Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Auf dem Rückweg durch den Wald, der jetzt, da er allein ging, schwermütiger war als vorher, begegnete er zwei jungen Mädchen, die aus der Stadt zu kommen schienen. Denn sie trugen Pelzmäntel und schritten anders daher als die Mädchen aus den Dörfern. Sie gingen Arm in Arm, eng aneinandergeschmiegt, und sie lächelten, als sie ihn sahen. Sie störten den Frieden des Herbstwaldes und warfen den Aufruhr in sein Blut, gegen den er sich so wehrte. Was nützte es, sich zu wehren, nach vorne, nach links oder rechts, wenn einem die Bedrohung in den Nacken sprang?

Als ihm ein Hase in den Weg lief, da wünschte er sich wahrhaftig, er wäre auch ein Hase. Dann konnte einem nichts mehr geschehen, als dass man irgendwann totgeschossen wurde und vorher ab und zu hungern musste. Aber kein Hase war so zerfetzt worden wie Dutzende von Kameraden links und rechts von ihm und Hunderte und Tausende auf den Schlachtfeldern, die auch die seinen gewesen waren. Und kein Hase hatte so bitteren Hunger leiden müssen wie sie auf dem Rückzug in Russland. Und bei ihm und bei ihnen allen, da lag zwischen Hunger und Tod tausendfältiger Gram und tausendfältige Sorge.

Daheim sass die Nachbarin bei der Schwester und dem genesenden Kind. Sie kaute an einem Brot, das ihr die Schwester gebracht hatte, 34 obwohl es bei ihnen selber mager genug herging, und als er in die Kammer kam, sagte sie:

»Es scheint es wahrhaftig gepackt zu haben, das gute Engelchen. Ich bin ja so froh. Aber ich weiss gar nicht, ob man froh sein soll. – Sie kaute zwischen dem Sprechen. – Ich weiss gar nicht, ob man froh sein soll. Wenn man tot ist, ist man wahrhaftig gut aufgehoben. Ach, du lieber Gott, wären wir nur schon alle soweit.«

Remigius sah dieses fette, blasse Gesicht, das ihn an die Engerlinge erinnerte, die man beim Umgraben des Gartens manchmal aus der braunen Erde herauswarf, und er sagte grinsend:

»Ach, manchmal geht es einem doch ganz gut, manchmal schmeckt es einem sogar ganz gut. Und ich hoffe, dass unsere Trudel noch Schokolade und Apfelsinen und cailloux de la Moselle aus Nancy zu essen bekommt, bevor sie zum himmlischen Gastmahl gelangt.«

Die Besucherin seufzte:

»Ach Gott, es ist keine Religion mehr unter den Leuten und unter den Soldaten schon gar nicht. Wir, wie wir jung waren, wir hätten uns Sünde gefürchtet, so etwas zu sagen.«

Er antwortete:

»Ja, das ist wahr. Wir können uns nicht mehr so gut fürchten wie Ihr.«

Er gab sich wieder mit Eifer an die Krippenarbeit. Nichts hilft so gut gegen den namenlosen Kummer, der in einem ist, mit dem Blut durch die Adern strömt, wie der Pulsschlag gegen die Wände des Lebens pocht, die Luft erfüllt, die man atmet, nichts hilft so gut dagegen wie eine deutliche, in jeder Stunde mit Namen zu nennende 35 Arbeit. Es ist wunderbar, einen Stapel Holz zu sägen und zu spalten. Es ist wunderbar, einen weiten Garten umzugraben, aus ungefügem Holz Besen und Rechenstiele zu schnitzen. Jede Arbeit ist gut, in die man sich hineinversenken kann, ohne durch Gerede von links oder rechts gestört zu werden. Man wird darin am ersten wieder einig mit sich selber und mit der Welt.

So bangte denn auch Remigius ein bisschen davor, dass diese zarte und süsse, diese weihnächtliche Arbeit vorzeitig zu Ende gehen könnte. Als die Schafe alle geschnitzt waren – eigentlich war es schon eine übergrosse Herde – und als den Hirten in einer schon etwas übertreibenden Weise auch noch ein kleines Mädchen beigegeben war, da begann er auch noch einen Schäferkarren zu arbeiten.

Man kennt diese leichten, zweirädrigen Karren, die dem Schäfer erlauben, auch eine kältere Nacht bei seiner Herde zu verbringen. Sie sind nicht wie ein Haus oder auch nur wie eine Hütte, so wie ein Zigeunerwagen wohl sein kann. Sie sind eher wie eine Verdeutlichung, wie eine Verdichtung jener zarten, kaum angedeuteten Sicherheit, die irgendwo im Herbstland in der Mulde zwischen zwei Hügeln sein kann. Mehr sind sie nicht.

Aber Remigius fasste eine plötzliche Liebe zu dem, was er da schnitzte. Es war ihm nicht, als wenn er an einem Spielzeug schneide und glätte, sondern an einer Kammer, die ihn morgen oder übermorgen aufnehmen solle. Er war mit seinem Herzen dabei und – lächerlich und fast sündhaft zu sagen – es bewegte ihn tiefer und mächtiger 36 als die Arbeit an der Krippe des Kindes. Es war ihm vom ersten Messerschnitte an, als wenn er sich da in eine eigene Zuflucht hineinschaffe und -bohre, in eine Zuflucht, wie sie sich die Soldaten dumpf ersehnt hatten, wenn der eisige Wind des Ostens sie umpfiff und der Tod ihre Ohren mit schrecklichem Geheul erfüllte. In der Scheune hatte noch der Stamm eines Kirschbaumes gelegen, davon sägte er ein armlanges Stück, liess es sich in geeignete Bretter zerschneiden und arbeitete mit dem schönen Holz nach einer Zeichnung, die er sich angefertigt hatte. Erst den Kasten mit einer Türe, deren Oberteil man gesondert öffnen konnte, und einem Fensterchen, das er auch mit Läden versah. Dann Achse, Räder und Deichsel und eine einfache Vorrichtung, um den Wagen fest zu stellen. Erst hatte er ihn grün anstreichen wollen. Aber dann sah er das schön gemaserte Holz und begann, es liebevoll zu polieren. Er empfand bei all dem eine Art von Glück und Zufriedenheit, die er seit langem nicht gekannt hatte. Einmal, als er so am Bosseln war, kam der Doktor, der sich immer noch um das genesende Kind kümmerte, sah ihm eine Weile zu und sagte dann:

»Sie machen das so hübsch, Remigius, dass man ordentlich Lust bekommt, sich den gleichen Wagen bei Ihnen zu bestellen, nur gross genug, dass man darin hausen kann. Das wäre überhaupt nicht so schlecht, als Doktor so durchs Land zu ziehen, allen Kampfer- und Aethergeruch los zu werden, und mit klar gewordenen Augen den einen oder anderen Kranken ein bisschen anders zu sehen, als man es sonst kann und als 37 es die anderen können. Ich kann mir unseren Meister Paracelsus gut in so einer Schäferkarre vorstellen.«

Remigius lachte:

»Ach, Herr Doktor, wenn ich einmal grosse Wagen mache, dann muss schon der erste für mich werden, und wenn ich schon einmal einen habe, dann ziehe ich auch damit los, und ein Jahr lang sieht mich niemand mehr. So weit ist die Welt immer noch.«

Der Doktor schaute ihn an, wie er ihn noch nicht angeschaut hatte:

»Remigius, Remigius«, sagte er, »ich glaube, wir gehören alle beide zu einer Sorte unverbesserlicher Landstreicher. Obwohl mir mein zerschossenes Haus am Bach leid genug tut und Ihnen gewiss auch das Ihre, und obwohl Sie jetzt schon hier wieder Wurzeln schlagen wie sogar ich in meinen zwei Pfarrstuben. Was haben Sie denn da für einen Schmöker liegen?«

Er las vor sich hin:

»Die strengen Winter der Saargegend in ihrer Beziehung zu den siderischen Constellationen. Ein bescheidener Versuch zur Ergründung des Weltzusammenhanges.

Toller Titel, was? Aber der alte Knabe, der Magister Jakob Pfiffer, hätte ihm getrost ein zweites ›Bescheiden‹ hinzufügen können: Bescheidener Versuch zur Ergründung des bescheidenen Weltzusammenhanges, – recht bescheiden ist der allerdings, und manchmal scheint einem, es gäbe überhaupt nur noch Bruchstücke aus einem grossen Spiel längst versunkener Zeit.

Aber den Schmöker könnten Sie mir eigentlich 38 lassen, als Honorar sozusagen. Ich habe eine plötzliche Sympathie zu den bescheidenen Versuchen gefasst.«

Remigius schob ihm lachend den alten, modrig riechenden Band zu. Aber da stand plötzlich sein Schwager in der Türe und sagte grinsend:

»Der Herr Doktor will sicher nichts von so armen Leuten geschenkt haben. Zwanzig Mark, Herr Doktor, dann sind wir einig.«

Der Doktor zückte schon seine Brieftasche, aber Remigius warf Johann Mohl einen wütenden Blick zu:

»Das ist natürlich nur ein Witz, Herr Doktor. Nehmen Sie das Buch, es gehört Ihnen.«

Der Doktor zögerte noch, aber unter dem zornigen Blick seines Schwagers lachte Johann Mohl laut auf und sagte:

»Nehmen Sie das Ding ruhig, Herr Doktor. Zwanzig Mark! Darauf kommt es uns nicht mehr an. Und das Trudel haben Sie wirklich gut kuriert.«

Der Arzt blickte noch einmal fragend auf den Mann, den er nicht sehr liebte, aber der nickte lachend. Da nahm er das Buch und ging.

»Warum siehst du mich an, als wenn ich ein Verbrechen begangen hätte. Zwanzig Mark! Die liegen immer noch nicht auf der Strasse. Aber für wen machst du das Zeug da? Für die Kinder? Gut, gut. Aber wart' mal, ich will dir was sagen. Das Wägelchen da, das ist ein Kunstwerk für sich. Wirkliche Liebhaberei, sowas. Dafür bekäme ich in Sablingen einen Liter Schnaps und am Ende auch noch ein Stück Speck dazu. Gib mir's. Du sollst dein Teil abhaben. Halb und halb. Ja?« 39

Remigius schüttelte den Kopf und arbeitete weiter an der letzten Verfeinerung seines Werkes, des Schäferkarrens. Es fehlte nicht mehr viel daran. Ein paar winzige, farbige Vorhänge fürs Fenster. Seine Schwester fertigte sie ihm lächelnd an mit ein paar Scherenschnitten und ein paar Nadelstichen. Dann war es soweit. Es war so hübsch, dass er Mühe hatte, es nicht jetzt schon den Kindern zu zeigen. Aber er selber konnte sich fast nicht von dem Anblick trennen. Als er schlafen ging, hätte er beinahe das Geschenk, das er sich da selber gemacht hatte, mit schlafen genommen, wie er es als Knabe mit jedem Bild, mit jedem Buch, ja auch noch mit einem riesigen Hirschkäfer getan hatte, der ihm gegen Abend im Garten an die Stirn geflogen war.

Beinahe hätte er es getan. Aber er tat es nicht. Er redete zu sich selber:

»Remigius«, sagte er, »zweiunddreissig Jahre alt bist du geworden, und sechs Jahre warst du Soldat. Du hast die furchtbarsten Dinge der Welt gesehen und die niedrigsten. Der Tod hat dich bedroht mit tausend Granaten und mit hunderttausend Maschinengewehrkugeln. Mit Hunger und Durst und Kälte und mit den Wassern reissender Flüsse. Du bist weit, weit fort gewesen und du bist noch nicht zu Hause. Du bist ins Unendliche hineingewirbelt worden und wirst noch lange nicht in die Bucht eines saftigen, irdischen Gartens hineinwehen. Deine Mutter ist gestorben und deine Liebste untreu geworden. Und du spielst wie ein Kind, das nur gerade das Gesicht zum Weinen verzogen hatte, weil die Sonne für eine Minute von einer Sommerwolke verschattet war. Du spielst, mein Sohn und 40 es ist wahrhaftig keine Zeit zum Spielen, für niemand, aber für dich schon gar nicht? Oder vielleicht doch, oder vielleicht gerade?«

Er nahm jedenfalls den Schäferkarren nicht mit schlafen. Er liess ihn in dem Küchenwinkel stehen, in dem er daran gearbeitet hatte, und er liess es sich an der Freude genug sein, ihn am anderen Morgen wieder zu sehen, wieder in den Händen halten zu können und vielleicht doch noch irgendeine hübsche Kleinigkeit hinzuzufügen. Aber am nächsten Morgen war der Schäferkarren verschwunden. Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass der Schwager ihn genommen habe. Dass er dieses bescheidene, aber leuchtende Werklein guter Tage in Schnaps für ein paar ausgelassene Tage verwandeln würde, und er war zornig wie schon lange nicht mehr. Als Johann Mohl am Nachmittag heimkam, fragte er ihn denn auch gleich:

»Wo hast du den Wagen hin verschachert?«

Johann Mohl, von dem ein Ruch ausging, als wenn er schon eine flüssige Anzahlung auf den Kaufpreis bekommen habe, und dessen Augen ebenso funkelten, antwortete mit verlegenem Grinsen:

»Verschachert, was heisst verschachert? .Ich habe ihn mal mitgenommen zum Zeigen. Das werd ich wohl noch dürfen. Am Ende war es ja auch mein Holz, aus dem du das Ding gebosselt hast. Wie kannst du da bloss gleich schachern sagen? Ich bin doch kein Schacherer!«

»Nein, ein Lump bist du«, rief Remigius in seinem masslosen Zorn, »ein Lump, der die Weihnachtsfreude seiner Kinder für Schnaps gibt. Ein trauriger Lump bist du, dem nichts schade und nichts heilig ist.« 41

Johann Mohl pfiff hämisch vor sich hin:

»Ach, der Herr Schwager. Ach, der Herr Obergefreite Wolf. Da hat er wahrhaftig einen heiligen Wagen fabriziert. Aus meinem sündhaften Holz versteht sich. An meinem Herd wärmt er sich auch. Der ist mit den Kohlen geschürt, um die ich mich da unten abmurkse, während der Herr Schwager nette, kleine Dinge macht. Ich wundere mich schon die ganze Zeit, dass dem Herrn Schwager mein Dach und meine Küche und mein Bett und mein Brot nicht zu schlecht sind. Wenn der Herr Schwager doch vielleicht einmal nach etwas Besserem Ausschau halten wollte, bald vielleicht. Heute noch. Der Herr Schwager könnte vielleicht in meinem sündigen Haus noch mehr heilige Sachen machen, und – wie heisst es noch: ›O Herr, ich bin nicht würdig!‹«

Die junge Frau fing laut an zu weinen. Einen Augenblick sah es so aus, als wenn Remigius sich auf den heillosen Spötter stürzen wolle, um ihn niederzuschlagen. Aber er tat es nicht. Er lächelte wie einer, der weit fort ist. Dann ging er auf seine Dachkammer, um seine geringe Habe in den Rucksack zu packen, den er irgendwo auf dem Weg aus der Gefangenschaft gegen ausländischen Tabak erworben hatte. Ein bisschen Wäsche, einen Anzug, ein Lehrbuch über elektrisches Schweissen, »Dreizehnlinden« von Weber, sein Rasierzeug, ein paar Messer und Feilen, die er zum Schnitzen brauchte, Briefe seiner Mutter und seiner Schwester ins Feld – die Briefe von Beatrix waren lange verbrannt – und gerollt über den Rucksack gelegt eine dicke Decke, die ihm ein mitleidiger Amerikaner mit auf den Weg gegeben hatte. Das war alles. Er zog 42 seinen Mantel an – das war immer wieder ein bisschen bitter, weil er ihn mit Beatrix zusammen gekauft hatte – setzte den alten verbeulten Hut auf den Kopf und schritt langsam die Treppe hinunter, die ihn wieder in die Küche führte.

Die Schwester schrie laut auf, als sie ihn so sah. Der Schwager sagte:

»Das ist ja Quatsch, was du machst. Wo willst du jetzt hin? Es ist Nacht in einer Stunde. Und ausserdem, du hast dumm geschwätzt und ich hab dumm geschwätzt. Wir könnten es doch beide vergessen.«

Er hatte kein gutes Gewissen seiner Frau gegenüber. Er wusste auch, dass Remigius eine grosse Hilfe für sie alle bedeutete. Ausserdem gab es die Hypothek, die der Schwager auf dem Haus stehen hatte. Darum suchte er das Gewicht seiner Worte herabzumindern.

»Los, bleib da! Mach' einen zweiten Schäferkarren. Es ist ja noch Holz genug dafür da. Und den Schnaps für den ersten trinken wir zusammen.«

Wahrscheinlich haben nicht nur Sterbende, sondern auch Scheidende eine Art von Hellsichtigkeit für das eigene Leben und für das der anderen. Remigius las jedenfalls in der Seele des anderen wie in einem offenen Buch. Sein Zorn verflüchtigte sich, aber sein Ekel wuchs. Die beschwörenden Worte der Schwester erfüllten ihn mit heissem Mitleid, aber sie konnte ihn nicht umstimmen. Er trat noch an das Bettlein des genesenden Kindes, das ruhig schlief, fuhr ihm zart über die kühle Stirne und trat in den beginnenden Abend hinaus. Er wusste mit einem Mal, dass sein Aufbruch viel tiefere Gründe hatte als den Streit mit dem 43 Schwager, als dessen Angriff auf seinen Stolz. Er wusste mit einem Male, dass er dieses Heim, das nicht sein Heim war, nicht mehr ertragen konnte, und dass dieser kleine bescheidene Hafen, in den er aus den unendlichen Stürmen der letzten Jahre hineingefunden hatte, noch nicht der richtige Hafen war. Er war ganz froh, dass dieser Streit gekommen war,. sonst hätte er noch länger in einer Luft gelebt, in der er auf die Dauer erstickt wäre, in der seine Seele erstickt wäre. Er ging durch die dämmernden Strassen. Der Regenwind des späten Herbstes wehte ihm um die Stirne, und es tat ihm unendlich wohl, so ins Ungewisse hineinzuwandern. Nach ein paar Dutzend Schritten stand er vor den Trümmern seines Elternhauses, vor Trümmern, die zu nichts mehr dienen konnten als vielleicht zu einem Steinbruch. Es war gut, dass die Mutter das nicht mehr gesehen hatte. Es war gut, dass sie irgendwo in der Fremde hatte sterben können, mit der Hoffnung im Herzen, doch noch einmal in diesem guten alten Haus zu leben. Noch in ihrer letzten Stunde hatte sie davon gesprochen, sie würde in dem thüringischen Dorf, das sie aufgenommen hatte, sicher Geranien- und Fuchsienzwinken bekommen, so dass im kommenden Herbst schon ihre Fenster wieder grün und rot geschmückt wären. Und tausendmal hatte sie gesagt:

»Wenn ich nur wieder einmal in meinem Bett schlafen könnte. Ich mein, so wär es gar nicht richtig geschlafen. Ach, wenn ich einmal wieder in meiner Küche stehen könnte, an meinem Herd und mit meinen Töpfen hantieren und kochen, wie ich will. Ach, wenn ich nur einmal wieder am Abend in dem alten Sessel sitzen könnte neben 44 dem Ofen und den Wind draussen hören und den Regen.« –

Es war ihr nichts mehr beschieden gewesen von all dem. Sie musste die Augen zum letzten Schlaf in einem fremden Bett schliessen. Der letzte Bissen Brot, den sie auf dieser Welt genoss, war fremdes Brot. Im nächsten Sommer aber konnten zu ihrem Gedächtnis nicht einmal ein paar Geranien mehr an ihrem Fenster blühen, denn es gab diese Fenster nicht mehr. Es gab ihre Stuben nicht mehr und ihr Bett nicht mehr, nicht mehr ihren Herd und nicht mehr ihren lieben alten Hausrat, den sie Jahrzehnte hindurch so sorgsam gehütet hatte, wie die Frauen der alten Zeit das taten. Alles, das Grosse und das Kleine, war zerstört und ineinander gewühlt, als wenn eine gewaltige, böse Hand erst das Haus genommen und geschüttelt und geschüttelt hätte, um es dann zusammenzupressen und zu schlagen. Plötzlich hatte er eine Vision seiner Mutter, wie sie gegen Abend eines solchen Tages am Fenster stand und in das Dorf hinausblickte, als wenn sie auf etwas warte. Dieses Bild tat ihm so weh, dass er hätte weinen mögen. Aber dann sagte er sich:

»Wer weiss, vielleicht hat sie jetzt bekommen, worauf sie immer gewartet hat. –«

Es gab so viele Fragen in der Welt, und die Antworten, die einem von anderen kamen, waren meist nicht sehr zu gebrauchen. Man musste wohl oder übel darauf warten, dass einem brauchbare Antworten im eigenen Herzen aufwuchsen. Er hatte in den Trümmern gesucht, soweit man das konnte, ohne sein Leben zu sehr zu gefährden, denn was da noch stand, konnte jeden Augenblick 45 über einem zusammenbrechen. Es war nicht mehr viel zu finden gewesen. Ein Kupferkrug, der vom Urgrossvater stammen sollte, war das Beste. Aber wie er jetzt, ohne viel nachzudenken, einer schon erworbenen Gewohnheit folgend, mit dem Fuss im Schutt wühlte, kam ein Steinknopf zum Vorschein, von dem er ganz plötzlich über jeden Zweifel hinaus musste, dass er einmal die Pelerine der Grossmutter geschmückt hatte. Er bückte sich und hob ihn auf, und da stand Beatrix neben ihm.

»Du gehst nicht mit allen Erinnerungen so zärtlich um«, sagte sie.

Er antwortete:

»Der Knopf ist noch ganz. Und ich denke, er hat fünfzig Jahre gehalten. Vielleicht auch siebzig oder achtzig. Ich weiss es nicht so genau.«

Sie griff nach seiner Hand, und er war zu müde, um sich zu wehren.

»Ach Remi, vielleicht bin ich auch nur unter den Schutt der Zeit geraten. Und wenn mich einer aufhöbe wie du den Knopf, dann könnte er sehen, dass ich auch nicht zerstört bin in meinem Wesen.«

Er machte sich zögernd frei. Er wollte ihr nicht weh tun.

»Ich kann nicht, Beatrix. Ich kann wirklich nicht. Vielleicht ganz später einmal. Jetzt hab' ich schon mit mir selber mehr als genug zu tun. Ich bin auch nicht zornig über dich. Ich verachte dich nicht. Ich glaub' auch gar nicht, dass man dich aus dem Dreck aufheben müsste wie so ein Ding da. Nur dich auf meinem Weg mitnehmen, das kann ich nicht. Du kannst auch ruhig wissen: ich bin mir selber fast zu viel, und ich weiss nicht, wo mein eigener Weg hinausgeht.« 46

»Ach, du gehst fort?«

Sie war an der Begegnung so erschrocken, dass sie jetzt erst sah, wie reisemässig er daherkam.

»Ja, ich gehe fort.«

»Weit?«

»Ich weiss es noch nicht.«

»Meinetwegen?«

Dabei blitzte die Hoffnung in ihren dunklen Augen auf. Er lachte, und sie war einen schwebenden Augenblick glücklich. So hatte er in ihrer guten Zeit gelacht, mit ein bisschen Spott, ein bisschen Schelmerei und ein bisschen Güte.

»Nein. Eigentlich nicht. Mein Schwager hat mich rausgeworfen. Das ist alles.«

»Aber komm' doch zu uns, Remi. Unser Haus ist doch ganz. Und wenn wir auch eine Familie bei uns wohnen haben, es ist immer noch eine Kammer übrig. Sie wird sogar vom Kachelofen in der Stube mitgeheizt. Da stört dich keiner. Und ich lass dich auch in Ruhe, Remi, das schwör' ich dir. Ich will dir nie wieder sagen, dass ich dich liebe, trotz allem, und dass ich dich geliebt habe, immer. Ich will dir nie, solang du unter unserm Dach bist, sagen, dass ich unglücklich bin, mehr als du vielleicht. Du sollst nur ein Heim haben, in dem dich niemand schief anschaut, schon gar nicht der Mohl Johann. Er gehört auch zu dem Dutzend, die mich nie in Ruhe lassen wollten, und die ich trotz allem um Strassenbreite von mir ferngehalten habe. Komm' gleich mit, Remi. Du kannst bei uns schnitzen und lesen und was du sonst willst. Mein Vater, weisst du, ist wie ein kleines Kind, er kennt kaum mich mehr. Er will essen und trinken und zu guter Stunde schlafen gehen. Das ist alles. Ich 47 trage alle Last des Hauses. Da bin ich auch Herrin. Es ist ja auch schon bald Nacht. Wohin willst du da noch gehen?«

Es lag eine grosse Verlockung in dem was sie sagte. Wer so lange Soldat hatte sein müssen, war müde und verlangte nach Ruhe, verlangte nach einem Bett, nach einem Herd. Es lag auch Verlockung in ihrer dunklen Stimme, Verlockung in ihrem Blick, in dem zarten und demütigen Lächeln ihres Mundes. Aber dann sah Remigius plötzlich Arthur Thiever sich über diesen Mund beugen. Schmerzhaft deutlich, als wenn es Wirklichkeit wäre, sah er es und dann sagte er:

»Adieu, Beatrix« und ging rasch davon. Es war nicht grossartig, dass er von dieser Vision nicht loskam, aber die Welt war ja auch nicht grossartig und die Menschen auch nicht.


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