Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Remigius hatte in der Tür seines Karrens eine Laterne stehen. In ihrem warmen roten Licht sah man den Umriss seiner Gestalt, ein paar Schafe und den Hund, der sich jetzt ganz friedlich zu ihnen gesellte. Ringsherum war schon Nacht, ohne Sterne und mit der dichtesten Finsternis des nahen Waldes. Aber hier leuchtete ein kleiner Lichtkreis, voll von gutem Leben und von einer sicheren Kraft der Tröstung. Die drei Menschen strebten darauf zu, ohne dass sie es wollten. Remigius sah sie aus der Nacht kommen. Sie störten seine Einsamkeit nicht, sondern sie erfüllten sie, der Bauer von dem einsamen Nachbarhof, die Frau aus Tromborn, die über Land zog, um die Angst aus der Welt zu jagen, und dieses junge Mädchen, das ihn an Beatrix erinnerte, nur dass es eine glücklichere und schuldlosere Beatrix war. Es durchbebte ihn, nach seiner Harmonika zu greifen und das Lied zu spielen, das er vor langer Zeit einmal gelernt hatte:

»Kein schöner Land in dieser Zeit,
als hier das uns're weit und breit.« 111

Aber er scheute sich natürlich, es zu tun. Er kam zu nichts anderem, als dass er die ersten Takte leise vor sich hinsummte. Das genügte aber, dass Céline das Lied zu singen begann, mit zarter und doch fester Stimme, mit warmer, frommer Stimme:

»Kein schöner Land in dieser Zeit . . .«

Remigius war tief bewegt. Zwiefältiges Gefühl durchströmte ihn. Es drängte ihn zu dem singenden jungen Mädchen. Er hätte gerne nach ihrer Hand gegriffen, um sie zu halten und sie zu küssen, nicht leidenschaftlich, sondern ehrfurchtsvoll und dankbar. Aber er wusste wohl, dass dies unmöglich war. Er spürte in einem brennenden Schmerz, was ihn von Céline trennte: der Krieg, seine Armut, seine Unwissenheit, aber noch mehr als dies alles irgend ein Siegel von Auserwähltheit, das fast sichtbar auf dieser reinen Stirn leuchtete.

Und dann spürte er mit jener Gewissheit, die fast jedem Menschen in einem feierlichen Augenblick seines Lebens begegnet, dass die klare Schönheit dieser Stunde sehr, sehr zart und zerbrechlich, ja einem nahen und unvermeidbaren Abschied zugeordnet war. Er musste in dieser Minute an seine Mutter denken, wie ihr Gesicht zwischen den Geranienstöcken zu sehen gewesen war im Fenster, an Beatrix, wie sie auf ihrem armen Totenlager ausgestreckt gewesen war, schöner als immer und befreiter und siegender, und seltsamerweise auch noch an einen Fischadler über einem der tausend finnischen Seen, der lange gross und königlich im blassen Blau des nordischen Himmels schwebte, bis ihn plötzlich die Feuergarbe herunterholte, wie einen Stein heruntersacken liess, 112 die es einem deutschen Offizier gefiel auf ihn loszulassen. Diese drei Bilder wurden ihm so lebendig, als wenn er sie mit seinen Augen sähe, und sie machten ihn alle drei traurig und bang.

Aber die Frau sagte:

»Komm, Céline. Wir müssen heim. Ihr, Bauer, geht ruhig heim. Ihr dürft die Heilung Eurer Frau auf keine zu harte Probe stellen. Und Ihr, Schäfer, könnt wohl noch mitkommen bis zum Wald. Solange bewacht Euch der Hund wohl die Herde.«

Remigius nahm seine Laterne und ging mit den Frauen. Er war froh, dass er es durfte. Er fragte, wie es auf dem Hof gegangen sei, und die Frau berichtete kurz, ohne zu erzählen, was sie gesagt oder getan habe.

Remigius sagte:

»Aber ich muss schon fragen, – Ihr dürft nicht bös sein, wenn ich es tu – wie ist das: Ihr kommt daher, redet mit der Frau, geht mit ihr um auf irgendeine Weise, und dann ist sie verwandelt und gesund?«

Die Frau lachte, wie ein junges Mädchen, das gefragt wird, warum seine Augen so strahlen, warum seine Wangen so rot sind:

»Ach, Remigius. Gott hat mir gegeben, in dieser unruhvollen Welt ruhig zu sein. Das ist alles. Es ist eine Gabe. Man weiss nicht, wie man dazu kommt. Man kann nichts dafür, aber man muss dankbar sein. Ich bin es, oder ich versuche doch, es zu sein. In einem Klostergarten in Varize gibt es eine kostbare Apfelsorte, gross wie ein kleiner Kinderkopf, Anfang September schon reif, und voller Duft und voller Süsse. Früher soll sie im ganzen Land verbreitet gewesen sein. Jetzt ist sie 113 noch an der einen Stelle, damit man doch sieht, dass es sie einmal gegeben hat. Versteht Ihr?«

Remigius verstand wohl, dass ihre Ruhe gemeint war, die keine Trägheit des Leibes oder der Seele war, sondern die Freiheit der Kinder Gottes, die freilich bei ihr reif und süss geworden war über das Mass der Äpfel des Landes.

Sie standen vor dem Wald, und es wollte Remigius nicht passen, gerade da, vor dieser dichteren und gefährlicheren Dunkelheit von den beiden Frauen zu gehen, aber die ältere nahm seine Hand und sagte:

»Adieu, Remigius, der Schäfer muss zu seinen Schafen. Wir sehen uns sicher wieder. Wenn auch nur Gott weiss, wie!«

Céline aber sagte nur:

»Adieu, Meister, gute Nacht!«

Er kehrte um und wäre froh gewesen, bald schlafen zu können. Aber er konnte es nicht. Er musste an die Begegnungen des Tages denken. Das Bild des lothringischen Mädchens mischte sich geheimnisvoll in das der toten Geliebten. Das Antlitz der Frau sah ihn an aus guten, aber unergründlichen Augen. Es war ihm, als habe er etwas versäumt, versäumt, etwas zu fragen oder etwas zu bitten. Dann zog der Reigen aller Gestalten des neuen Heimatlebens an ihm vorüber: Die Schwester mit ihren Kindern, der Schwager, der Doktor, Christoph mit seiner Mutter und Schwester, Arthur Thiever, der Schäfer, der Bauer, die Bäuerin. Draussen im Feld hatte einer gesagt: »Seele, Seele brauchen nur die, die mit dem Leib zu kurz gekommen sind, die Verkrüppelten oder Kranken. Die Gesunden, die kräftigen und 114 wohlgestalteten Leibes sind, kommen mit ihm prächtig zurecht.« Manchmal hatte es fast geschienen, als wenn das wirklich so sei. Wo war bei seinem Schwager die Seele oder bei Arthur Thiever oder bei dem siebzehnjährigen Mädchen, mit dem er getanzt hatte. Aber dann stand auch Céline wieder vor ihm, dieses wahrhaft gesunde und schöne Menschenbild, und er malte sich aus, was sie zu solchen lästerlichen Meinungen sagen würde. Wie sie die Seele aller Menschen verteidigen würde, gegen sie selber, gegen ihre Gier und Wut und gegen all ihre Torheit. Er malte sich das so lebendig aus, dass er fast ihre Stimme zu hören glaubte, und ihr tapferer Klang scheuchte die Bilder fort, die gegen seinen Schlaf standen.

Er dämmerte ein, aber es hatte gewiss noch nicht lange gedauert, da schlug der Hund leise an, ein-, zweimal. Davon wachte er auf. Er hörte etwas wie ein leises Gemurmel, aber ein vielstimmiges und etwas wie das langsame Gehen von vielen nackten Füssen. Er sprang auf, und da sah er in dem Licht von ein paar schwankenden Laternen einige Dutzend undeutliche Gestalten, die sich der Kapelle der heiligen Oranna zu bewegten.

Er ging nach, und als sie alle in das nächtliche Heiligtum eingetreten waren, da war er auch an der Türe und blickte durch einen Spalt hinein. Es waren lauter Frauen, junge und alte, in dunkle Mäntel gehüllt, aber barfuss, eine wie die andere. Sie zitterten vor Kälte. Erst beteten sie noch einen Rosenkranz zu Ende, den sie unterwegs begonnen hatten. Dann aber erhob sich aus dem Schweigen, aus dem Seufzen und leisen Weinen, das darauf gefolgt war, eine Stimme, vielleicht die einer Frau 115 von dreissig Jahren, eine nicht allzu starke und dunkle Stimme und betete:

»Heilige Oranna, zu der wir seit mehr als tausend Jahren kommen, als zu unserer Mutter und Schwester, höre auf uns, denn wir sind sehr traurig. Du bist jungfräulich durch dieses Leben gegangen. Aber da du bei Gott bist, weisst du doch, was wir leiden, die wir Männer hatten und jetzt nicht mehr haben. Einige von uns wissen, dass ihr Mann in Frankreich oder Russland begraben ist, und sie sind immer noch von Weh beladen. Sie weinen immer noch in den langen Nächten um den Mann und den Vater ihrer Kinder. Sie urteilen nicht über jene, die längst vergessen haben. Gott hat sie so erschaffen. Aber wir selber können nicht vergessen, und Gott hat auch uns erschaffen. Bitte du für uns, nicht dass wir vergessen, sondern dass wir unter der ewig wachen Erinnerung nicht erliegen.

Heilige Oranna, bitte für uns!«

Ein Sturm des Gebetes erhob sich: Bitte für uns, bitte für uns, bitte für uns. Und alle Klage des Landes schluchzte in das Gebet hinein: Bitte für uns, bitte für uns!

Die Stimme fuhr fort:

»Andere unter uns suchen ihre Männer in fernen Ländern, über Meere und Wüsten. Sie warten auf ihre Heimkehr Tag um Tag und Nacht um Nacht. Und an jedem Tag werden sie müder und in jeder Nacht werden sie trauriger. Sie tragen auch zu ihrem Kummer und zu ihrer Sehnsucht noch Kummer und Sehnsucht ihrer Männer. Gott hat ja gewollt, dass die, die vor ihm den Bund eingehen, zwei seien in einem Fleisch, in einem 116 Glauben, in einer Hoffnung und in einer Liebe. Darum bitte ihn für uns, dass er die heimführe, die wir lieben, die uns lieben und dass er uns und ihnen Kraft gebe, auf den Tag zu harren.

Heilige Oranna bitte für uns!«

Und wieder antworteten alle:

»Bitte für uns, bitte für uns, bitte für uns!«

Und alle schmerzliche Sehnsucht des Landes brannte in dieser Bitte.

Die Stimme fuhr fort, leiser als vorher, zitternd:

»Andere unter uns haben anders zu leiden, tiefer noch, bitterer noch. Ihre Männer sind aus dem Krieg heimgekommen. Aber sie haben den Krieg mit heimgebracht, sie haben die Wildheit mitgebracht und die Unordnung und die Heimatlosigkeit. Sie sind ihren Frauen jetzt ferner, als sie ihnen im Schrecken waren, und sie tun ihnen weher, als mit aller äusseren Trennung. Wir klagen nicht über sie. Wir beklagen sie, und wir hoffen auf den, der die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche. Fleh auch du zu ihm, o du Heilige unseres Landes. Heilige Oranna, bitte für uns.« Bitte für uns, bitte für uns, bitte für uns. –

Remigius erinnerte sich daran, dass seine Schwester einmal erzählt hatte, im Nachbardorf sei von einigen Frauen mit einer nächtlichen Wallfahrt nach St. Oranna begonnen worden. Das war es. Das hatte er jetzt vor sich. Es war eine Sache der Frauen. Ja, es war eine fromme und liebende Verschwörung gegen die Männer. Aber es war doch auch eine Sache des ganzen Landes. Sein wahres Antlitz leuchtete dabei auf, mitten in der Nacht, und der Schlag seines innersten Herzens wurde mächtig bei all dem kranken und wirren Tumult 117 des Tales, der Städte und der grossen Dörfer. Das gab es also immer noch. Das war noch nicht verloren, und dann war vieles noch nicht verloren, was sonst verloren scheinen mochte. In diesen dunklen Jahren waren in Remigius Fragen über Fragen aufgestiegen nach Gott und der Welt, nach den Menschen und dem Leben, und er hatte auch kaum eine Antwort gefunden. Jetzt geschah ihm dies: Nicht, dass er Antworten fand, sondern dass er bis in den Grund der Seele gewiss wurde: Es gab diese Antworten, oder es gab sie alle in einer einzigen. Es gab die geheimnisvolle Ordnung der Welt, den geheimnisvollen Sinn des Lebens. Die Trauernden dieser Welt waren in Wahrheit nicht ihre Unglücklichen und die Mächtigen der Völker nicht ihre Herrscher.

Plötzlich dachte er an seine Schwester, die auch in diesem Zug der Trauernden und Beladenen hätte sein können. Er schämte sich plötzlich, dass er fortgegangen war. Was wog die Kränkung, die ihm widerfahren war, gegen das, was sie jeden Tag zu tragen hatte. Er hätte bei ihr bleiben und ihr helfen müssen. Aber er hatte sie im Stich gelassen, wie er Beatrix im Stich gelassen hatte. Nur, dass es hier noch nicht völlig zu spät war, es gutzumachen. Es zog ihn jetzt zu ihr und zu den Kindern. Aber er würde warten müssen, bis der Schäfer zurückkam. Zuerst aber zog es ihn auch zu seinem Schäferkarren. Es war ein so seltsam bewegter Tag gewesen, und die Nacht hatte noch seltsamer begonnen. Es war Zeit, dass es Schlaf und Ruhe und Schweigen gab. Aber die Nacht hatte für ihn noch ein kleines Zwischenspiel bereit, in dem Lächerlichkeit und Trauer bedrückend 118 gemischt waren. Er zog sich leise von der Kapelle und der Schar der betenden Frauen zurück, und als er etwa einen Steinwurf weit war, hörte er, wie zwei Räder über den holperigen Weg gedrückt wurden und hörte Stimmen. Eine weibliche, lachende sagte:

»Hörst du sie, wie sie da drinnen rascheln, die Herrgottsmäuse? Es stimmt also, dass sie diese verrückte Barfusswallfahrt machen. Ich lach' mich tot.«

Und eine ähnliche Stimme antwortete:

»Halt deinen dummen Mund. Sie können so gut wallfahren, wie wir nach Zwieblingen gehen, um Schnaps zu trinken und Schinkenbrote zu essen, und so weiter. Ich schere mich den Teufel um ihren Kram, aber ich spotte auch nicht. Und du sollst es auch nicht.«

Diese Stimme war die des Doktors. Remigius wusste, dass über ihn geredet wurde. Aber er hatte sich nicht viel um das Gerede gekümmert. Jetzt sah er, hörte er vielmehr, dass etwas dahinter war. Die beiden Radfahrer blieben stehen. Sie sagte:

»Du bist ein Brummbär. Und ich lass mir von dir nicht sagen, ich soll den Mund halten. Dafür bin ich zu alt.«

Die andere Stimme antwortete:

»Ja, du bist gerade so alt, dass du vor einem Jahr noch im Marienchor mitgesungen hast. Dass ihr verdammten Weiber euch nicht von da lösen könnt, ohne gleich gehässig und boshaft zu werden.«

»Pass nur auf, dass ich nicht zu dir boshaft werd'!« sagte sie, und dann zogen sie schweigend weiter.

Remigius blieb seltsam bewegt und aufgewühlt 119 zurück. Er hatte bei den paar Begegnungen da unten im Tal für den Doktor eine Art von Freundschaft gefasst. Er hatte gesehen, wie ernst er seine Arbeit nahm, wie er stundenlang am Bett eines armen, kleinen Arbeiterkindes sass und es dem Tod abgewann. Sie hatten richtige Männergespräche miteinander geführt, in denen rauh und doch scheu an das Rätsel der Welt gerührt wurde. Und jetzt zottelte dieser Mann mit einem jungen, frechen Ding durch die Welt. Vielleicht war es hübsch, dieses junge Ding, aber vielleicht genügte es auch schon, dass es jung war und in Saft und Fülle der Jugend stand. Er hatte da unten keineswegs gesagt, dass er von den Menschen sehr viel halte, sei es von anderen, sei es von sich selber. Er hatte von Dreck gesprochen, und es war keine Redensart gewesen. Aber es war trotz allem bitter, dem hier zu begegnen. Es war so, wie wenn man einen guten Kameraden, einen Menschen, den man gern hat, den man vielleicht bewundert, gerade –

Ach, was sollen alle Vergleiche. Geh schlafen, Remigius. Geh in deinen Karren und lass dich vom ruhigen Atem deiner Schafe umwogen. Die Welt ist, wie sie ist. Neben den barfüssigen Pilgerinnen, die Gebete voller Liebe und Geduld und unerschütterlichen Glauben zum Himmel schicken, gibt es eben die Törinnen, die meinen, sie müssten jede Frucht auspressen und aussaugen, auch wenn sie schon hundertmal gesehen haben, dass das Ende Uebelkeit und Erbrechen ist. Neben dem Geheimnis der lebendigen Seele in der Welt gibt es auch das Geheimnis des lebendigen Fleisches, des heissen, drängenden, gierigen Fleisches. Du kannst es nicht ändern, Remigius. Geh nur schlafen und denke an 120 die Dinge, die dich heute getröstet und frohgemacht haben.


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