Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Am anderen Morgen erfuhr er, dass Trudel, das jüngste der Schwesterkinder, in der Nacht krank geworden sei. Er ging sogleich zu ihr und fand sie fiebrig und mühsam atmend. Sie versuchte, ihm zuzulächeln, aber es wurde nur ein klägliches Weinen daraus. Er holte den Arzt. Das war ein alter Mann, dem sein Haus und seine Habe von einer Bombe zerstört worden war. Er hatte seine Sprechstunde in einer Friseurstube und wohnte für sich allein in zwei bescheidenen Kammern des Pfarrhauses. Darüber spottete er oft, denn er gehörte nicht zu der Herde des Pfarrherrn und würde nie dazu gehören. – Falls ich nicht noch eine Gehirnerweichung bekomme – sagte er. Er galt als Grobian. Er gehörte wohl zu den Ärzten, die glaubten, man müsse den Bergleuten und Arbeitern, mit denen sie zu tun hatten, nur derb begegnen, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Aber zu dem Kinde war er sehr zart. Er streifte ihm mit fast mütterlichen Bewegungen sein Hemdchen ab und begleitete dann alles, was er tat, mit der brummigen Zärtlichkeit eines grossen Bernhardinerhundes. Als er fertig war, sagte er:

»Hör mal, kannst du eigentlich Honig essen?«, und ohne auf die Antwort des erschöpften Kindes zu warten, zog er aus seiner Mappe ein Töpfchen mit Honig heraus, tauchte den Finger hinein und steckte ihn in den Mund des Kindes, das sogleich daran sog, wie es vor einem Jahr noch an der Milchflasche getan hatte. 22

»Das Leben schmeckt ihm noch«, sagte er. »Da wird es nicht ganz so gefährlich sein, wie es aussieht.«

In dem Vorgärtchen des kleinen Hauses, wohin ihn Remigius begleitete, blieb er stehen und knurrte:

»Lungenentzündung! Eigentlich eine sehr gute Gelegenheit für so ein Würmchen, sich davonzumachen – de se sauver – wie unsere Nachbarn mit gutem Recht sagen. Aber ein Arzt ist ja nicht für gute Gelegenheiten da, sondern für das Leben. Komischer Beruf, kann ich Ihnen sagen. Fast so komisch wie das ganze Leben, nur nicht ganz. Und jetzt wollte ich, ich hätte Penicillin.«

Der Zustand des Kindes verschlimmerte sich rasch. Es glühte vom Fieber. Die kleinen Händchen fuhren ununterbrochen über die gewürfelte Decke des Kinderbettchens.

Eine Nachbarin sagte:

»Jesus, Maria, Joseph, das ist kein gutes Zeichen. Wenn sie so daherfahren, als wenn sie etwas suchten, dann ist es bald soweit. Es war so ein liebes Kind, ein richtiges Engelchen. Aber mir sind drei gestorben.«

Remigius hätte sie am liebsten hinausgeworfen, aber seine Schwester brauchte sie. Sie keuchte und griff sich immer wieder nach dem Herzen. Kaum konnte sie dem gequälten Kinde die Umschläge machen, die der Arzt befohlen hatte. Ihre Hand zitterte so, dass sie die Medizin verschüttete. In der Küche spielten die beiden anderen. Manchmal war zwischen ihren ungebändigten Stimmen die ebenso ungebändigte des Vaters zu hören. Er hatte einmal in die Kammer hineingeschaut, 23 hatte die Achsel gezuckt und war gleich wieder gegangen. Er hatte mit Krankheit nicht gerne zu tun. Wenn einer in seinem eigenen Haus krank wurde, betrachtete er das fast als eine bösartige Störung. Man hatte wahrhaftig genug am Hals. Es war nicht notwendig, dass etwas dazu kam. Im Dorf erzählte man, dass er jedesmal mit einem halben Liter Branntwein im Heu lag, wenn seine Frau ein Kind bekam, und dass er gesagt habe, am besten hätte man eine Zigeunerin zur Frau, die machten keine solchen Geschichten, wenn sie ein Kind zur Welt brächten. Viele Frauen sagten sogar, er sei ein Stück Vieh, aber sie lachten dabei.

Das Fieber des Kindes stieg und stieg, Es hustete zum Erbarmen und dazwischen liess es kleine jämmerliche Laute des Schmerzes hören. Die Nachbarin war gewiss bekümmert, dies ansehen zu müssen, aber sie gehörte zu den Frauen, denen Geburt und Tod und alles, was dazwischen liegt, vor allem Schauspiele sind, in denen sie das Leben am meisten leben, ja, am meisten geniessen. Remigius spürte das und seine Abneigung gegen sie wurde immer heftiger. Aber mit seiner Schwester wuchs er noch mehr zusammen in diesen Stunden. Ab und zu griff er leise nach ihrer Hand, wie er sonst nie tat. Er hätte sein Leben darum gegeben, ihr helfen zu können. Aber er war auch für sich selber von tiefer Angst erfüllt und von dem Gefühl, vor dem Abgrund zu stehen, vor einem dunkleren, böseren, als er je kennengelernt hatte. Es war unerträglich, dass ein Kind so litt, es war unerträglich und es musste doch getragen werden.

Die Minuten schlichen dahin wie Stunden und jede, jede war angefüllt von dem Husten, Keuchen 24 und Stöhnen des kleinen Wesens. In den Predigten hörte man, man müsse leiden, um für seine Sünden zu büssen oder um geprüft zu werden. Aber welche Sünden büsste dieses Kind? Und wie konnte man ein Geschöpf prüfen, das noch ein Säugling war? Remigius war auf den Namen eines der Frankenheiligen getauft und das Taufwasser war nicht nur über seine Stirn geflossen, sondern in sein innerstes Wesen hinein. Er war ein gläubiger Sohn seines gläubigen Landes. Aber in dieser Stunde konnte er doch nur scheu und gequält den Blick zu Gott erheben, fast wie ein Hund, dem sein Herr mit unverständlicher Härte begegnet, mit Worten und mit Schlägen.

Ein Fahrrad knirschte im Sand vor der Türe. Der Doktor trat ein. Er trug einen alten grauen Umhang, wie man ihn vor dreissig Jahren getragen hatte. Er war nass und mit Schmutz bespritzt von oben bis unten. Seine Brille war beschlagen. Er musste sie abnehmen und trocken reiben, um sehen zu können. Dann beugte er sich über das Kind, legte ihm die Hand auf die Stirne, prüfte den Puls und sagte:

»Da ist es Zeit, dass ich komme!«

Er war, da er noch keinen Wagen besass, mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren, hatte mit aller Not und mit aller Mühe, die ihm seine im Grund bäuerische Ungewandtheit bereitete, Penicillin bekommen und schickte sich jetzt an, dem Kind die erste Spritze zu geben. Es stiess einen schwachen Klagelaut aus, als es geschah und der Doktor brummte vor sich hin, sei es, um das Kleine zu beschwichtigen, sei es, um sich selber zu tadeln, dass er ihm weh getan hatte. Dann sassen sie zu 25 viert zusammen in einem Schweigen, das zuweilen von einem abgebrochenen Ausruf des Doktors unterbrochen wurde: – »Ach, du Lieber! – die Autos, ja die – verdammte Schweinerei!« – und von schwarzseherischen der Nachbarin:

»Wenn eins so plötzlich gepackt wird, das ist immer bös! – Und überhaupt, wenn das Jahr abnimmt, holt es einen leicht mit. Und das arme Engelchen hat auch noch die Zähne über die Brust bekommen.«

So sagten sie im Dorf, wenn mit dem Zahnen eines Kindes zufällig ein Brustkatarrh verbunden war. Es war aber eine der volkstümlichen Diagnosen, die der Arzt besonders wenig liebte. So antwortete er darauf mit einem derben Doktorenwort, das unverhüllt von der Möglichkeit sprach, die Zähne auch noch über einen anderen Körperteil zu bekommen. Die Nachbarin seufzte schamhaft und verschwand.

Das Kind aber atmete ruhiger, seine Bäcklein glühten in minderem Feuer und auf seiner Stirn waren ein paar Schweisstropfen zu sehen. Der Doktor fühlte ihm den Puls, brummte zufrieden und sagte der Mutter:

»So, Ihr geht jetzt schlafen, sonst sitze ich morgen oder übermorgen nacht an Eurem Bett, und ich schlafe auch verdammt gern, wenn es sein kann.«

Die Frau gehorchte und ging in die Nachbarkammer, aus der schon lange der ruhige und kräftige Atem des schlafenden Mannes zu hören war. Als sie die Tür öffnete, hörte man auch den Schlafatem der beiden anderen Kinder. Der Arzt hatte darauf bestanden, dass das Kranke allein 26 bleibe. Er führte ein unerbittliches Regiment, wenn es um das Leben eines Menschen ging.

Die beiden Männer sassen also allein an dem armen Bettlein des Kindes, das immer noch, aber seltener, stöhnte. Als drei Stunden vergangen waren, gab ihm der Arzt unendlich zart und mit einer Raschheit, als wenn er sie in den Rhythmus der Atemzüge einfügen wolle, eine zweite Spritze. Und wiederum wurde nach einer Weile der Atem ruhiger, wandelte sich das Feuer, in dem Gesicht und Hände glühten, in eine friedlichere Wärme.

»Das sind doch verdammte Kerle, die Engländer«, knurrte der Doktor, »während die Welt daran ist, im Grossen Selbstmord zu begehen, und sie im Grossen ganz lustig mit dabei sind, erfinden sie gleichzeitig das Penicillin, mit dem man so ein Würmchen und auch grosse Würmer vom Tode retten kann. Und kaum ist der Krieg am Ende, da geben sie es in alle Hände, auch in unsere. Und wenn ich da eben dem kleinen Ding die Spritze gemacht habe, da hat es eigentlich durch mich der alte John Bull getan, brummig wie ich, aber doch auch, wie ich, darauf aus, dass dem Tod ein Stück Leben aus den Händen gewunden wird, dass nächstens im März oder April nicht ein Kind weniger ist bei denen, die in der Wiese da draussen Schlüsselblumen pflücken. Sehen Sie, Remigius, in der Nacht kann so ein alter Doktor noch ganz poetisch werden. Und dann noch vor einem Zeug, das aus Schimmelpilzen geworden ist, aus ganz gewöhnlichen Schimmelpilzen, wie sie auf unserem Brot jeden Tag wachsen. Daraus machen sie dieses Wundermittel, mit dem nun dem Tod eine Beute um die andere abgejagt wird. Toll! Man soll 27 wirklich nicht ganz verzweifeln. Nicht einmal an den Schimmelpilzen. Aus den meisten Giften haben sie auch schon Heilmittel gemacht. Wer weiss, vielleicht wird auch noch einmal aus den Menschen etwas, obwohl ein alter Doktor in dieser Beziehung sehr skeptisch ist. Haben Sie eigentlich eine Zigarette? Wir könnten draussen eine rauchen.«

Remigius hatte von dem Tabak, den sein Schwager im Garten gepflanzt hatte. Er drehte eine Zigarette für jeden, und dann traten sie in die Nacht hinaus, um zu rauchen. Vom Wald und der Wiese her drang der Nebel gegen das Dorf. Die ersten Hahnenschreie waren zu hören und die ersten Fenster wurden hell. Die Bergleute rüsteten sich, zur Schicht zu fahren.

»Ihr Schwager bleibt daheim heute, hat er angekündigt«, sagte der Doktor, »gefühlvoller Vater. Scheint auch sonst ziemlich gefühlvoll zu sein, und ich liebe sie sehr, diese gefühlvollen, schönen Männer!« Er zog ein paarmal an seiner Zigarette und lobte sie mit den Worten: »Ah, prachtvoll heimatlicher Geschmack!«

Dann setzte er sein Selbstgespräch fort:

»Ich möchte ja nicht ungern wissen, was ein alter Soldat davon hält, von der Hoffnung nämlich, dass aus unserer komischen alten Rasse auch noch einmal etwas Gescheites werden könnte, wie das Penicillin aus dem Penicillium, aus dem Schimmelpilz.«

»Wenig«, antwortete Remigius.

»Wenig. Sie haben sicher gute Gründe für diese Antwort. Sie denken vielleicht an ihren Nachbarn Muschpeter, der sich zweiundvierzig die hübsche Studentin aus der Ukraine mitgebracht hat und 28 seine Frau vor die Tür setzen wollte. Er hatte übrigens ganz ernsthaft versucht, mit ihr nach Russland zurückzugehen. Aber, wie es scheint, zog sie nicht mehr.«

»An den denk ich auch, Herr Doktor, aber nicht nur, nicht nur. Ich denk auch an den Willi Schar, der gestern seine Mutter geprügelt hat, weil sie seiner jungen Frau nicht die Schuhe putzen wollte, und an die Erna Doller, die ihren Schatz für ein Päckchen amerikanische Zigaretten verraten hat, und an den Pastor von Ipplingen, der auch die Totenämter nur noch gegen Sachwerte übernehmen will –.«

»– – gegen Nützliches, steht in der Zeitung«, sagte der Doktor – –.

»Also gegen Nützliches, und ich denke an so viele. Nein, Herr Doktor, ich glaube nicht, dass einer aus dem Schimmelpilz, der wir sind, irgend etwas Vernünftiges machen wird –.«

»Ach, lieber Freund«, sagte der Doktor, und seine Stimme klang mit einemmal völlig verändert, »lieber Freund Remigius, ich darf wohl so sagen, ich hab Sie immer gern gehabt – glauben Sie, dass in Ihnen selber noch irgend etwas Gutes steckt?«

Remigius überlegte und dann fielen ihm die Schafe ein und die Mundharmonika und die Nacht bei dem Kind, und er sagte:

»Eigentlich ja!«

»Eigentlich ja! Und glauben Sie denn im Ernst, dass Sie so verschieden sind von denen, die Sie so leichten Herzens aufgeben? Ich glaube es nicht und ich glaube es auch von mir nicht und von keinem, die Heiligen vielleicht ausgenommen. Die 29 kenne ich nicht so genau. Sehen Sie, wir sind alle zusammen ein furchtbares Gewächs, aber auch ein wunderbares. Es gibt immer wieder nicht nur Dornen daran, sondern auch Rosen, immer wieder nicht nur Galläpfel, sondern auch süsse Goldreinetten. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, aber nein, wir müssen wieder zu dem Kind hinein. Die Geschichte erzähl ich Ihnen morgen.«

Er erzählte ihm die Geschichte am Nachmittag, als das Kind offensichtlich ausser Gefahr war. Er lobte wieder das Heilmittel und den englischen Lord, der es entdeckt hatte:

»Wenn wir jetzt etwas zu trinken hätten, Remigius«, sagte er, »dann würden wir auf sein Wohl trinken, aber ich habe nichts und Sie haben erst recht nichts. Und wir können uns nicht gut auf sein Wohl Morphiumspritzen machen. Oder haben Sie Lust? Nein? Na, später vielleicht einmal. Aber ihm zu Ehren will ich ihnen die Geschichte erzählen, kommen Sie. Ich muss ins Nachbardorf. Sie können mitgehen bis zum Wald oder auch in den Wald hinein, wie Sie wollen.

Ich hab da eine Geburt gehabt, in diesem Dorf –.« Während sie dahergingen, wurde er überall gegrüsst und er dankte, indem er nach allen Seiten seinen abgegriffenen schwarzen Hut lüftete. Einmal lächelte er dabei aufmunternd und einmal spöttisch, einmal mitleidig und einmal verächtlich. Ein alter Doktor kennt sein Dorf. Er weiss, was sich unter den Masken verbirgt, die ihm begegnen. Und wenn hinter der Maske des Hochmuts Schuld und Erbärmlichkeit und grauer Jammer glost, dann lächelt er verächtlich.

– »Ich hab da eine Geburt gehabt in diesem 30 Dorf. Schwere Sache übrigens, aber davon verstehen Sie ja doch nichts. Der Mann ist gerade vor acht Tagen zurückgekommen. Er war zwei Jahre in der Gefangenschaft. Und nun das Kind. Das Dorf hat darauf gewartet, dass er sie totschlüge oder doch alle Möbel oder Geschirre zerdepperte. Es gab da Frauen, die warteten mit mehr Vergnügen darauf, als auf eine Tanzmusik. Aber sie haben umsonst gewartet. Er hat sie nicht totgeschlagen, er hat auch keine Schüsseln zum Fenster hinausgeworfen. Er hat nicht einmal gebrüllt. Er hat ein paar Tage nicht den Mund aufgetan. Er ist ein paar Tage durch den Wald gelaufen wie ein wildes Tier. Dann hat er sie, als ihre Stunde schon nahe war, gefragt:

»Von hier?« Sie schüttelte den Kopf.

»Aus der Nähe?« Sie sagte nein.

Da wandte er sich ab und stiess zwischen den Zähnen hervor:

»Armes Biest!«

Nachher hat er geholfen wie eine Hebamme und die Frau blickt jetzt auf zu ihm wie zu einem Heiligen, wenn sie nicht gerade einen Seufzer schickt in eine Ferne, die wir nicht kennen.«

Remigius sagte:

»Den Mann möchte ich sehen.«

Und der Doktor antwortete:

»Ach nein. Lassen Sie ihn in Ruhe! Er hat es so nicht ganz leicht. Ruhe ist ein wunderbares Heilmittel. Am Ende auch für Sie . . .

Uebrigens, ich selber hätte die Frau vielleicht wirklich geprügelt. So eine vollendete Untreue gehört nicht gerade zu den Festlichkeiten des Lebens. Aber wenn ich es getan hätte, dann wäre 31 ich eben weniger Mensch gewesen als dieser kleine, armselige Krämer in Ensweiler, der jetzt nichts anderes als Nährmittel auf Karten und Gebäckaromen in giftigen Farben zu verkaufen hat.

Ich hätte sie wahrscheinlich geprügelt. Aber, aber – wenn die Männer, die der gleichen Schwäche, der gleichen menschlichen Armseligkeit zum Opfer gefallen sind, alle geprügelt werden sollten, dann gäbe es gewiss ein entsetzliches Geschrei vom Nordpol bis zum Südpol, und von Paris bis Tokio. Sie hätten wohl auch geprügelt, wie? Und vielleicht hätten Sie sogar zu denen gehört, die nicht wieder geprügelt worden wären. Aber ist denn da soviel Grossartiges dabei, bei der Tadellosigkeit, meine ich?

Eine Spur von Grossartigkeit ist dabei, das wird mir keiner ausreden, wenn dieser alte, dreckige, in jeder Beziehung ausgehungerte Landser zu seiner Frau »Armes Biest« sagt. Er hat Jahre, Jahre auf sie gewartet. Er hat sich die Heimkehr ausgemalt, glühend, farbig, saftig wie die frühen Pfirsiche seines Gartens. Und dann war einer vor ihm gekommen. Dann hatte einer den Garten zerstampft. Und er beugte sich zu dem Garten, sog mit bebender Nase den Duft seiner Scholle ein, den Duft seiner zerstampften Johannisbeersträucher, seiner geschundenen Pfirsichbäume und sagte: ›Armes Biest, armes Biest‹.«

Der Doktor hustete, hustete heftig und ausdauernd und dann fuhr er fort:

»Wissen Sie, Remigius, mir tut der Mann leid. Mir tut im Grunde alle Kreatur leid. Wenn sie geboren ist, muss sie sterben. Und bevor sie stirbt, muss sie leiden. Und ein alter Doktor sieht auch 32 noch im knorrigsten Sünder und in der dreckigsten Schlampe das Kind, dem er einmal geholfen hat, in dieses komische Leben zu kommen, obwohl es wahrscheinlich nicht gewollt hätte, wenn es irgend etwas davon gewusst hätte, was es nachher erleben musste. Und er hat eine Art von schlechtem Gewissen und eine Art von gutem Willen, die man nicht ins Wort fassen kann. –

Verdammt noch mal. Was sind Sie eigentlich für ein komischer Kauz, dass Sie mich so zum Schwatzen verleiten? Sagen Sie, glauben Sie eigentlich an den lieben Gott?«

Sie schritten an mächtigen alten Buchen vorbei, die in doppelter und dreifacher Mannshöhe Zeichen trugen, die vor langen Jahrzehnten hineingeschnitten worden waren – irgendwo erblickte der junge Heimkehrer mit dem Herzen voller Traurigkeit und Müdigkeit ein B – – Beatrix, ach, nein, damals hiess noch niemand Beatrix. – – Barbara vielleicht oder Beate oder Blandine, – aber die Erinnerung an den Namen Beatrix tat ihm weh, – – und dann sagte er:

»Eigentlich, ja.«

»Eigentlich, ja? Das ist jetzt schon das zweitemal, dass Sie das sagen. Sie sind doch eine sehr bejahende Abwandlung der Spezies Mensch. Aber jetzt können Sie verschwinden. Ich möchte nicht so schrecklich gerne mit Ihnen vor dem Hause ankommen, von dem ich Ihnen erzählt habe.«

Damit beschleunigte er plötzlich seine Schritte und war sehr rasch hinter der braunen Wildnis einer Wegbiegung verschwunden.

Remigius sann diesem Mann nach, der so ein guter Arzt war und so ein weiser und 33 einsichtsvoller Mensch, und dem man doch so seltsame Dinge nachsagte, mit jungen Mädchen und mit masslosen Gelagen und ähnlichen Geschichten. Die Welt war seltsam. Und es nützte wohl nichts, ein paar Einsichten mehr zu haben als andere. Man wurde nicht weniger seltsam davon.


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