Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Am Abend war ein Schäfer aus dem Lothringischen bei Christoph. Er hielt mit einer grossen Herde auf den Feldern zwischen dem Dorf und der Kapelle der heiligen Oranna und er war zu Christoph gekommen, um sich einen losgerissenen Riemen seiner Ledertasche annähen zu lassen.

»Die hat schon mein Grossvater gehabt«, sagte er und man konnte glauben, dass sie noch viel älter sei, dass sie dem heiligen Wendelin schon um die Schulter gehangen haben konnte oder einem der schafhütenden Patriarchen der Vorzeit. Er selber sah so aus, als wenn er einer anderen, sehr frühen Zeit angehört hätte.

Er sprach auch wie ein Patriarch, wenn er überhaupt sprach. »Das Jahr hat sich geneigt«, sagte er, »und die Nacht kommt über die Erde. Das Herz 83 ist mir schwer, und ich weiss nicht, was ich tun soll. Meine Schwester liegt am Sterben in Mattaincourt und verlangt nach mir. Ich kann aber die Herde nicht allein lassen mit dem Knaben, der bei mir ist, denn die Zeit ist böse.« Er seufzte und stützte den Kopf in die graubehaarten Hände.

In den paar Worten war aber der herannahende Tod der Schwester, die stille Liebe des Bruders, die grosse zu umsorgende Herde, das frühwinterliche Land, auf dem sie weidete, der einsame Hirtenknabe und die böse Welt, die gegen das alles andringen wollte. Es war still in dem Raum. Man hörte die Uhr gehen und irgend von weither Rufe der Kinder. Da kam es über Remigius und er sagte:

»Aber das kann ich doch. Acht oder zehn oder auch vierzehn Tage. Ich habe ja Zeit und ich tue es gern, und es wird mir nur guttun, wenn ich eine Zeitlang niemand sehe und mit mir selber zu Rate geh. Bitte, lasst mich es tun. Die Herde soll wohl aufgehoben sein.«

Der Schäfer betrachtete ihn lange und forschend, und als er antwortete, war es wie die Lossprechung in der Beichte: »Das ist wahr. Du bist einer, auf den ich mich verlassen kann. Willst du gleich mitkommen? Dann kann ich in der Nacht noch bis nach Courcelles wandern und bin morgen mittag in Mattaincourt.«

Remigius war bereit. Er dankte den Freunden für die Liebe, mit der sie ihn aufgenommen hatten, – Oranna hätte Tränen in den Augen – nahm sein kleines Bündel und ging mit dem Schäfer in die Nacht hinaus. Der Schäfer sagte: »Es ist mir sehr lieb, dass ich zu meiner Schwester gehen kann, um sie noch einmal zu sehen, ehe sie stirbt.« 84

Da dachte Remigius an seine Schwester da unten im Tal, die ja auch nicht sehr gesund war, und er hatte Heimweh nach ihr. Er hatte auch ein unstillbares Heimweh nach den Kindern, nach der Kleinen zumal, die der Doktor mit seiner Sorge und dem geheimnisvollen englischen Medikament gerettet hatte.

Aber jetzt war ihm der Rückweg wieder für ein paar Wochen länger versperrt. Der Schäfer fuhr fort: »Du hast nicht viel zu tun. Es ist nur, dass einer bei der Herde ist. Um die Zeit geschieht nicht viel bei ihr. Nur wenn du siehst, dass eins von den Tieren auf der Erde liegenbleibt und quärt, gibst du ihm einen Kräutertrank, den ich dir zeige. Das ist alles. Gegen das aber, was in der Nacht umgeht, und es geht um in der Nacht, bist du gut behütet durch die Nähe der Heiligen, und ich brauche dir sonst nichts zu sagen und keine andere Hilfe zu verraten, was ich sonst wohl könnte. Wir Rougers hüten die Schafe seit langen Jahrhunderten, und wir kennen die Nächte im einsamen Land.«

Sie schritten daher, vom kräftigen Höhenwind umweht, unter den zitternden Sternen des unendlichen Himmels. Als sie bei der Herde waren, fühlte sich Remigius von einer heimlichen Wärme angeweht. So, als wenn die Wärme der Erde, die sie auch im Herbst und Winter nicht völlig verliert, ihm hier gesammelter und gegenwärtiger begegne. Unversehens stand er dann vor dem Schäferkarren. Er lachte leise vor sich hin. Es war Selbstverspottung in diesem Lachen. aber auch Glück. Als er sich, der plötzlichen Eingebung folgend, angeboten hatte, den Schäfer ein paar Tage zu vertreten, 85 da war ihm gar nicht der Gedanke gekommen, dass er hier seinem Spielzeuggefährt, seinem Traumgefährt begegnen würde, dem Schäferkarren, der ihm da unten gestohlen worden war. Eine seltsame Fügung, in der etwas von spielerischer Zärtlichkeit war. Da unten hatte ihm der Schwager die Traumkarre gestohlen und der Streit, der darum entstanden war, hatte ihn aus dem Haus und dem Dorf getrieben. Auf der Flucht hatte er Beatrix wiedergefunden, um sie an den Tod zu verlieren, oder vielleicht auch, um sie im Tod für immer wiederzufinden, und jetzt begegnete ihm auch der grosse, wirkliche Schäferkarren, in dem man hausen und daheim und geborgen sein konnte. Er war wie seiner daheim, zwar etwas weniger hübsch, etwas weniger poliert und geschmückt. Aber er war von allem Glanz der Wirklichkeit geziert.

Was ihm nicht gefiel, war, dass er in dem engen Häuslein mit dem Knaben zusammensein sollte, der ihm fremd war. Aber er brauchte es nicht zu tun. Denn als der von dem bevorstehenden Aufbruch seines Meisters hörte, bat er in weinerlichem Ton, er möge ihn auch heimgehen lassen für die Zeit, und es wurde ihm gewährt.

Es war, soviel Remigius im flackernden Licht der Laterne sehen konnte, ein schmächtiger Junge mit grossen blassen Augen. Er erfuhr nachher, er sei ein Schwesterkind jener Frau aus Berweiler, die der römische Soldat gewählt hatte, um sich gegen die Besudelung seines Grabes zu wehren, und er selber habe zuweilen seltsame Gesichte und schaudervolle Ahnungen. Der Schäfer überlieferte Remigius noch Brot, Mehl, Fleisch, Erbsen und Linsen und eine Flasche Branntwein, sagte ihm, wie er 86 den Hund zu füttern habe, damit er ihm die Herde hütete, zeigte ihm die Quelle, die in der Nähe floss, und die Feuerstätte, auf der er sein Mahl bereiten konnte, und verschwand dann mit dem drängenden Jungen in der Nacht. So war Remigius allein mit der Herde, und er war es zufrieden. Er sass lange vor dem fahrbaren Kämmerlein, ehe er schlafen ging. Er musste das erst auskosten, wie das war, in dieser friedlichen Nacht allein zu sein. In bösen feindlichen Nächten war er es oft genug gewesen. Das laute Atmen der Schafe war zu hören, zuweilen auch das Keuchen des Hundes, der unermüdlich und lautlos die Herde umsprang, aus dem Dorf der nächtliche Glockenschlag der Uhr und aus dem Wald der dunkle Ruf des Kauzes. Und der Wind wehte unablässig, der Westwind, der vom Atlantischen Ozean herkam und sein grosses Rauschen noch in sich trug und seine Weite und Unendlichkeit. Er wehte bis zum Himmel hinauf und dann geriet sein dunkles Blau mit den goldenen und purpurnen Sternen in leise Bewegung und es war wie ein riesiges Bannertuch, das der Herr der Erde über sein Eigentum hinwehen liess. Vor vierundzwanzig Stunden erst war Beatrix gestorben und ihr Tod brannte noch in seinem Hirn und seinem Herzen mit heisser Flamme. Alle Schmerzen, die dieser Tod aufgeweckt hatte, brannten unvermindert in seinem Wesen, aber hier waren sie zu ertragen, hier unter dem Himmel, hier bei der schweigenden Herde waren es menschlichere Schmerzen, als sonst irgendwo. Er ging schlafen. Der Schäferkarren nahm ihn auf, der von dem Ruch vieler Kräuter und dem der Schafwolle durchtränkt war. Er streckte sich auf dem Lager aus Fellen nieder 87 und schlief sogleich ein. Er träumte. Aber er hätte beim Erwachen nicht sagen können, was es gewesen war. Er wusste nur noch, dass das tote Mädchen ihm innig nah gewesen war, einmal mit den strahlenden, schuldlosen Augen der frühen Jugend, und einmal mit den klagenden ihrer letzten Zeit. Es würde gewiss noch lange keinen Traum geben, durch den sie nicht ginge. Aber auch der römische Soldat war hindurchgespenstert, der ganz in der Nähe sein Grab gefunden hatte. Ja, und eines der Traumbilder war ihm am lebendigsten. Er stand mit Beatrix unter dem blühenden Apfelbaum ihres Gartens. Er hielt sie an der Hand und blickte sie liebevoll an, wie sie ihn. Da plötzlich schob sich aus dem Haselnussgebüsch ganz in der Nähe ein braunes böses Gesicht hervor, das Gesicht einer alten Frau. Es lächelte voller Spott, tat die gelben Zähne auseinander und sagte mit quäkender Stimme: »Viel Glück, viel Glück und einen guten Tod!« Aber nicht der Todeswunsch war das Beklemmende aus diesem Bild, sondern die zwei Worte: viel Glück. Wie im Traum eine Frucht oder ein Schluck Wein den Geschmack jeder höchsten irdischen Lust tragen kann, so waren hier diese beiden Worte mit allem Spott und mit aller hintergründigen Bosheit der Welt geladen. Er nahm sich vor, wenn er wieder im Dorfe wäre, zu fragen, wie jene alte Frau ausgesehen habe, von der man in der Nacht erzählte, dass ihr Glückwunsch soviel Unglück gebracht habe. Aber er vergass es. Es geschah zuviel nach diesem Traum.


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