Johannes Kirschweng
Der Schäferkarren
Johannes Kirschweng

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Er ging langsam zur Kapelle hinüber, trat ein und betrachtete die heilige Oranna, vor der Philipp Miro gestanden hatte als vor seiner Tochter. Er erschrak, denn es gab eine offensichtliche Ähnlichkeit zwischen der Heiligen und der toten Freundin. Oranna sah aus, wie Beatrix ausgesehen hätte, wenn sie glücklich gewesen wäre, wenn sie hätte bewahrter und ungefährdeter leben können. Wie kommt es aber, dass der eine ein Heiliger wird und der andere ein unglücklicher Mensch? Wird man nicht zu beidem unvermeidlich geboren? Ebenso wie man dazu geboren wird, ein Bettlerskind oder ein Königskind zu sein? Lass nur das Fragen, Remigius! Es haben schon Klügere als du gefragt und keine Antwort gefunden. Denk lieber, dass die Heiligen jene Glücklichen sind, die unsere Brüder und 172 Schwestern sein wollen. Falt die Hände und sprich zu der Heiligen deines Landes und seiner Einsamkeit, deiner Einsamkeit jetzt auch, und erzähle ihr von Beatrix und ihrem Vater. Erzähl ihr vielleicht auch von dir selber. Denn wenn auch Nebel und Dumpfheit vom Bergwind aus dir herausgeblasen sind, deine Schmerzen sind doch geblieben.

Remigius war kein grosser Beter und war es kaum gewöhnt, anders als mit den in der Schule auswendig gelernten Worten und den Worten des Gesangbuches zu beten. Aber er faltete jetzt doch die Hände und sagte:

»Heilige Oranna, du siehst aus und blickst in die Welt, als wenn sie nur Friede und Freude wäre. Und du hast doch so gut wie wir alle erlebt, dass sie voll Streit und Leid ist. Wie fängt man es an, trotzdem so auszusehen wie du? Und nicht nur so auszusehen, sondern auch zu sein? Vor dreizehnhundert oder vor vierzehnhundert Jahren ist vielleicht ein Ahn von mir hier oben bei dir gewesen. Er hat dich gefragt, wie er mit seiner Frau leben könne, die ein verdüstertes und verängstigtes Gemüt hatte. Du hast ihm geantwortet und ihm geholfen. Ich aber, ich muss nicht mit einer verdüsterten Frau leben, sondern mit einer ganzen Welt, die dunkel und wirr und unheimlich ist. Kannst du nicht auch mir ein Wort sagen?«

Er hörte den Herbstwind draussen rauschen und hörte das Blöken seiner Schafe. Da fuhr er fort:

»Wir glauben ja, dass wir in der Welt Gottes leben. Aber wie ist es? Lässt er sie nicht ab und zu aus den Händen, so, dass der Teufel sie in die Hände nehmen kann? Und wenn es nicht der Teufel ist, dann sind es doch dunkle, 173 unaussprechliche Gewalten, die uns treiben und plagen, ohne dass sie selber wissen, wie und warum?«

Er blickte auf die schwesterliche Heilige, als wenn sie gleich den Mund auftun und reden müsse. Aber sie schwieg und lächelte weiter.

Remigius hatte halblaut vor sich hingesprochen, wie man es in der Einsamkeit leicht tut. Wer sollte ihn hören ausser der Heiligen und den Mauern ihres Kirchleins, die fast alle Klagen und Fragen und Zweifel des Landes seit tausend Jahren gehört hatten.

So fuhr er denn zusammen, als plötzlich nicht die Heilige ihm antwortete, sondern eine rauhe, bellende Stimme, die vom Portal her kam:

»Das ist ja ein sehr frommes Gebet, muss ich sagen. Wenn sie alle so beteten, würde die gute Oranna sicher gleich vom Altar heruntersteigen und in den Wald ziehen, wo die Wildschweine nicht beten, aber auch nicht lästern.«

Remigius hatte sich umgewandt und sah den Mann, der so redete. Er war wie einer der älteren, graueren, böseren Widder der Herde, ein Widder, der sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, weil er die anmassende menschlichere Art zu stehen und zu gehen, verhöhnen wollte. Er trug auch einen Mantel aus Fellen und seine niedere Stirn war so bucklig und zeigte in den Winkeln so scharfe Vorsprünge, als wenn da morgen oder übermorgen Hörner durchstossen wollten. Er lachte laut auf, als er den erstaunten, ja fast erschrockenen Blick des einsamen Beters sah, und aus dem Lachen heraus fuhr er fort:

»Ich glaube, sie würde sowieso gehen, deine Heilige, wenn sie nur gehen könnte, wenn sie nur 174 Beine hätte. Aber sie hat keine. Heilige haben keine Beine, und wer schon Beine hat, wird sicher kein Heiliger. Die einzigen Heiligen, die es gibt, sind aus Holz geschnitzt. Das heisst: Die kostbareren. Die billigen sind aus Gips. Und nach den Gewalten musst du niemand fragen, der aus Holz oder Gips gemacht ist. Nach den Gewalten musst du mich fragen. Ich bin aus Fleisch und Blut und aus dem Wind und den Wolken da draussen. Ich weiss, was mit den Gewalten ist.«

Damit stopfte er seine Pfeife und entzündete sie. Ein bitterer Geruch wie von Scheiterhaufen und Hexenbrand schwelte gegen den tausendjährigen Weihrauchduft der Kirche an.

Remigius sagte:

»Das geht doch nicht. Ihr könnt doch nicht rauchen hier.«

Der Mann erwiderte:

»Du siehst doch, dass ich es kann. Da ist ein Ort so gut wie der andere. Zum Rauchen und zu vielen anderen Dingen. Aber es schmeckt mir draussen besser. Das ist richtig. Ich mag auch die Holzheiligen nicht so gern. Komm nur mit raus. Sprich zu mir, wenn du sprechen musst. Ich hab keine Holzohren.«

Remigius wollte den Frevelreden und dem Frevelqualm im Häuslein der wehrlosen Heiligen ein Ende machen. Darum folgte er.

Draussen waren am blauen Himmel schwere Wolken aufgezogen, die mit Schnee drohten, oder auch mit einem späten Gewitter. Eher mit einem Gewitter, denn der Fremde stand vor dem Wolkenhimmel wie ein Polter- und Donnergeist. Er funkelte mit den kurzen Armen durch die Luft, als wenn er 175 bis zu den schweren, dunklen Gebilden greifen könne, sie melken könne wie Euter, aus denen es dann von Regen und von Blitzen strömte.

»Du gehörst noch zu den Frommen« sagte er, »und dabei scheinst du nicht einmal ganz dumm zu sein.«

Remigius hatte gute Lust, dem frechen Widdermenschen ins Gesicht zu schlagen. Aber während es ihm schon in den Fingern zuckte, wurde er sich bewusst, dass er schlagen wollte, weil er nicht mit Worten antworten konnte, weil er nicht jene klaren und knappen Worte fand, mit denen man diese Frechheit zunichte machen konnte. Die Frechheit des Fremden hatte etwas Teuflisches an sich. Sicher wäre es besser gewesen, im geweihten Bann des Heiligtums zu bleiben. Da gab einem die Luft schon ein, was man sagen musste. Aber dann sprach er doch. Seine Lippen sprachen. Etwas sprach aus ihm heraus. »Armer Teufel!« sagte er und dann weiter:

»Ihr seht aus wie ein Widder und redet wie ein Wolf. Habt Ihr auch Hunger wie ein Wolf?«

Der Mann sah ihn an, als wenn er sich gleich auf ihn stürzen wolle und stiess ein wahrhaft wölfisches Knurren aus. Dann lachte er höhnisch.

»Gibt es einen, der keinen Hunger hat? Aber wer anderen zu essen gibt, ist ein Narr.« »Dann bin ich ein Narr«, sagte Remigius, »kommt nur mit. Es muss auch Narren geben.«

Der Mann folgte ihm zum Schäferkarren hin und hielt bald ein mächtiges Stück Brot in der Hand, in das er seine wölfischen Zähne schlug. Er kaute unermüdlich und liess unterdes seine Augen spazierengehn. Der Blick in den Karren, der ihn 176 am meisten gereizt hätte, war ihm durch den Schäfer verstellt. So blickte er gierig über die Herde hin und es war, als wenn er sich unter den fetten Tieren das fetteste aussuche.

»Nichts zu machen?« fragte er. »Kann man da kein Geschäft machen? Ich komm überhaupt sozusagen in Geschäften. Da springt vielleicht so ein Hammel dabei heraus. Für dich allerdings ein viel netteres Tierchen.«

Er lachte böse auf. Dann fuhr er fort:

»Da unten ist eine, eine Junge und Feine. Die ist verrückt nach dir. Die will dich haben. Der Tage ist sie vorbeigekommen. Aber du hast sie nur angeknurrt. Das reizt die Weiber und jetzt hat sie sich dich erst recht in den Kopf gesetzt. Sie schickt mich her. Sie hat eine Wirtschaft da unten. Ihr Mann ist noch in Russland, und sie braucht notwendig eine Hilfe. Hahaha. Jawohl, eine Hilfe. Sie meint, du wärst der Mann dafür. Es gibt da unten zu essen und zu trinken und zu rauchen. Na ja und alles. Kleider und Schuhe will sie dir auch besorgen. Es ist ja auch noch ein Motorrad von dem anderen da. Und das ist doch auch ein Geschäft, mein ich, bei dem so ein dummer Hammel gut herausspringen könnte.«

In Remigius war ein solcher Ekel aufgestiegen, dass ihn das Würgen ankam. Er roch ordentlich jenes süsse und schwere Parfum, das um die Frau aus dem Tal gewesen war, und es vermehrte noch sein Missbehagen. Er wollte antworten. Aber der Mann redete selber noch einmal:

»Ja, wenn man jung und stark ist, hat man Chancen. Nachher ist's vorbei. Wenigstens bei den Jungen und Hübschen. Unsereiner muss es billiger 177 tun. Also, wann willst du kommen? Und was für ein Tier kann ich mir heraussuchen als Lohn für das Ausrichten?«

Remigius antwortete:

»Ihr könnt Euch den Maulwurf holen, der grad da stösst vor Euren Füssen. Ihr könnt ihn braten und seinen Pelz als Kuppelpelz nehmen. Und kommen will ich, wenn ich so verkommen bin wie Ihr. Aber davor soll mich Gott behüten.«

Der Mann schüttelte den Kopf:

»Ich mach mir verdammt wenig aus den Menschen. Weniger als aus den Hunden, die man doch fangen und schlachten kann. Aber du hast mir zu essen gegeben. Am besten mein ich es natürlich mit mir selber, wie jeder. Aber auch mit dir mein ich es nicht schlecht. Auch der Mensch ist eine Ware. Warum willst du nicht mit dir selber ein gutes Geschäft machen? Mir hat die Nela da unten einen Liter Schnaps versprochen und hundert Mark, wenn alles klappt. Aber du, du kannst Schnaps trinken und Geld haben, soviel du willst. Das ist doch etwas. Es gibt auch noch andere Frauen, die mich schicken, und andere Männer, zu denen ich gehe. Meinst du, dass sich viele zieren? Jeder holt aus diesem dreckigen Leben heraus, was drin ist, Fressen, Saufen, Rauchen und das andere. Morgen oder übermorgen ist's aus. Aber, was ich gefressen habe, hab ich gefressen.«

Remigius ekelte sich über die Mahsen. Aber er hatte auch Mitleid mit dem Tiermenschen trotz allem und so sagte er:

»Habt Ihr denn keine Mutter gehabt?«

»Wahrscheinlich, aber ich hab sie nicht gekannt.«

»Und seid Ihr denn nirgends daheim und – –« 178

»Ich bin in Ruplange auf die Welt gekommen. Aber seit ich aus dem Metzer Seminar herausgeflogen bin, haben sie da nichts mehr von mir wissen wollen. Ich aber auch nicht von ihnen.«

»Und jetzt habt Ihr niemand?«

»Ha, ich hab eine ganze Menge. Wenn auch nicht so junge und hübsche wie die Nela. Das wär ja gelacht.«

Remigius hätte herzlich gerne das graue, schmutzige, vieljährige Eis ums Herz dieses Menschen zum Schmelzen gebracht. Aber er sah wohl, dass es nicht ging und so sagte er nur noch:

»Ihr seid wirklich ein armer Tropf. Kommt, trinkt noch einen Mirabelle und dann geht Ihr. Ich kann Euch nicht helfen. Es gibt kein Geschäft und Eure Nela findet sicher einen anderen.« Der Mann trank seinen Schnaps und dann ging er davon. Als er den Weg erreicht hatte, der ins Tal führte, rief er Remigius eine Unflätigkeit zu, die seine Weigerung erklären sollte. Aber Remigius schüttelte sich nur. Das war vorbei. Die Welt war böse. Ein Schmutzstrom wälzte sich trüb und stinkend durch ihre Breiten. Aber auf seiner Oberfläche trug er allerhand glitzernde und lockende Dinge, und die Menschen stürzten sich trotz allem Gestank in die Wogen hinein, um danach zu haschen.

Als er zu seinen Schafen gehen wollte, sah er, dass der Mann etwas verloren hatte. Es war ein Brief und er war an ihn gerichtet. »An den Schäfer auf dem Berg« stand da als Adresse. Der Mann hatte ihn nicht nur verloren. Er hatte ihn vergessen. Remigius las: »Lieber Schäfer! Sie müssen nicht auf das dumme Geschwätz von dem 179 Krallpierre hören. Ich hab nicht gesagt, dass er reden soll. Den Brief soll er abgeben, sonst nichts. Ich brauche Hilfe im Geschäft. Ich pack es nicht mehr, und ich hab mir gedacht, Sie wären der richtige Mann. Es sind Fahrten zu machen, die ich nicht machen kann. Es gibt Arbeit im Haus und im Keller.«

Soweit war es eine ziemlich ordentliche, nur da und dort etwas verschnörkelte Geschäftsschrift, mit violetter Tinte auf ein gelbliches Papier gebracht. Dann aber war die Feder über das Blatt gerast:

»Ich liebe Dich, Du Dummer. Ich kenne Dich länger als Du meinst. Ich betrüge Dich nicht mit einem Arthur Thiever wie Deine vielgeliebte Beatrix getan hat. Ich – – –«

Da spuckte Remigius aus und zerriss den Brief in ungezählte, kleine Fetzen. Pfui Teufel, noch einmal.

Er kehrte zur heiligen Oranna zurück, faltete von neuem die Hände und sagte:

»Könnt ihr Heiligen denn gar nichts an den Menschen ändern? Könnt ihr nicht helfen, dass es da und dort ein paar richtige gibt, keine Betschwestern, keine Krangler, keine Leidlebigen und keine Bitteren, keine Säufer und keine Hurer, keine Wolfsmenschen und keine Schweinsmenschen, richtige Menschen, die beladen und gesegnet sind, die sündigen und Busse tun? Ein bisschen schon könntet ihr für uns tun, ein bisschen.«


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