Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bei der Kapelle der heiligen Oranna gab es einen Friedhof, zu dem die Leute aus Strupplingen im Tal seit tausend Jahren ihre Toten hinauftrugen. Der Weg, der zwischen Schlehhecken und Rosenhecken hinaufführte, hiess schon im 17. Jahrhundert der Totenweg. Es war ein mühsamer Weg, aber die Strupplinger liessen sich ihn nicht verdriessen. Wenn sie ihre Toten hinauftrugen in Wind und Wetter, dann schien ihnen, als wenn sie sie schon ein Stück dem Himmel entgegentrügen, sie aber später auf dem hochgelegenen, windumwehten Kirchhof zu besuchen, das gehörte für sie zu den liebsten Heimatgängen. Remigius wusste das, weil eine seiner Grossmütter aus Strupplingen 149 stammte. Plötzlich überkam ihn das Verlangen, durch den Regen dahinzustapfen. Es war nicht weiter als hundert Schritte. Wenn ein Fremder käme, würde der Hund bellen. Der Regen war noch nicht sehr kalt, und es tat gut, hindurchzugehen. Die späten Astern auf den Gräbern bogen sich unter der Last der Nässe. Die Grabkreuze waren zum guten Teil von Granaten verstümmelt. Es war kein erfreulicher und anheimelnder Anblick, in dieser Stunde wenigstens nicht. Es trieb Remigius, gleich wieder umzukehren. Aber dann verlockte ihn zum hundertsten Mal wieder der seltsamste Grabstein des Totenackers. Es war ein Obelisk, wie es landauf – landab keinen gab, und es stand darauf zu lesen:

Hier ruht in Gott
Elisabeth Huber
geb. Viscountess Mac Neill
Edelmannstochter
aus Schottland
geb. in Edinburgh 17. 1. 1809
gest. in Strupplingen 12. 11. 1839
Vincit omnia amor.
―――

Er kannte auch die Geschichte der jungen Toten. Ihr Vater interessierte sich für die Kohlengruben des Saarlandes und machte eine Reise, um an Ort und Stelle die Verhältnisse zu prüfen. Dabei nahm er seine 23jährige Tochter mit. Ein junger Bauer aus Strupplingen, bei dem sie aus irgendeinem Reisezufall Wagen und Pferde für einen Tag einstellen mussten, gefiel ihr so, und sie gefiel ihm so, dass das schottische Edelfräulein gegen alle Widerstände des Vaters und der ganzen Sippe eine Strupplinger Bauersfrau wurde. Sie war es sieben 150 Jahre, wie es jetzt immer noch hiess, in grossem Glück. Dann starb sie. Ihren einzigen Sohn zog es als jungen Mann nach England. Er wurde dort ohne Hilfe seines unversöhnlichen Grossvaters sehr reich und starb ohne Kinder. Aber in Strupplingen gab es noch Nachkommen der Schwestern des jungen Bauern. Sie waren stolz auf »ihre Tante, die englische Gräfin«, und liessen ihr Grab nicht im Unkraut versinken. Remigius pflückte einen Zweig von einer jungen Tanne, die am Rand des Kirchhofs wuchs und legte ihn auf das Grab. Er hatte immer ein gutes Gefühl für dieses tapfere, junge Mädchen gehabt, das sich im fremden Land den Geliebten und Gatten erkor und ihm ohne Zögern Heimat und Elternhaus und Adel und Reichtum opferte. Er blieb eine Weile vor ihrem fremdartigen Grabmal stehen und versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl ausgesehen habe. Ein schmales zartfarbiges Gesicht mit grossen, blauen Augen, von hellblondem Haar umrahmt. Was mochte davon nach über hundert Jahren noch übriggeblieben sein? Jedenfalls nichts Schreckliches mehr. Die Erde, die ihr Mann bebaut und die dann auch sie genährt hatte, war ihr schon seit langem gnädig gewesen. Der Regen strömte mächtiger nieder, und Remigius trat in die Kapelle ein. In ihrem dämmrigen Licht sah er, dass vor dem Altar der heiligen Oranna, auf dem ihr Standbild als das eines zarten jungen Mädchens zur Verehrung aufgestellt war, ein älterer Mann stand. Das geschah öfters, wenn Oranna auch eigentlich eine Frauenheilige war. In der Stadt im Tal gab es einen ganzen Kreis von älteren Männern, denen dieses bescheidene Heiligtum als eines der uralten, ehrwürdigen 151 Mittelpunkte ihres Landes galt. Vielleicht verehrten sie die Heilige mehr als eine berühmte, geheimnisumwitterte Gestalt ihres Heimatbodens denn wirklich als Heilige, so wie es manche Franzosen mit dem heiligen Mädchen von Domremy tun. Aber die Heilige liess es ihnen sicher lächelnd durchgehen. Sie war lange genug hier zu Hause, um genau zu wissen, dass diese braven, älteren Herrn in jedem Fall eine treue, ehrliche Liebe für sie hatten, und dass es mit ihren Zweifeln und ihrer Aufgeklärtheit nicht so schrecklich weit her war. Solche Männer also gab es da unten, aber im allgemeinen neigten sie zu sehr zu Schnupfen und Rheumatismus, wenn nicht gar zu Blasenkatarrh, als dass sie sich leicht einem solchen Wetter ausgesetzt hätten. Ausserdem sprach dieser hier halb vor sich hin und bewegte Hände und Arme, als wenn er jemand eindringlich zureden wollte, und an einer dieser Bewegungen erkannte Remigius den Vater Beatricens. Er erschrak darüber, denn er wusste, dass dieser alte Mann schon seit Jahren verwirrt war, und er ahnte, dass der Tod seines geliebten Kindes in ihm die letzten Dämme gebrochen habe, die noch gegen den Wahnsinn standen.

Er ging auf den Zehenspitzen näher heran und sah zunächst, dass der alte Miro noch von keinem Regentropfen getroffen worden war. Das bedeutete also, dass er schon stundenlang in der Kapelle war und wahrscheinlich auch schon stundenlang vor der Statue der heiligen Oranna stand und auf sie einredete. Er hörte dann auch, wie er sagte:

»Du bist gut hier. Das weiss ich. Ich gönn es dir auch. Du weisst, dass ich dir immer alles gegönnt 152 habe. Du bist gut hier, wenn es auch einsam ist. Aber ich bin ohne dich doch wie ein Kind ohne Mutter, ein kleines Kind, ein ganz kleines Kind. Ich habe schon seit acht Tagen nichts Warmes mehr gegessen, und ich bin nicht aus den Kleidern gekommen. Und ich soll doch die Wäsche wechseln, und ich finde nichts. Ich bin schmutzig, und ich ekle mich vor mir selber. Komm doch nur einmal für ein paar Tage herunter. Dann kannst du ja gern wieder gehen. Ich will dich ja nicht behalten. Ich weiss gut, dass ich das nicht kann und auch nicht verdien. Ich hab dir den verfluchten Arthur ins Haus gebracht. Das kannst du mir nicht verzeihen. Er hat mich zum Schnaps eingeladen, und er hat ›Sehr verehrter Herr Miro‹ zu mir gesagt. Da bin ich nachher dumm und schlecht gewesen. Aber du bist viel besser als ich. Weisst du, wenn man jung ist, hat man es viel leichter, gut zu sein. Und jetzt lass mich doch nicht so betteln. Komm doch heraus und komm mit. Du wirst nass werden draussen. Aber daheim machen wir ein gutes Feuer, und eine Flasche Wein zum Wärmen wird auch noch da sein. Alle geht ihr fort, deine Mutter ist auch fortgegangen. Aber die such ich schon lange nicht mehr. Und dich hab ich nun gefunden. Und du gehst mit, ob du willst oder nicht. Ich bin immer noch dein Vater und Herr. Als kleines Kind hast du so gut sagen können: ›Du sollst Vater und Mutter ehren‹, und hast mir einen Kuss gegeben und gefragt: ›Vater, hab ich dich jetzt geehrt?‹«

Remigius schauderte bei diesen wirren Reden, die an die Heilige gerichtet waren, als wenn sie Beatrix wäre. Er wusste nicht, was er tun solle. Der alte Mann tat ihm von Herzen leid. Aber wer wagt es 153 leicht, einem Wahnsinnigen ins Wort zu fallen? Wer wagt es, seinen Fuss in den Irrgarten zu setzen, in dem er wandelt und vielleicht bei allem Elend ein wenig glücklicher ist, als er sonst sein könnte?

So musste er denn weiter hören:

»Du sagst, du seist unglücklich geworden durch meine Schuld. Weisst du etwas von mir? Ich bin der Frau aus der Stadt nachgelaufen, bevor du zur Welt kamst, das ist wahr. Und du meinst, das hätte Bitternis und Krankheit ins Blut deiner Mutter gegossen. Ich glaub nicht an solchen Firlefanz. Ich glaub auch nicht, dass die Saat auf dem Felde Schaden leidet, wenn ihr Sämann während ihrem Wachstum hingeht und sich betrinkt, Händel sucht oder sonst etwas der Art. Und wenn es wahr wär, kann ich's ändern? Vielleicht hat mein Vater auch Bitterkeit ins Blut meiner Mutter gemischt, ehe ich geboren wurde, kann's einer wissen? Und dem sein Vater vielleicht auch schon wieder. Vielleicht hat einer von uns vor tausend Jahren hier oben eine Feldmaus zu Tode gequält, oder auch nur einen kleinen schwarzen Käfer. Oder nicht einmal das. Er hat eine junge Birke im Frühjahr zerhackt und zerfetzt, nur weil er irgend was zerstören wollte, und jetzt geht es uns allen noch nach.

Und du, hast du nie etwas getan, um denen nach dir das Blut bitterer und galliger zu machen. Hat dich einer gezwungen, mit dem Arthur tanzen zu gehen? Hast du nicht gewusst, dass der andere in Russland auf dich wartet? Ich habe dein Glück gemordet, sagst du. Ha, wir sind alle Mörder, bevor wir selber gemordet werden. Es gleicht sich aus. Du brauchst nicht dazustehen, als wenn du kein 154 Wässerlein trüben könntest. Heilige Beatrix, bitte für uns! Das tät dir passen, gelt?« Der Alte lachte, dass es schauerlich von den leeren Wänden widerhallte.

»Und jetzt sag ich dir noch einmal: du kommst. Ich bring dich dazu, wenn nicht mit guten Worten, dann mit Gewalt.«

Damit schickte er sich an, auf eine Bank zu steigen, die vor dem Bildnis der Heiligen stand. Aber da war Remigius mit raschen Schritten bei ihm, nahm ihn fest am Arm und zog ihn herab. Der alte Mann fuhr erschrocken zusammen. Dann lachte er gellend auf.

»Ach, der junge Herr ist auch da. Das hätt man sich ja denken können. Allein hätt sie es auch ein bisschen einsam. Da kann ich nichts machen. Zwei Junge, Starke gegen einen Alten. – Ich geh schon, ich geh schon!«

Remigius hielt ihn am Arm, und er wehrte sich nicht dagegen.

Sie standen eine Weile schweigend an der Kapellentür. Der Regen klatschte jetzt hernieder, und es wurde rasch dunkel. Remigius bedachte, dass der alte Mann in die finsterste Nacht geraten müsse, ehe er noch das nächste Dorf erreicht hätte, ganz zu schweigen davon, was er in seiner Verwirrung Unsinniges und Gefährliches beginnen könne.

So fasste er den jetzt willenlos Folgenden abermals am Arm und führte ihn zu seinem Karren. Dort zog er ihm den durchnässten Rock aus, hüllte ihn in eine seiner Schaffelldecken und gab ihm einen kräftigen Schluck Branntwein. Dann liess er ihn sich auf dem schmalen Lager ausstrecken 155 und setzte sich selber auf einen Schemel, um im Licht der Laterne zu lesen. Es war schon spät in der Nacht, als er sich selber auf den Fussboden legte, um zu schlafen, ein paar Kalenderbände als Kopfkissen.

Es mochten zwei oder drei Stunden vergangen sein, da erwachte er davon, dass sein unglücklicher Gast wieder zu reden anfing, ruhig und abgesehen von dem Wahn, seine Tochter sei in der Kapelle und wolle aus Starrsinn nicht heimkehren, auch vernünftig.

»Siehst du, Remigius«, sagte er, »da liegen wir in deinem engen Kabäuschen, und ich bin froh, dass du mich mitgenommen hast. Ich wäre in der Nacht ja nicht heil den Berg hinuntergekommen. Aber wir hätten es doch nicht notwendig, du nicht und ich nicht. Mein Haus ist ja noch ganz und hat Kammern genug. Der Thiever will es mir abkaufen. Er hat soviel Geld mit amerikanischen Zigaretten verdient und mit Kaffee und Mehl. Aber da wär ich schön dumm. Wer ein Haus hat, behält es, nicht wahr? Aber das Mädchen, das Mädchen! So ein Eigensinn! Könntest du ihr nicht einmal zureden? Auf dich hat sie doch immer viel gegeben.«

Remigius erwiderte:

»Schlaft doch jetzt ein. Morgen werden wir alles sehen.«

Aber der alte Mann fuhr fort:

»Ach, du sprichst auch mit mir, als wenn ich krank wäre oder ein kleines Kind. Ich bin nicht krank, und ich bin fünfundsechzig Jahre alt.«

»Aber wir können doch jetzt in der Nacht nichts mehr tun«, versuchte Remigius ihn zu beschwichtigen. »Ihr seid doch auch müd, und ich bin müd. 156 Draussen regnet es immer noch, da ist es gemütlich zum Schlafen hier.«

»Aber du brauchst ja nur zu sagen, dass du mir helfen willst. Weisst du« – die Stimme des alten Miro senkte sich jetzt zum Flüstern – »weisst du, sie muss kommen. Da unten, da sagen sie, sie ist tot. Sie ist begraben. Und sie wollen, dass ich zu dem Grab hingehe. Und ich fürchte mich vor dem Grab. Ich war einmal daran, und da hab ich etwas gesehen, das war schrecklich, nicht zum Sagen. Und wenn ich nun die Augen schliesse oder es ist dunkel, dann muss ich es wieder sehen. Es ist – –

Und dann folgte mit bebenden, einmal stockenden und einmal fliegenden Worten die grauenhafte Schilderung eines verwesenden Leibes, der noch da und dort einen Teil seiner Schönheit bewahrt hat und da und dort schon in grausiger Auflösung ist, Nahrung der Würmer und Maden und allen ekelhaftesten Getiers.

»Und die Augen, weisst du, Remigius, die sind noch lebendig. Die sehen alles, was an dem eigenen Leib geschieht, jede Minute mehr. Man sieht, wie erschrocken sie sind und voll Ekel. Und dann sehen sie einen an, als wenn sie wissen wollten, ob man sich auch ekelt. Und man ekelt sich. Sie sehen es, und dann fangen sie an zu weinen und dann – ach – es ist entsetzlich. Mach das Licht an, Remigius, rasch, mach das Licht an. Ich kann nicht mehr.«

Remigius war selber froh, die Stallaterne anzünden zu können. Ihr warmes, rotes Licht schwemmte die Schreckensbilder, die da vor ihm entstanden waren, hinweg und machte wieder die enge, aber sichere Wirklichkeit des Schäferkarrens 157 deutlich. Er nahm jetzt selber einen kräftigen Schluck vom Mirabelle und gab auch dem alten Mann einen. Er sah, wie er vor Erregung und Angst zitterte und mit flackernden, fiebrigen Blicken den kleinen, doch so heimeligen Raum abforschte, ob in ihm nicht irgendwo noch Spuren seiner grausigen Gesichte glosten. Remigius wollte ihm so gern helfen, ruhig zu werden, und da fiel ihm ein, dass er in einem der Kalenderbände ein Gedicht über das Grab gefunden hatte. Er suchte es heraus und las es vor, mit halblauter, manchmal stockender, aber warmer und beruhigender Stimme. Dazwischen hörte man von draussen das Heulen des Windes und das Niederrauschen des Regens.

Wenn ich gestorben bin
Und in dem Grabe liege,
Dann weht der Sommerwind
So sänftlich drüber hin
Wie über eine Wiege.

Dann drängt aus tiefstem Grund
Der Früchte Seim und Süsse
Zu meinem stillen Mund,
Dass er, vom Tod noch wund,
Das ew'ge Leben grüsse.

Mein welkes Herz beginnt
Den neuen Spross zu treiben,
Der dann die Frucht gewinnt,
Die, wenn die Welt zerrinnt,
Bei Gott darf ewig bleiben.

Jakob Miro hatte bei den letzten Versen die Hände gefaltet, wie bei einem Gebet, und dann sagte er – Remigius hörte, dass es aus Tränen heraus geschah: 158

»Ah, das ist gut. Sag das noch einmal: Wenn ich gestorben bin, und in dem Grabe liege.«

Und Remigius las noch einmal:

Wenn ich gestorben bin
Und in dem Grabe liege,
Dann weht der Sommerwind
So sänftlich drüber hin
Wie über eine Wiege.

»Ah, das ist gut«, sagte er noch einmal, »das ist gut: So sänftlich drüber hin, wie über eine Wiege.

Das musst du für mich abschreiben, dass ich es lesen kann. Das hilft mir. Lieder haben mir immer geholfen. Manchmal hab ich einen schlimmen Tag gehabt, dann hat Beatrix ein Lied gesungen, und dann hab ich manchmal lachen müssen und noch öfter weinen und der schlimme Tag war weniger schlimm. Ach, darum muss sie zurückkommen. Das musst du selber sagen. Und – jetzt flüsterte er wieder – ich gönne ihr ja, dass sie es gut hat. Aber ich versteh nicht, was sie da macht. Es muss etwas mit Kunst zu tun haben. Das liegt uns im Blut. Ich hab früher die besten Grabdenkmäler im Land gemacht. Das weiss jeder. Aber die hier – sie steht da im ganz langen Kleid und blickt über einen hinweg, und es ist eigentlich unheimlich. Sie hat mir einmal vorgelesen aus Indien, dass sie da lange so stehen oder sitzen, und nur denken und still sind, und dann werden sie Zauberer und können sterben und wieder lebendig werden und spüren keine Schmerzen, wenn sie verwundet werden, und keinen Kummer, wenn man sie kränkt. Glaubst du, dass Beatrix so etwas wird? Es ist etwas um sie im Gang, Das weiss ich. Aber mein Kopf ist zu alt und zu müde, um es zu verstehen. 159 Sie könnte ja einmal ein Wort sagen. Ich bin doch ein alter, verlassener Mann, und wenn ich was verkehrt gemacht hab, so hab ich es ja nicht getan, weil ich schlecht war.«

Remigius liess ihn reden. Er spürte, dass es ihm im Reden leichter wurde. Zugleich stieg in ihm selber unendliches Mitleid auf. Er hatte den Greis noch in Erinnerung, wie er auf der Höhe seines Lebens stand, schön, stolz und glücklich. Jetzt war er einsam, sein Geist war verwirrt. Er war verwahrlost und schon fast schmutzig, und er würde nie mehr die Kraft finden zu einem neuen Leben. Erst war es Mitleid, wie man es mit einem kranken Hund noch hat und schon mit einem Mücklein, das sich im Spinnennetz verfangen hat. Aber dann wurde es mehr, ein wärmeres, herzlicheres Gefühl. Dieser Mann da, der schon nach Verwahrlosung ordentlich roch, war der Vater des Mädchens, das er geliebt hatte. Sie war ein Teil von ihm gewesen und würde es in alle Ewigkeit sein. Was sie an Zauber, an Schönheit und Liebenswürdigkeit besessen hatte, stammte zum guten Teil aus seinem Blut und aus seinem innersten Wesen. Jetzt, da sein Herz sich zu ihm neigte, war es ihm, als ob er der toten Geliebten selber begegne, im Leid, in der Erniedrigung, so dass sie jetzt nicht nur die Geliebte war, sondern auch das Kind, das entlaufene, verlorene, elend und schmutzig gewordene Kind, das in allem Schmutz und Elend nur noch geliebter war. Er füllte dem Mann, der noch immer vor sich hinredete, wenn auch leiser, allmählich und unverständlicher, noch einmal das Glas. Dann dachte er, er könne wohl auch Hunger haben. Er ging an seinen Kasten, schnitt ein ordentliches 160 Stück Brot und einen tüchtigen Fetzen Speck und gab ihm beides mitsamt dem Messer, damit er sich nach Belieben schneide. – Und siehe da! Jakob Miro fiel darüber her wie ein hungriges Tier. Er schlang herunter, ohne ordentlich zu kauen. Er schnitt den zähen Speck nicht klein genug, und so hingen ihm einmal die ungefügen Stücke zum Mund heraus, und einmal würgte er schrecklich daran. Aber als er fertig gegessen hatte, blickte er wie ein hungriger Hund auf Remigius, ängstlich und neugierig zugleich, und Remigius verstand diesen Blick und schnitt noch einmal Brot und Speck. Es ekelte ihn ein bisschen vor dieser nicht mehr menschlichen Gier. Aber er wollte sich vom Ekel nicht besiegen lassen. Er wollte ihn sich nicht verbergen. Er wollte sich nicht belügen. Aber er wollte Herr darüber bleiben. Oder er wollte den Ekel mittragen, wie ja in diesem Leben immer irgendwo ein Ekel, ein Schmerz, eine Scham mitzutragen ist. Die Narren, die meinen, dass es ohne das geht! Die Narren, die nicht glauben, dass auch der Genuss des wunderbarsten Apfels oder des duftendsten Brotes oder des süssesten Weines auch noch andere Folgen habe, als die Stärkung des Leibes und die Fröhlichkeit des Herzens!

»Prost, Vetter Miro!« sagte Remigius, »es tut mir richtig gut, dass es Euch hier bei mir schmeckt. Das nächste Mal will ich sehen, dass es ein bisschen besser ist. Aber nicht wahr, im Schäferkarren schmeckt einem auch schon ein Stück trockenes Brot!«

Jakob Miro erwiderte:

»Ich will dir etwas sagen, Remi« – ach, du lieber Gott, er sagte jetzt Remi, wie Beatrix das in ihren 161 kindlich frohesten Stunden gesagt hatte –, »die einen geben einem Schnaps, und die anderen geben einem Brot, und die einen sind Halunken, und die anderen sind Heilige. Aber, dass einer einem Brot und Schnaps gibt, das ist selten. Wer es tut, der muss ein Heiliger und ein Halunke in einem sein. Ich kenn mich da nicht aus, Remi, wie wird das sein? Wie wird man ihn nennen?«

Remigius lachte auf. Schnaps und Brot! Halunke und Heiliger, Ekel und Liebe, wären das nicht ein paar Takte aus der Melodie vom unbegreiflichen Leben?

Aber der alte Mann fuhr fort:

»Sie, sie hat geschimpft, wenn ich an den schlimmen Tagen oder an den Regentagen, oder wenn das Finanzamt sich meldete, ein paar Schnäpse hintereinander trank. Aber wenn sie sah, wie ich da sass und den Kopf hängen liess, da hat sie auch selber die Flasche geholt und mir ein ordentliches Glas voll gegossen. Und dann hat sie mich am Ohr gezogen und gesagt: Los, los, Meister Miro! Die Sonne kann nicht immer scheinen, aber es kann auch nicht immer regnen. Ja, so hat sie gesagt. Und jetzt steht sie da und sagt kein Wort. Und trägt nicht mehr das hübsche blaue Kleidchen, das mir so gut gefiel an ihr, sondern ein Gewand wie die im Theater. Und will nicht kommen und will nicht kommen. Ich bin dreckig jetzt. Das kann sie nicht leiden. Das weiss ich. Aber sie kann mir doch helfen, wieder ordentlich und sauber zu werden. Ich weiss, sie ist ein junges Mädchen, das gerne Rosen und Lilien und Reseda und Phlox hat und gute Seifen und Parfums und Wäsche, die nach Lavendel duftet. Aber zum Teufel; sie ist doch 162 auch meine Tochter, die sieht, dass ich krepiere. Und sie ist doch auch ein richtiger Mensch, der nicht nur fein und vornehm und sauber und duftend sein will, sondern auch helfen, wo ein Mensch sich selber nicht mehr helfen kann, auch wenn er dreckig ist und stinkt. Ich will dir was sagen, Remi: Sie nehmen eine Treulosigkeit nicht so wichtig, wie Dreck und einen Meuchelmord, wenn er weit genug weg geschieht, nicht so wichtig wie einen weniger angenehmen Geruch. Das ist so, das sage ich dir. So sind unsere Mitmenschen und Mitchristen. Was ihrer Nase für eine Minute angetan wird, ist schlimmer, als was einem ganzen anderen Leben für zehn Jahre oder für die ganze Ewigkeit angetan wird. Das ist so. Aber Beatrix ist nicht so. Sie hat immer auf die gepfiffen, die so sind. Aber jetzt kommt sie doch nicht. Jetzt steht sie da und blickt ins Leere und schweigt, als wenn sie ein indischer Zauberer werden wolle. Was sagst du, Remi, tu den Mund auf, red! Ich hab nun genug geredet.«

Remigius hatte während des ganzen Schwalls fieberhaft nachgedacht, was er sagen könne, um dem armen Teufel zu helfen.

Jetzt sagte er:

»Vetter Miro, es gibt Zeiten, da kann man nicht wie man will. Abgesehen davon, dass man eigentlich nie ganz kann wie man will. So ist es jetzt mit Beatrix, glaubt mir's nur, sie kann nicht kommen, und sie kann jetzt auch nichts für Euch tun. Später wird sie es können.«

»Aber es sind doch nur ein paar Schritte«, stöhnte der alte Mann.

Remigius antwortete: 163

»Ich bin Soldat gewesen in Saarlouis. Da hätte ich in der Mittagspause heimflitzen können. Aber ich durfte es nicht einmal am Abend, nicht einmal am Sonntag. Ja, einmal, da ist meine Mutter vorbeigekommen, wie wir in Reih und Glied standen und hat mir lachend zugenickt. Ich hab ihr nicht einmal ganz leise zurückzwinkern können. Sie ist ganz traurig geworden. So ist das jetzt auch bei Beatrix.«

»Aber Remi, die Beatrix ist doch kein Soldat. Sie hat es schon nicht leiden können, dass du Soldat geworden bist.«

Remigius erinnerte sich wirklich daran, mit welcher Empörung sie es aufgenommen hatte, dass der Mensch, den sie liebte, unter dieses Joch gebeugt wurde.

Er sagte:

»Nein, Beatrix ist kein Soldat. Aber es gibt Zeiten, da ist man strenger gehalten als die Soldaten und kann sich noch weniger aus der Reihe bewegen. Daran ist es jetzt mit Beatrix. Aber ich will Euch helfen an ihrer Stelle.«

»Ja, Remi, willst du? Das ist schön.« Und dann fügte er mit dem schalkhaften Lächeln, das Remigius von Beatrix her in Erinnerung war, hinzu:

»Aber singen an ihrer Stelle, das willst du doch nicht, Remi, oder?«

Dann brummelte er noch ein bisschen vor sich hin und schlief schliesslich wieder ein und schlief diesmal bis tief in den Morgen hinein.

Es hatte sich ausgeregnet. Der Himmel war klar und blass, und der nahe Buchenwald jenseits der Grenze schimmerte braungolden herüber. Remigius 164 war von stiller Heiterkeit erfüllt nach dieser seltsamen Nacht. Der Schäfer hatte ihm einen kleinen Vorrat von gemahlenem Kaffee gezeigt, von dem er bei besonderer Gelegenheit ruhig nehmen solle. Er kochte Wasser auf dem Spirituskocher und dankte Gott dafür, dass der Schäfer ein Lothringer war, für den nicht nur Kaffeebohnen wuchsen, sondern auch Spiritus destilliert wurde, um aus ihnen ein duftendes Gebräu werden zu lassen. Als der Duft das kleine, fahrbare Gemach erfüllte, wachte der greise Schläfer auf, rieb sich die Augen und sagte: »Beatrix, was ist denn – –«, und dann sah er den Mann, der ihn in seinem Schäferkarren beherbergte und fuhr mühsam fort:

»Ah, du bist da, Remigius. Ich weiss jetzt wieder. Sie will ja nicht kommen. Ich weiss, ich weiss, du hast mir's erklärt. Aber dein Kaffee riecht gut. Der riecht nach der Zeit, in der wir glücklich waren.«

Sie tranken ihren Kaffee. Die Türe stand auf. Sie sahen in den blauen Tag hinaus, hörten das muntere Blöken der Schafe und waren selber so vergnügt, als wenn die Nacht und der Schlaf allen Gram hinweggeschwemmt hätte. Aber dann wurde ihre Vergnügtheit jählings unterbrochen. Sie hörten Schritte, und mit den Schritten zusammen eine quäkende Altweiberstimme:

»He, Heda! Wo ist denn der Schäfer? Nachts saufen und morgens schlafen. Das kennt man, das kennt man!«

Und dann tauchte das Gesicht der Sprecherin vor der Türe des Karrens auf, rund, fett, gottselig, mit einem Blitzen von Bosheit in den Augenwinkeln. Philipp Miro sah sie und fuhr auf: 165

»Mein Gott, Traudchen!«

»Ja, mein Gott, Traudchen!« quäkte sie zurück. »Siebenundsechzig Jahre ist man alt geworden und muss sich morgens um sieben Uhr aufmachen, um einen alten Esel von Bruder zu suchen, und muss dabei noch das Rorateamt versäumen, wo man doch gelobt hat, in allen zu sein. Ah, und da ist der Herr Wolf, der Herr Remigius Wolf, der mit den Mädchen tanzt, bis sie den Herzschlag kriegen. Eine schöne Gesellschaft sucht sich der Bruder aus.«

Der alte Mann, der noch an seinem Brot kaute, sah sie an, zwischen Furcht und Spott und sagte mit verhaltener Stimme:

»Mit dir hätte höchstens einer getanzt, bis er selber am Herzschlag gestorben wäre, und das wär bald gewesen. Das sag ich dir.«

Sie blickte ihn wehleidig an:

»Das ist der Dank. Aber ich kenn es. Es gibt keinen Dank. Es gibt nur Niedertracht in der Welt. Meine Freundin Walburg vom Spurk sagt mir immer wieder: Traudchen, sie treten doch nur auf dein Herz. Und jetzt komm. Die Miros sind sowieso für ewige Zeiten blamiert. Es ist nicht notwendig, dass es noch acht Tage länger dauert!«

Remigius lachte:

»Na, wenn es schon für ewige Zeiten ist, dann kommt es auf acht weitere Tage ja auch nicht an!«

Sie blickte ihn wütend an:

»Du hast ja dem alten Narren noch gefehlt. Du hast uns allen noch gefehlt. Deine Mutter, die so alt war wie ich, war schon das schönste Mädchen im Dorf, und das wissen wir ja, was das bedeutet. Das schönste Mädchen ist das leichtsinnigste und 166 das verdorbenste. Das war immer so. Und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und Gott lässt seiner nicht spotten.«

Remigius sah dieses fette, vor Selbstgerechtigkeit strotzende und quäkende Frauenzimmer an und erwiderte:

»Meine Mutter ist sicher das schönste Mädchen im Dorf gewesen, und nachher war sie die beste Frau. Ihr wart damals vielleicht auch hübsch und vielleicht auch gut. Wahrscheinlich sogar. Und jetzt seid Ihr eine böse alte Juffer. Ich möchte tausendmal lieber sein wie Euer Bruder, als sein wie Ihr!«

Sie wurde unnatürlich blass:

»Ich weiss, dass ich eine Opferseele bin, und was die Gottlosen sagen, läuft an mir ab wie Wasser an einer Ente.«

Remigius grinste. Er dachte an die grössere, fettere Base der Ente, von deren Gefieder das Wasser gleichfalls abläuft, und dann geschah in seinem Innern etwas Seltsames. Alles an dieser alten, frömmelnden Frau widerte ihn an. Aber mit einem Mal erinnerte auch sie ihn an Beatrice. In ihren Augen war etwas, was Beatricens Augen glich, und ab und zu unterstrich sie das, was sie sagte, mit einer Handbewegung, die er hundert und aberhundertmal an der Toten gesehen hatte. Und dann fiel noch einmal aller Widerwille von ihm ab. Er sagte:

»Bas Traud. Wir sind zwei komische Heilige. Da habt Ihr ganz recht. Aber auch komische Heilige können manchmal einen ordentlichen Kaffee kochen. Ihr müsst es doch schon riechen, dass er ordentlich ist. Kommt und trinkt mit uns!« 167

Das alte Mädchen blickte ihn starr an, als wenn er ihr eine unausdenkbare Ausschweifung zugemutet habe. Dann aber gab sie sich einen Ruck, erstieg versöhnt die Stufen zum Schäferkarren und sagte:

»Na, dann wollen wir probieren!«

Sie probierte so eifrig, dass Remigius noch zweimal Kaffee nachkochen musste. Sie ass vier Schnitten Brot und vier Scheiben Speck, und als Remigius sie fragte, ob sie wohl einen Schluck Schnaps zur Verdauung nehme, antwortete sie:

»Was heisst: zur Verdauung? Wenn man fetten Speck gegessen hat, trinkt man einen Schnaps zur Verdauung, das gehört sich so. Her damit! Oder ist das auch Schaumschlägerei wie alles bei euch?«

Sie sass mit ihrem Bruder auf dem Bett des Schäfers. Remigius stand vor ihnen und versorgte sie mit Speise und Trank. Sie blickte ihn immer wieder an, ob er sie nicht verspotte. Aber schliesslich war sie davon überzeugt, dass guter Kaffee, Brot, Speck und sechsjähriger Mirabelle nicht gerade die gewöhnlichste Einleitung der Verhöhnung einer frommen, alten Frau sei, und dann schob sie noch einmal energisch ihr Glas Remigius hin.

»Das ist ja nicht nur für die Lumpen«, sagte sie. Remigius goss ihr ein bis an den Rand. Wann mochte das arme, alte Ding den letzten Schnaps getrunken haben?«

Sie nahm einen tüchtigen Schluck, und dann sagte sie:

»Mein Bruder Philipp ist ein Narr. Und du, Remigius, bist ein Tunichtgut. Aber zweimal Narr und Tunichtgut; es gefällt mir gar nicht schlecht 168 hier bei euch. Und Bohnenkaffee und Speck und Mirabelle! Das hab ich schon lange nicht mehr einzeln gesehen, um wieviel weniger zusammen. Aber mein Gott, wenn mich meine Freundin, die Frau Kranzberger, so sähe! Komm Philipp. Komm, wir müssen gehen.«

Philipp Miro sagte:

»Geh doch, ich brauch dich nicht.«

Da sprang sie auf und schrie von Kaffee und Mirabelle befeuert:

»Wann du mich nicht brauchst, dann brauchst du einen Wärter, du Narr. Mit dir muss man ja deutlich reden. Und der hier, das ist kein Wärter. Das ist ein Tänzer, ein Todtänzer.« So wohl ihr die Bewirtung gefallen hatte, es war ihr doch als eine ungeheure Herablassung erschienen, dass sie da in dem Schäferkarren sass und mit den beiden ass und trank. Sie war sich als eine Heldin der Nächstenliebe vorgekommen, als sie sich auf die Suche nach ihrem Bruder machte, obwohl es sicher vielmehr Neugierde und Angst vor Ungelegenheiten war. Und jetzt sollte sie sich gefallen lassen, dass der Gesuchte einfach sagte: »Geh doch, ich brauch dich nicht.« Sie wuchs immer mehr in den Zorn hinein und fuhr fort:

»Man muss sich so schon genug schämen. Gut, dass unser Vater selig das nicht erlebt hat. Der wäre darüber gestorben.«

Da lachte Remigius laut auf. Er sagte:

»Na, wenn er bis heute gelebt hätte, wäre er über hundert alt, und dann hätte er soviel Kummer erlebt, dass so ein bisschen ihm auch nichts mehr ausmachte.«

Sie fuhr ihn an: 169

»Misch du dich nicht in unsere Familienangelegenheiten. Wir haben von dir gerade genug. Kümmere dich um deine Familie. Dein Schwager läuft allen jungen Mädchen nach und macht ihnen den Kopf verrückt.«

Remigius sah sie an, schüttelte leise den Kopf und goss ihr dann mit einer fast verstohlenen Bewegung wieder ein Glas Mirabelle ein, und siehe da, sie trank, war dann über sich selber ganz erstaunt und sagte nur noch:

»So eine Unverschämtheit!«

Dann wandte sie sich wieder an ihren Bruder: »Also jetzt komm. Ich will das andere nicht gehört haben. Ich werd da unten schon für dich sorgen. Dein dummes Dienstmädchen ist davongelaufen. Komm, du kannst ja nicht hier wohnen bleiben.«

Da brach plötzlich der Widerstand des alten Mannes zusammen. Er weinte vor sich hin und stammelte dann:

»Ja, ja, ich geh mit. Du bist wenigstens gekommen. Sie nicht, sie nicht, und ich hab sie doch so angebettelt. Ja, ja, ich geh.« Sie sagten Remigius Adieu. Aber als sie schon ein paar Schritte vom Schäferkarren entfernt waren, kam Philipp Miro noch einmal zurück und flüsterte Remigius zu:

»Red du doch noch einmal mit Beatrix. Vielleicht hört sie auf dich. Hier hast du meine goldene Uhr. Ich schenk sie dir. Aber vergiss es nicht.«

Damit nestelte er an seiner Tasche. Aber sei es, dass er garnichts darin hatte, sei es, dass er im Handumdrehen vergessen hatte, was er wollte: Er wandte sich plötzlich ab und lief seiner Schwester nach, die schon unruhig geworden war. 170

Remigius atmete auf. Er war gut zu dem alten Mann gewesen und hatte versucht, es auch zu der Betschwester zu sein. Aber es war ihm etwas zu viel an Menschen. In ein paar Tagen der Bauer, die Frau aus Tromborn und Céline, der Bürgermeister von Ipplingen und sein Sekretär, dann Beatricens Vater und ihre Tante. Es schien, dass die Einsamkeit wie ein blühender Baum war, der nicht nur die Bienen, sondern auch die Wespen anzog. Er war zufrieden, das Gesumme und Gebrause los zu sein. Der Tag wurde noch klarer und schöner. Der Rauch der Pfeife kräuselte sich blau in die silberige Luft. Die Schafe, die am vergangenen Tag schon den Winter und den Stall gewittert hatten, sprangen vergnügt umher und die schon karg werdende Weide, die bald mehr dürre Disteln, dürren Rainfarn und andere dürre Stauden als grünes Gras aufwies, schien ihnen von der Sonne und der spätherbstlichen Luft wunderbar gewürzt.

Plötzlich wurde Remigius inne, dass sich in ihm etwas gewandelt hatte. Er war heraufgekommen, müde, verzweifelt, zornig und bitter. Jetzt war er nichts von dem allem mehr. Zwar lebte noch keine grosse Freudigkeit in ihm, überhaupt keine Freudigkeit, wenn er es genau prüfte. Aber er war ruhig und dem Gewirre enthoben, das ihn da unten wie mit dicken klebrigen Spinnfäden in sich hineingezogen hatte.

In einer Predigt war das Wort aus den Psalmen gefallen:

»Der Strick ist gerissen und wir sind frei.«

Das war es. Das Gefühl einer unsäglichen Freiheit durchströmte ihn, und es war ihm, als ob damit nicht nur für jetzt, sondern für immer etwas 171 gewonnen sei. Er dachte nicht darüber nach, wie es geschehen konnte. Wenn er es auch getan hätte, es wäre ihm kaum eine Antwort gekommen. Es war wohl so, dass die vergangenen sechs, sieben Jahre in ihm heimlich etwas hatten keimen und aufwachsen lassen, was zur Blüte und Reife noch einer besonderen Luft und eines besonderen Klimas bedurfte.

Das war ihm hier gegeben worden. Er blickte anders aus den Augen als vorher. Und wie es im Evangelium heisst, wenn das Auge hell ist, ist der ganze Körper hell: Dumpfheit und Nebel waren ihm aus Hirn und Herzen und aus allen Gliedern geschwunden. Das Dunkle und Schaudererregende, das es in der Welt gab, und das ihm ja auch in diesen Tagen mächtig genug begegnet war, blieb bestehen und blieb mächtig, aber es übermächtigte ihn nicht mehr.


 << zurück weiter >>