Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Durch die Äcker und Weiden, auf denen die Herde graste, lief, halb verschüttet und verfallen schon, einer jener Panzergräben, mit denen die 88 Gewaltigen der nun untergegangenen Herrschaft wider alle Hoffnung in der letzten Stunde das Verderben aufhalten wollten. Eines der jungen Schafe stolperte an seinem Rande, fiel hinein und brach sich ein Bein, so dass Remigius hinabsteigen und es herausholen musste. Da war schon etwas geschehen, was der Schäfer nicht vorausgesehen und wofür er keine Weisung gegeben hatte. Aber Remigius schiente das Bein des Tieres, wie er es vor langen Jahren gelernt hatte, und er tat es so zart, dass das leidende Tier bald aufhörte, zu jammern, und so geschickt, dass der Schaden in acht Tagen schon wieder heil war. Es machte ihn froh, dem kleinen wolligen Geschöpf gut zu sein und zu spüren, wie es sich dankbar an ihn drängte. Er spürte in seinem Herzen die gleiche Zärtlichkeit, die ihn dem kleinen Kind seiner Schwester gegenüber erfüllte. Warmes unschuldiges Leben pulste ihm hier wie dort unter den Händen und machte ihm das Herz wärmer und getroster. Als er das Tier aus dem Graben herausholte, schien es ihm übrigens, als rage aus einem der Kalkwände eines jener Steinbeile hervor, die er in der Schule kennengelernt hatte. Als es ihm wieder einfiel, stieg er hinab und fand, dass er richtig gesehen hatte. Es war sogar ein besonders schönes Stück, makellos und noch geglättet, als wenn es gerade aus der Werkstatt gekommen wäre. Wo mochte sie gewesen sein, diese Werkstatt? Es war kein Stein, den es im Land gab. Ein Händler hatte ihn hergebracht vor tausenden von Jahren aus einem fernen Land. Jetzt hielt Remigius ihn in der Hand und auch von ihm wehte ihn der Hauch des Lebens an. Ganz anders als bei dem kleinen Schaf. Da war es das 89 klare, einfache Leben des Tages, des Monats vielleicht noch und von keinem anderen Geheimnis durchdrungen als seinem eigenen, dem unergründlichen, aber doch schlichten Geheimnis des Lebens selber. Wenn man es in den Armen hielt und unter den Händen, dann fühlte man sich selber wie ein stilles Tier der grossen Herde, warm und gestillt, oder auch wie eine Pflanze, in der die segnenden Kräfte der Erde langsam auf- und niedersteigen. Mit dem Steinbeil in den Händen aber fühlte man sich im dunklen Strom der Geschichte. Es trug Jahrtausende auf seinen Wogen daher, ungezählte helle und dunkle Augen glänzten aus ihm empor und das Raunen von Millionen Schicksalen schwebte über ihm. Man hielt das Steinbeil in der Hand, und diese Hand verwandelte sich auf das Seltsamste, wurde schwer und behaart und zuckte nach aufzuspaltenden Knochen ungeheurer Tiere. Die Hand verwandelte sich und das Herz verwandelte sich. Es war von Ängsten erfüllt, die es nicht verstand, und von fremden unfassbaren Hoffnungen und es war wild und ungeheuer stark. Der Himmel war erfüllt von grossen, ehern schreienden Vögeln und die Erde von Bären, Büffeln und Wildpferden. Alles verwandelte sich und blieb sich doch gleich, oder vielmehr blieb verwandelt es selber. Remigius schien es, als wenn bei diesem Erlebnis die Last, die auf seinem Herzen lag, für Sekunden sich von ihm hebe, als wenn ein neuer, freier Wind ihn anwehe aus ungemessener Weite. Er zog die Mundharmonika aus der Tasche und begann zu spielen. Wer ihm zugehört hätte, hätte kein bekanntes Lied darin gefunden. Es war eine neue Weise und eine ganz alte, es war das Lied der Erde und des 90 menschlichen Herzens. Es hörte ihm niemand zu. Er blieb allein in den ersten Tagen, und die Einsamkeit war ein kühler, reiner und doch berauschender Trank, den er eigentlich noch nie so gekostet hatte. Wenn man im Dorf lebt, kann man die Einsamkeit schlecht kennenlernen. Man lebt im Haus, in der Familie, in der Sippe. Der Nachbar schaut zum Fenster hinein und die Nachbarin beugt sich gar über den Herd und die Kochtöpfe. In der Nacht noch hört man Gähnen aus dem Haus links oder rechts oder Unterhaltungen von Männern, die aus dem Wirtshaus oder von der Schicht kommen. Und bei der Arbeit selber! Sie war ja so aufgeteilt, die Arbeit, dass sie aus einer Hand in die andere lief, dass sie nicht begonnen und nicht vollendet werden konnte, ohne dass sich Dutzende von Händen zusammentaten, und es waren ja nicht nur die Hände, es waren auch die Münder und der Neid und die Gier und Missgunst und Schadenfreude und Lüsternheit und Geilheit und Zorn und Hass, wenn es schlimm war. Und wenn es gnädig abging, dann waren es noch immer Sturzbäche von Schwatzsucht und Neugierde und Wichtigtun und Gerüchtemacherei. Bei den Soldaten war es nicht anders. Ja, das Gesetz des Soldatseins war der Verzicht auf die Einsamkeit, und wer nicht ganz darauf verzichten, wer auch noch in der Kaserne, im Transportzug oder gar in der Kampflinie etwas davon bewahren wollte, der war dem Zorn und dem Spott der anderen ausgesetzt. Einsam im innersten Herzen konnte man gewiss in jedem Gewühl und in jedem Lärm bleiben, verlassener als einem gut tat. Aber das war etwas anderes. Es gibt eine natürliche 91 Luft der Einsamkeit und der Stille, und die gedeiht selten in den Dörfern der Menschen und gedeiht nie in ihren Kasernen und Heerlagern. Hier aber wehte sie mächtig und unbezwungen. Hier gab es die Wolken am Herbsthimmel und die Schneegänse, die unter ihm schreiend nach Süden flogen. Es gab den ewig brausenden und singenden Wind, nirgends anders gab es ihn so wie hier auf der Höhe. Die weiten leeren Ackerbreiten gab es, und an ihrem Rande da und dort ein Distelgestrüpp, in dessen silbernen Köpfen immer noch die Finken hingen. Zuweilen tauchte ganz dicht vor einem ein Hase auf, um dann aufgeregt davonzuhoppeln. Einmal huschte ein Fuchs aus dem nahen Wald herüber, und immer waren Bussarde und Sperber zu sehen, die ruhig unter dem grauen Himmel schwebten. Ja, und dann gab es die Herde, die grosse, graue, warme Herde, aus der dann und wann ein behagliches Blöken aufstieg. Sie war ja das Leben und der Daseinsgrund des neugebackenen Schäfers, und wie zufällig er auch dazu gekommen sein mochte, er nahm es ernst und wichtig. Es war nicht nur eine grosse und kostbare Menschenhabe, die ihm da anvertraut war, kostbar wie die Habe der Patriarchen, es war vor allem lebendiges Leben. Lebendiges Leben! Das sagte er sich immer wieder vor, und er hätte nur gewünscht, um dieses lebendigen Lebens willen wirkliche Gefahren bestehen zu können. Vor fünfzig Jahren hatte es noch Wölfe hier gegeben. Ja, an einem späten Herbsttag wie diesem, war ganz in der Nähe einer geschossen worden. Sein Vater hatte es ihm erzählt. Jetzt gab es anstatt der Wölfe Wolfsmenschen. Aber die Weide der Tiere lag zu weit 92 ab von dem Dickicht, aus dem sie nächtlicherweile ausbrechen mochten. Ein paar Tage schien es, als wenn dieser Erdenwinkel überhaupt von der Welt da drunten vergessen wäre. Auch nicht ein Wanderer war zu sehen und nicht ein Bauer, der nach seinem Herbstweizen schaute. Die Einsamkeit war gross und vollkommen. Aber gerade dann einmal, als Remigius an einen Sonnenuntergang hingegeben war, wie es ihn unten im Tal, im Gewirre der Häuser nie zu sehen gab – die lothringischen Berge waren davon zu Märchenbergen verwandelt – da rief ihn eine Frauenstimme an, eine lachende Stimme. Er wandte sich um und erblickte das Wesen, zu dem sie gehörte; ein junges Mädchen oder eher eine junge Frau, mit blondem, ins Rötliche schimmerndem Haar, mit lustigen, vielleicht aber auch ein wenig dreisten Augen.

»Geht es hier nach Güttingen?« fragte sie. Er nickte und wollte wieder zu seinem Sonnenuntergang zurück. Aber sie kam ein paar Schritte näher und sagte: »Ist das denn nicht langweilig, so allein?« Er erwiderte: »Es ist mir schon oft langweiliger gewesen.«

Sie lachte, dass ihre Augen funkelten und ihre weissen Zähne schimmerten, und dann fuhr sie fort:

»Na, ich könnte es mir doch lustiger denken. Früher hat es doch auch Schäferinnen gegeben, oder nicht? Ich meine, ich habe einmal Gedichte davon gelesen.« Remigius wusste nichts von den Chloe- und Phyllisgedichten des 18. Jahrhunderts. Schäferin; das war ein gesundes, kräftiges und tapferes Mädchen, das genau wie der Mann die Herde versah, genau wie er die Gefahren von ihr abwandte und unter dem weiten und einsamen 93 Himmel Gottes lebte. Und nun sah er diese Frau, die ein richtiges Stadtwesen war: mit Farben, die nicht aus dem Umgang mit Wind und Wetter, sondern aus dem Laden stammten, mit modischer Kleidung, die freilich Spuren der Sorglosigkeit an sich trug, und mit einer Haltung, in der sich Neugier und Frechheit mischten. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Die waren anders.«

Sie lachte selbstgefällig, als wenn sie eine Schmeichelei gehört habe, kam noch näher heran und fragte: »Zigarette?« Remigius wollte keine, da zündete sie sich selber eine an, und der Ruch des ausländischen Krautes mischte sich mit dem des Parfüms, das sie benutzte, reichlich benutzte, wie es schien.

»Haben Sie eigentlich in ihrer Karre da drüben eine Freundin versteckt,« fragte sie, »die eifersüchtig werden könnte? Oder sind Sie immer so schüchtern?« Er betrachtete sie so langsam von oben bis unten, dass es ihr unbehaglich wurde, und dann sagte er:

»Ich bin nicht sehr schüchtern. Ich habe nur keinerlei Verwendung für Sie.«

Anstatt gekränkt zu sein, schüttelte sie sich vor Lachen.

»Mein Gott, was Sie für ein reizender Grobian sind. Ich bin schwer auf dem Weg, mich in Sie zu verlieben. Und Sie?«

»Ich bin schwer auf dem Weg, das Kotzen zu kriegen.«

»Na hören Sie, das ist schon nicht mehr feierlich, wie Sie mit einem netten, jungen Mädchen umgehen. Da wollen wir uns lieber geschäftlich 94 unterhalten. Ich will so ein kleines Schäfchen haben. Wissen Sie, so eins« – sie zeigte auf das mit dem geschienten Bein –. »Sie können hundert amerikanische Zigaretten dafür haben. Das ist wunderbar bezahlt. Ich hätte Ihnen ja gerne etwas anderes dafür gegeben« – sie blickte auf den Schäferkarren und lachte frech – »aber – – –«

Remigius pfiff seinem Hund, der knurrend herbeikam, und bedeutete ihr mit einem Blick, zu gehen. Sie tat es, indem sie die schmutzigsten Beschimpfungen ausstiess.

Der Mann stopfte sich seine Pfeife, und der strenge und bittere Ruch seines Gartentabaks wurde mächtig über die verderbten Düfte der Fremden. Das Erlebnis hatte ihn nur abgestossen, sonst nichts, und er vergass es schnell. Der Hund fast behielt es länger, denn er knurrte noch ein paarmal in den früh heraufziehenden Abend hinein. Aber in der Nacht bellte er heftig. Remigius sprang auf, und da pochte es auch schon an die Türe seines Karrens. Er öffnete, und es stand ein Mann davor. Es war ein Bauer von einem der einsamen Höfe des Gaues, und der suchte den richtigen Schäfer, der ihm helfen sollte, da eine seiner Kühe am Kalben war und nicht vorankam. Er war enttäuscht, als er das neue Gesicht sah, und er erfuhr, dass der, von dem er sich Hilfe erhoffte, in seinem Vogesennest bei der kranken Schwester sass.

»Aber Sie«, fragte er, »können Sie nicht helfen? Wenn Sie doch auch ein Schäfer sind?« Remigius sagte, dass er davon nichts verstehe. Aber der Bauer bat ihn, dennoch mitzukommen. Der Knecht sei für acht Tage nicht im Haus, und es könne 95 noch harte Arbeit geben mit dem Kalb, das sich so sträube, ins helle Leben zu kommen.

So sagte er, und Remigius ging mit ihm, ein wenig auch, weil es ihm gefiel, wie der Mann sprach. »Ins helle Leben«, sagte er wahrhaftig, und er sah gar nicht aus, als wenn sein eigenes Leben sehr hell wäre. Fast wollte es Remigius sogar scheinen, es gebe besondere Dunkelheiten darin, aber auf dem Weg, den sie gemeinsam zu dem Hof hin machten, erzählte er mit grosser Gelassenheit, er sei zwei Jahre Soldat gewesen in Russland und in Griechenland. Er war gekommen, nicht verwundet und nicht krank. Seine Frau und seine Kinder lebten. Der Hof, lange Wochen in der Feuerlinie gelegen, hatte nicht allzu sehr gelitten. Viele Sorgen, die die im Tal zu tragen hatten, gab es hier nicht. Warum also sollte es ein besonders verschattetes Leben sein? Das erste Geräusch, das ihnen vom Hof entgegenkam, war das Blöken des neugeborenen Kalbes. Es hatte nun doch nicht länger warten wollen. Das zweite aber war eine schrecklich weinende Frauenstimme. Als sie diese hörten, seufzte der Mann, aber er sagte nichts. Er sah nach dem Kalb, das schon auf den zarten Beinen stand und von seiner Mutter beleckt wurde. Er sagte der alten Magd, die bei dem Tier gewartet hatte, was noch zu geschehen habe. Aber sie wusste es schon selber, und dann fragte er: »Und Margrit?« Die Magd antwortete: »Ach Meister, es ist immer dasselbe!« Remigius sah alsbald, was war. Der Bauer nahm ihn mit in die Küche zu einem Trunk nach dem nächtlichen Gang, und da lernte er Margrit, die Bäuerin, kennen. Sie war wie viele Bäuerinnen dieses Landes, fest und doch 96 zart, mit blonden Haaren und dunklen Augen. Aber in ihren Augen glühte eine unheimliche Angst, das sah Remigius sogleich. Er kannte das. Sie stürzte ihrem Mann entgegen, fiel ihm um den Hals und sagte schluchzend ein über das andere Mal: »Gott sei Dank, dass du wieder da bist. Gott sei Dank, Gott sei Dank. Du gehst mir nachts nicht mehr hinaus. Es ist zu schrecklich, zu schrecklich. Ich habe es einmal krachen gehört, da ist mir das Herz stehengeblieben. Ich habe gedacht, der kommt nicht wieder. Gott sei Dank.« Sie weinte wieder ganz laut, wie man sie zuerst gehört hatte, und dann ging sie in ihre Schlafkammer, ohne den Fremden auch nur zu beachten. Der Bauer blickte ihr seufzend nach, und nachdem er seinen Gast mit Tabak und Schnaps versorgt hatte, erzählte er.

Seine Frau hatte im April 1945 in der Klinik der Stadt ein Kind geboren. Das war ohne allzu grosse Fährnisse vor sich gegangen. Es war schon ihr viertes, und sie war eigentlich nur deshalb in die Klinik gegangen, weil die Hebamme, die sich vor dem heranrückenden Krieg weiter ins Land hinein geflüchtet hatte, noch nicht wieder daheim war. Aber gerade in der Klinik war es dann über sie gekommen. In diesen Tagen füllten sich langsam wieder die von ihren Bewohnern evakuierten und dann lange verteidigten Dörfer auf dem rechten Ufer des Flusses. Aber die Verteidiger hatten in ihnen die Saat des Todes zurückgelassen, und sie ging jetzt auf, Tag um Tag und Stunde um Stunde. Das Krankenhaus füllte sich mit minenverletzten Männern, Frauen und Kindern. Gerade als sie zum erstenmal auf ihr Zimmer ging, trug man einen 97 jungen Mann daher, der beide Beine verloren hatte. Er lächelte ihr zu. Er war von jener leichten und fröhlichen Schmerzlosigkeit erfüllt, die zuweilen gnädig dem Tod vorangeht. Das erzählte man ihr später, wie auch, dass man ihn zu einem gleichfalls verwundeten Priester trug, der ihm vom Bett aus Lossprechung und letzte Ölung spendete. Und dann schlossen sich an diesen einen, Dutzende und Dutzende, und ihr Geschrei und Gestöhn und ihre Todesseufzer drangen in jedes Kranken- und in jedes Sterbezimmer hinein, auch in die Kammer der Gebärenden. Ob aber nun schon immer eine geheime und krankhafte Empfindsamkeit in ihr gelebt, oder aber ob diese Tage des Wartens in einer sehr zerstörten Welt sie besonders verwundbar gemacht hatten, sie wurde noch vor ihrer Stunde von einem solchen Grauen gepackt, dass der Arzt sich danach über die Leichtigkeit der Geburt wunderte. Es war ihr, als ob man in dieser teuflischen Welt keinen Schritt mehr tun könne, ohne dass einem der Tod unter den Füssen aufschiesse. An den Besuchstagen wurde sie von wahren Angststürmen geschüttelt, bis ihr Mann oder eine ihrer Schwestern bei ihr waren. Es gab immer noch das harte und böse Geräusch von Explosionen, dann fuhr sie zusammen und begann zu schreien und zu beten. Wenn aber der Besuch bei ihr war, dann bangte sie schon wieder um seine Heimkehr, hielt ihn fest und wollte ihn nicht gehen lassen. Sie verlangte sehr nach Hause, aber sie zitterte vor der Heimfahrt, und als sie dann nicht länger aufzuschieben war, sass sie im Wagen wie eine zum Tod Verurteilte, drückte ihr Kind an sich und beklagte es, 98 sass einmal mit geschlossenen Augen und starrte einmal voller Schrecken auf die Wege, an deren Rändern wirklich noch immer Warnschilder zu sehen waren oder gar aufgestapelte Minen verschiedener Art. Nach der Ankunft flüchtete sie sich in ihr Bett wie in eine letzte Zuflucht. Aber bevor sie sich wirklich hinlegte, fiel ihr plötzlich ein, dass sie einmal von einem Bett gehört hatte, dessen Pfosten auf Minen gestellt waren. Sie schrie vor Schrecken bei diesem Einfall und gab nicht Ruhe, bis ihr Mann mit der Laterne unters Bett und an die Pfosten geleuchtet hatte. Sie war nicht in Stall und Scheune, nicht auf den Heuspeicher und nicht in den Kartoffelkeller zu bringen gewesen, bis sie sich genau überzeugt hatte, dass es da keine Minen gab. Den Garten hatte ihr Mann, bevor sie hineinging, erst umgraben müssen, als wenn er vergrabene Goldstücke suche. Ein paar alte Silbermünzen fand er auch wirklich dabei, und aus dem engsten Bereich des Hofes ging sie einfach nicht hinaus, mochte ihr Mann ihr noch so freundlich sagen, sie solle sich einmal den schönen Weizen ansehen oder schauen, was man für Prachtkartoffeln aus der Erde heraushole. Sie zuckte zusammen, wenn man sie nur darum bat, hinauszugehen. Jeden Morgen, wenn die beiden grossen Kinder in die Schule mussten, weinte sie und hätte sie am liebsten mit allerhand Entschuldigungen zurückgehalten. Dass der Bauer seine Arbeit auf dem Feld tat, das schien ihr unvermeidlich, wie es ihr damals geschienen hatte, als er in den Krieg musste. Aber wenn er einmal bei Anbruch der Dunkelheit nicht da war, dann war es mit aller mühsamen Gelassenheit aus, dann 99 begann sie so zu schreien und zu klagen, wie Remigius es gehört hatte.

»Sie hätten sie vorher kennen müssen«, sagte der Bauer. »Sie war das couragierteste Mädchen im ganzen Land und fleissig und heiter und alles. Es ist nicht schön so, so wie es ist.«

Remigius hörte diese Geschichte von der Minenangst der Frau mit tiefer Bewegung an. Ach, das war ja nicht nur Minenangst, das war Angst, Angst, Angst, ohne jeden Vor- und Nachnamen. Wie natürlich war es im Grunde, aus diesem Schrecken mit einem Herzen voller Angst hervorzugehen, und wenn ungezählte Herzen aus dem Untergang anstatt Angst nur Gier und Bosheit heraustrugen, dann musste wohl irgendein Herz sein, das das ganze Mass der Angst, die ja nun doch einmal in der Welt war, in sich einströmen liess. Nur: dieses Herz hier war ihr, dieser grossen Angst, die eigentlich für ein ganzes Land, für ein ganzes Volk bemessen war, noch nicht gewachsen. Man muss die Angst kennen und doch ruhig sein, wie man ja auch den Tod kennen muss und dennoch leben. Dies alles dachte Remigius. Aber er sagte nur: »Kann man da nicht helfen? Das ist doch wie eine Krankheit. Es muss doch einen Arzt dafür geben. Oder eine Ärztin vielleicht noch besser. Ich hab ja mit Frauen keine schrecklich guten Erfahrungen. Aber meine Mutter ist ja auch eine Frau gewesen. Ich kann mir ganz gut denken, die wär zu der Kranken gekommen und hätte ihr zugelächelt und ein paar Worte mit ihr gesprochen, dann wäre alles in Ordnung gewesen oder doch daran, in Ordnung zu kommen. Ich mein aber: es muss doch noch solche Frauen geben.« 100

Der Bauer sah ihn gross an:

»Sind Sie eigentlich ein Gedankenleser oder haben Sie irgendwo etwas aufgeschnappt?«

»Wieso denn?«, fragte Remigius, »was soll ich aufgeschnappt haben?«

Der Bauer antwortete:

»Wir haben in Tromborn so eine Frau. Ich habe zu ihr geschickt. Morgen soll sie kommen und ich setze meine Hoffnungen auf sie. Sie soll schon vielen geholfen haben, und grad Frauen, die mit dem Leben nicht mehr zurechtkamen, vor Trauer oder vor Angst.«


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