass ich da bin.«

Remigius dachte über diese Worte nach, als er sich in der alten verräucherten Küche zur Ruhe niederlegte. Er fragte sich, ob er sich auch darüber freue, da zu sein. Aber er fand keine Antwort, bevor er einschlief.

Der Morgen war rasch da und er stand auf, bevor sich im Haus noch jemand regte. Er fachte das Feuer an, bis es ordentlich bullerte und sein Schein den kleinen Raum warm erhellte. Er wusch sich unter dem Wasserkranen der Küche, und dann sass er neben dem Herd, atmete den Rauch des brennenden Buchenholzes ein, liess sich von der steigenden Wärme durchdringen und wartete. Worauf ? Er wusste es nicht. Vielleicht darauf, dass es völlig hell wurde, obwohl er nichts so sehr liebte wie diese Stunde der Morgendämmerung am flackernden Herd. Vielleicht darauf, wer von den Bewohnern des alten, hohen und schmalbrüstigen Hauses zuerst in die Küche herunterkäme; – Christoph lebte mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammen – denn er hatte ein bisschen Angst davor, mit jemand anderem als dem guten Christoph umgehen zu müssen.

Christoph kam zuerst. Dann seine Schwester Oranna, die sich anschickte, in die Kirche zu gehen. Sie hatte schon von dem nächtlichen Besucher 53 erfahren, begrüsste ihn freundlich und ohne Erstaunen, nahm Mantel, Halstuch und Hut und ging.

»Du weisst ja«, sagte Christoph, »sie ist sehr fromm. Aber sie gehört nicht zu denen, die eher fromm sind, um ihre Mitmenschen zu ärgern oder zu beschämen, als um dem lieben Gott Freude zu machen. Nein, sie ist ganz ordentlich.«

Eine Weile danach tauchte auch seine Mutter auf. Sie war ein altes, hutzeliges Weiblein, in die langen, weiten Röcke längst vergangener Jahre gehüllt. Sie sah aus, als wenn sie die Grossmutter oder irgendeine Urahne Christophs sei, vielleicht auch des ganzen Dorfes. Ihr Gesicht strahlte Zufriedenheit aus, mit sich, mit der Welt und mit dem lieben Gott, Zufriedenheit und Güte.

»Ach, du lieber Himmel«, rief sie aus. »Remigius! Jetzt wird die Welt allmählich wieder rund. Sie ist schon viel zu lang eckig und kantig gewesen und hat da Löcher gehabt und da. Viele werden ja auch nie mehr geflickt. Aber sie wachsen sich aus. Das tun sie. Wie oft hab ich schon gesagt: Warum kommt nur der Remigius nicht? Er ist doch daheim. Ich hab es doch gehört, und wo seine Mutter tot ist und das Haus kaputt, da ist es da unten doch nicht, wie es war.

Aber jetzt bist du da, mein Guter – mei Gudda, sagte sie und streichelte ihm die Hände – und jetzt wollen wir Kaffee trinken. Richtigen heut morgen. Die Bas Louise hat mir von der anderen Seite aus Berweiler ein bisschen gebracht. Und wir haben grad gutes Brot und weissen Käs. Den hast du immer so gern gegessen.«

Sie tat, was für das Frühstück noch zu tun war, 54 und dann sassen sie essend und trinkend zusammen, fragten nach dem und jenem, nach den Toten und Lebendigen, nach Nahen und Fernen.

»Deine Mutter ist doch immer so gerne heraufgekommen«, sagte die alte Frau zu Remigius, »sie hat immer gemeint, hier wäre sie ein bisschen näher am Himmel. Aber jetzt ist sie noch viel näher daran, wenn sie nicht schon ganz und gar darin ist.«

Während sie so sassen, kamen ein paar Kinder aus einem der zerstörten Dörfer des Tales und fragten nach einem Stück Brot oder ein paar Kartoffeln. Sie sahen elend aus und waren elend gekleidet. Jeder bekam eine Schnitte Brot mit weissem Käse. Die alte Frau sagte:

»Ihr bekommt auch ein paar Kartoffeln. Aber Brot hat der eine so viel wie der andere heut. Es hat doch jeder nur, was er auf die Karten bekommt.«

Einer antwortete in einem Ton, der aus Verlegenheit und Dreistigkeit gemischt war – seiner eigenen Verlegenheit wohl und der Dreistigkeit derer, die ihn schickten:

»Ja, wenn man aber keine Kartoffeln hat, ist man mit dem Brot rasch fertig.«

Der andere aber schluckte ein paarmal und dann sagte er:

»Meine Mutter holt die Lebensmittelkarten ab. Dann bleibt sie einen Tag und geht nachher mit allen Karten nach Saarbrücken. Da bleibt sie oft die ganze Woche mit einem anderen Mann.«

Das war ein Dreizehnjähriger, der das so sagte, dass man genau hörte: er wusste alles, was hinter diesen paar Worten lag. 55

Remigius fragte:

»Wieviel seid ihr denn daheim?«

»Wir sind zu dritt.«

»Wie alt?«

»Die anderen sind acht und zehn.«

»Wer kocht denn für euch, wenn eure Mutter nicht da ist?«

»Die Frau im Haus gibt uns als mal mittags Suppe.«

»Und sonst?«

»Dann essen wir, was ich bekomme.«

»Gehst du denn nicht in die Schule?«

»Ich darf nicht. Ich hab Ausschlag. Der ist ansteckend.«

Damit liess er die weiten Aermel seiner uralten Jacke zurückfallen. Wie es schien, trug er kein Hemd oder ein ärmelloses – und man sah an seinen Armen bis zu den Schultern hinauf eitrige oder schorfige Wunden.

Die alte Frau seufzte tief:

»Mein Gott und Vater, was für ein Elend!«

Remigius fragte weiter:

»Und wo ist dein Vater?«

»In russischer Gefangenschaft.«

»Schreibt er?«

»Ja. Aber sie lacht dann nur und zerreisst die Briefe. Aber wenn er kommt, geh ich doch bei ihn. Ich hab keinen anderen Vater und von dem Roten will ich nichts wissen. Vielleicht kommt er bald wieder ins Gefängnis. Das wär gut. Aber dann trägt sie ihm immer das Essen hin und wir haben auch nichts.«

Christophs Mutter weinte, als sie alles hörte. Sie gab den Kindern nicht nur Kartoffeln, sondern 56 auch einen tüchtigen Ranken Brot. Und in den Korb dessen, der erzählt hatte, liess sie, ohne dass es sonst einer bemerkte, ein Stück Wurst gleiten. Er sah es und seine Augen glänzten auf. Diese Augen standen zwar in einem verwahrlosten, aber klugen und gut geschnittenen Knabengesicht. Als sie gegangen waren, meinte Christoph:

»Da läuft so ein Kerlchen durchs Land und ist sicher schon um sechs Uhr aufgestanden, weil es auch hier heisst: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Der sah gar nicht dumm und gar nicht schlecht aus. Wenn sein Vater Lehrer wäre, dann ginge er gewiss schon ein paar Jahre aufs Gymnasium. Und wenn er das Glück hätte, Bäckerssohn zu sein, dann hätte seine Mutter längst Skischuhe für ihn, statt dieser traurigen Latschen. Ach, was bin ich für ein Esel. Ich hätt sie ihm doch ein klein bisschen instand setzen können. Ich vergess immer, dass ich Schuster bin.«


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