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Der Kampf

.In später Nacht erst verließ mich Waldhofer. Wir hatten uns lange beraten, was nun zu tun sei. Aber auch als ich allein war, fand ich keine Ruhe. In dieser Nacht ist das Licht nicht ausgelöscht worden im alten Bankettsaal. Vor Jahrhunderten hatte vielleicht ein Rittersmann in demselben Saale unruhige Stunden verlebt, wenn der nächste Tag entscheiden sollte über Sieg oder Fall, Leben oder Tod.

Seine Kämpfe, seine Unruhe können nicht größer gewesen sein als meine.

Um ein Herz! Ein Ringen um ein Herz mit der Aussicht, daß der Kampf wohl vergebens sein würde.

Gegen Morgen erst sank ich in einem der großen Sessel in schweren Schlummer. Als ich erwachte, war ich völlig erstarrt.

Ein bleigrauer Wintertag lag draußen über dem Hofe. Es klopfte. Baumann kam.

»Ah, der Herr Doktor sind schon wach! Das gnädige Fräulein wünscht den Herrn Doktor zu sprechen. Ich soll dem Fräulein melden, wenn –«

»Es ist gut, Baumann! Sagen Sie dem Fräulein, ich sei bereit. Ist die Wohnstube frei?«

»Nein, der Herr Oberförster ist gekommen.«

»Dann lasse ich das gnädige Fräulein hierher bitten.«

»Hier – in den Bankettsaal?«

»Jawohl, hierher! Sie sehen, daß alles in Ordnung ist.«

Er ging.

Wie war mir? So, als ob ich einen Boten an den Feind gesandt hätte: ich wollte nun die Entscheidung.

Ich riß ein Fenster auf. Da fror ich. Dann trank ich ein Glas Wasser. Einen Sessel rückte ich gerade. Dann sah ich in den Spiegel, ob meine Krawatte gerade sitze. Ich schloß an einer Schranktür. Zuletzt lehnte ich mich fest gegen den schweren Tisch und wartete.

Sie kam.

An der Tür, die sie nicht völlig schloß, blieb sie stehen. Wir schauten uns schweigend an. Ihr Gesicht war kalt, wie aus Stein.

»Ich hörte, daß Sie nicht abreisen, daß Sie hierbleiben wollen, und ich wollte mich bloß persönlich überzeugen, ob das wahr sei. Weiter wollte ich nichts.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Marianne!«

»Sie wünschen?«

»Sehen Sie dahin!«

Ich zeigte auf den gepackten Reisekorb.

»Es müssen schon gewichtige Gründe sein, die Sie hinderten abzureisen.« »Sehr wichtige Gründe, Marianne! Die gewichtigsten wohl, die möglich sind.«

»Wollen Sie mir den Grund erklären, der einen Mann abhalten kann, sein Wort zu halten?«

»Ja das will ich. Ich bitte Sie nur, mich anzuhören.«

»Aber machen Sie es recht kurz!«

»Ganz kurz! Mit einem Satze! Ihr Vater ist zurückgekommen!«

Sie antwortete nicht. Sie bewegte sich nicht. Sie sah mich nur verständnislos an. »Marianne, Ihr Vater ist nach Deutschland zurückgekommen!«

Sie antwortete immer noch nicht; aber ein leises Schauern lief über ihre ganze Gestalt. Ich ging zu ihr hin und ergriff ihre kalten Hände.

»Kommen Sie, Marianne! Setzen Sie sich!«

Sie ließ sich willenlos zu einem Stuhle geleiten. Ich fuhr mit der Hand über ihren Scheitel. Auf der Stirn standen feine, kalte Schweißperlen.

»Fassen Sie sich, Marianne – geliebte Marianne!«

Da endlich schaute sie zu mir auf.

»Was sagten Sie? Sagen Sie es noch einmal!«

»Ihr Vater ist wiedergekommen, Marianne!«

»Das ist doch nicht wahr! Das ist doch Unsinn! Das ist doch eine lächerliche Lüge!«

»Es ist wahr, Marianne! Sie müssen es glauben! Er ist bei Ihrem Bruder in Berlin.«

Sie senkte das Haupt und schien schwer nachzudenken. Dann sprach sie mit ganz monotoner Stimme: »In Berlin ist er? So, so! In Berlin! Das kann schon sein! Warum sollte er nicht in Berlin sein! Aber bei meinem Bruder ist er nicht!«

»Er ist bei Ihrem Bruder!«

»Ja, vielleicht ist er zu ihm gekommen. Aber dann hat er ihn doch hinausgeworfen.«

Mich fror bis ins Mark. Ich rückte einen Stuhl zurecht, setzte mich Marianne gegenüber und ergriff ihre rechte Hand.

»Hören Sie mich eine ganz kleine Weile ruhig an. Ich bitte Sie!«

Sie gab keine Antwort. Sie lehnte sich nur im Stuhle zurück und wandte mir ihr unbewegtes, totenblasses Gesicht zu. Ihre Augen waren ganz geistesabwesend; es war nicht zu bestimmen, wohin sie schauten. Und ich fing an zu reden: »Marianne! Ihr Bruder ist ein so kluger, guter Mensch. Er hat gelitten wie Sie! Eine Jugend voll Hunger und Anstrengung hat er hinter sich. Er ist aber ans Ziel gekommen. Und nun – ganz unerwartet – kommt der Vater zu ihm.«

Hier fing sie heftig an zu zittern.

»Bleiben Sie ruhig, Marianne! – Der Vater kommt zu ihm. Was für ein Vater! Er hat gefehlt! Das ist lange Jahre her. Er hat gebüßt und büßt noch jetzt. Ohne Heimat, ohne Glück, ohne Ruhe und Frieden wanderte er durch die Welt. Nun kommt er heim, ein gebrochener, alter Mann. Und er kommt zu seinem Sohne und bittet ihn um Vergebung.«

»Und – und was – was hat mein Bruder getan?«

Sie war aufgestanden.

»Er hat getan, was er tun mußte, er hat sich mit ihm versöhnt.«

»Versöhnt! Der – der Verräter!«

Sie fiel in den Stuhl zurück und ließ kraftlos den Kopf sinken. Ein kalter, zorniger Schauer ging auf ein paar Augenblicke durch meine Seele. Aber ich fand mich rasch wieder. Ich stand auf und hob ihren Kopf herauf an meine Brust. So verharrten wir ein Weilchen. Dann sprach ich wieder.

»Er hat das tun müssen, sonst wäre er kein guter Mensch. Auch Ihre Schwester hat sich mit Ihrem Vater versöhnt.«

Sie machte sich frei von mir und lachte hart und geringschätzig. »Ach! Auch die? Das glaube ich. Die verspricht jetzt etwas und bricht es gleich darauf; die läuft heute ihrem Manne fort und kommt morgen wieder. Die ist eine Gans! – Aber mein Bruder!«

Ich versuchte, ihren Kopf wieder an mich zu ziehen. Was sollte ich sagen? Was ich mir auch für diese erste Begegnung ausgesonnen hatte, jetzt hatte ich's vergessen. Endlich fiel mir etwas ein.

»Marianne! Sie haben mir oben im Gebirge erzählt, daß Sie mich geküßt hätten damals, als ich im Wundfieber lag, weil ich meinem Todfeinde verzieh. Das kann nicht wahr sein; denn in Ihren Augen sind Leute, die keinen unversöhnlichen Haß und keine Rachsucht haben, Verräter oder Gimpel!«

Sie stand auf und sah mich vorwurfsvoll an.

»Verstehen Sie mich nicht besser? Wenn ein Mensch in der großen Leidenschaft – unbedacht – ein Verbrechen begeht wie Hartwig, kann ich ihm verzeihen. Aber der andere! Was der getan hat, das ist so feig, so niedrig und elend, so gemein, das ist ein so jahrelanges, immerwährendes Verbrechen, ein langsamer, qualvoller Mord an einer edlen Frau, ein Verbrechen an unschuldigen, eigenen Kindern, daß mir – daß mir vor ihm graut!«

»Marianne! Können Sie denn gar nicht ein wenig Mitleid mit ihm haben? Denken Sie doch an seine Leiden, seine Heimatlosigkeit, an sein Alter, an sein verfehltes Leben; denken Sie doch daran, daß er heute oder morgen sterben kann –«

»Lassen Sie mich!«

»Sie wollen gehen, Marianne?«

»Ja! Sie bemühen sich umsonst! Es hat gar keinen Zweck! – Nun hat mir dieser Mann das Letzte genommen, was ich noch hatte: meinen Bruder und Sie!«

»Marianne, hören Sie mich doch an! Bleiben Sie! Ich muß noch mit Ihnen reden; ich muß Ihnen noch viel sagen –«

Sie war fort.

Ich setzte mich in den Stuhl, in dem sie gesessen, und schaute hinauf nach der bemalten Decke.

Ganz tot war es in mir.

Ich war geschlagen. Die Liebe war besiegt.

Nach einer Weile kam Waldhofer. Mühsam erzählte ich ihm, was ich wußte. Sein Gesicht wurde nicht finster.

»Es hat wohl so kommen müssen,« sagte er. »Sie haben ihr doch nicht gesagt, daß der Vater heute hierher kommt?«

»Nein! Es, war ja so ausgemacht!«

»Es ist gut! Sie darf heute und die nächste Zeit nur den Bruder sehen. Wir müssen Zeit gewinnen.«

»Wir werden nichts erreichen – gar nichts! Ihr Herz ist nicht zu gewinnen. Sie hat gar keines!«

Er faßte mich tröstend an der Hand.

»Lieber Freund! Das können Sie doch nicht sagen! Sie wissen doch, daß sie ein Herz hat. Wollen Sie nicht Geduld haben? Es ist ja schwer, wenn man jung ist. Aber wollen Sie's nicht versuchen?«

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie ist oben in ihrem Zimmer. Sie hat sich eingeschlossen. Denken Sie daran, wie unglücklich sie ist. Sie müssen auch verzeihen und verstehen lernen.«

»Ich will ja alles – alles! Aber sie – sie hat keinen guten Willen. Ich hab' gar keine Hoffnung.«

»Kommen Sie jetzt mit! Sie dürfen hier nicht so allein sitzen bleiben. Wir werden ins Dorf hinunter gehen, um das Nötige zu besorgen.«

Das taten wir. Wir sprachen mit Sternitzke und seiner Frau wegen eines Zimmers. Nur das Allernotwendigste sagten wir ihnen. Sie waren ganz willig, auch die Frau, und Sternitzke versprach, einen Schlitten mit ein paar schnellen Pferden zu besorgen.

Dann gingen wir nach Hause. Marianne hatte ihr Zimmer noch nicht verlassen. Selbst Ingeborg hatte sie nicht eingelassen.

Zum Mittagbrot kam sie nicht herunter. Es war eine traurige Mahlzeit. Draußen war es so trübe und dämmrig, als seien wir nicht weit vom Abend.

Nach dem Essen bat ich Waldhofer, mit mir in mein Zimmer zu kommen. Er tat es. Wir sprachen wenig, aber ich war doch nicht allein. Die Geschichte von der blonden Gertraud, die er mir einmal erzählt hatte, fiel mir ein. Ich ging in mein Schlafzimmer, hob das Bild der unversöhnlichen Hildegund von der Wand und brachte es in den Bankettsaal.

»Ihre Mutter war gerade wie diese, und sie ist auch so,« sagte ich.

»Vielleicht; aber Sie sind nicht wie der Graf. So kann schon alles noch gut werden. Tragen Sie das Bild wieder hinein!«

»Ich möchte es hier lassen, ich möchte –«

Die Tür ging auf. Marianne kam. Ich konnte das Bild nur gerade noch in einen Lehnstuhl stellen. Marianne blieb stehen und sah auf das Bild. Sie lächelte hart, aber sie sagte nichts darüber. Sie wandte sich gleich schroff an mich. Mit tonloser, beinahe heiserer Stimme fragte sie mich gänzlich unvermittelt: »Wann kommt mein Vater hierher?«

Ich erschrak. Waldhofer übernahm die Antwort für mich: »Warum vermuten Sie denn, daß Ihr Vater hierherkommen wird, Marianne?«

»Ich denke mir's. Es ist ja selbstverständlich. Es ist doch alles abgekartetes Spiel!«

»Was – meinen Sie – sei abgekartet? Von wem? Und zu welchem Zwecke?«

Sie lachte kurz auf. Ein paar Schritte trat sie auf mich zu. Sie sah mich an mit wilder, leidenschaftlicher Feindschaft.

»Warum antworten Sie nicht? Sind Sie zu feig? Glauben Sie wohl, daß ich Sie nicht durchschaue? Auch jetzt noch nicht durchschaue, nachdem ich Zeit genug hatte, mir alles zu überlegen? Heute morgen – im ersten Schreck – da haben Sie sich noch vor mir maskieren können, jetzt nicht mehr. Sie Heuchler!«

»Marianne, Sie tun ihm unrecht! Sie sind ganz außer sich. Sie wissen nicht, was Sie reden!«

»Lassen Sie mich! Jetzt muß ich's ihm sagen. Sie wußten längst, daß mein Vater da ist, Sie wußten es schon gestern. Und deshalb diese unwürdige Abschiedskomödie, Sie wollten mich gefüge machen. Sie mußten mir erst das Herz zerreißen, damit dann dieser Schlag recht träfe, damit sowohl Sie als auch jener andere zum Ziele kämen. Aber Sie täuschen sich!«

»Nein, Sie täuschen sich, Fräulein! Ich bin sehr glücklich, daß Sie mein Weib nicht werden! Zu meiner Rechtfertigung sage ich nichts. Aber diesen Brief will ich Ihnen geben. Vielleicht gibt Ihnen der einen Aufschluß. Fragen Sie Baumann, wann ich ihn erhielt.«

Ich legte den Brief des Assessors vor sie auf den Tisch und ging hinaus, ohne sie noch einmal angesehen zu haben.

Langsam stieg ich die Treppe hinab. Im Wohnzimmer fand ich noch Mantel und Hut. So trat ich hinaus ins Freie. Jetzt mußte ich ganz allein sein.

Es wurde dunkel. Stundenlang war ich herumgelaufen. Da war ich todmüde. Schließlich mußte ich ja doch noch einmal hinaufgehen. Es war unheimlich still in mir. In meinem Herzen ruhte nur noch ein toter, stummer Zorn. Ob der Assessor mit seinem Vater kam, war mir jetzt ganz gleichgültig. Was ging mich das noch an!

Ohne erst ins Wohnzimmer zu gehen, stieg ich bald die Treppe hinauf. Ich brannte die Lampe an. Da sah ich ein Paket auf dem Tische liegen. Es war versiegelt und trug meine Adresse.

Das Paket war von Marianne; ich erkannte es an der Schrift. Ich ließ es liegen, holte mein Schreibzeug und begann einen Brief an den Baron zu schreiben. Ich wollte ihm mitteilen, daß ich die Einsamkeit des Waldhofes nicht länger ertrüge und daher jetzt vorläufig nach Griechenland reisen würde.

Es ging sehr schwer mit dem Schreiben. Das Paket störte mich doch. Mitten im Schreiben fiel mir immer wieder die Frage ein, was es wohl enthalte. Und das mußte mir doch gleichgültig sein! Im besten Falle konnte sie mich um Verzeihung bitten, und auch das war egal. Meinetwegen!

Zwei, drei Briefbogen zerriß ich. Ich brachte kaum einen vernünftigen Satz zustande. Aber das Paket würde ich nicht öffnen, sondern es ihr dann gleich zurückstellen lassen. Vielleicht enthielt es die Bücher, die ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Auf diese sentimentale Rückerstattung von Geschenken zwischen entzweiten Verlobten mochte ich mich nicht einlassen.

Da trat Waldhofer bei mir ein.

»Da – lesen Sie!«

Ein Telegramm!

Ich zögerte.

»Ich möchte mich damit nicht mehr befassen, Herr Waldhofer.«

»Lesen Sie!« sagte er dringlicher. Da las ich.

»Vater auf der Reise schwer erkrankt. Ist hier im Marienstift! Marianne vorbereiten! Ich hole sie noch heute abend ab. Heinrich.«

Das Telegramm war aus unserer Kreisstadt, die zugleich unsere Bahnstation war. Ich gab es Waldhofer zurück. »Sie begreifen, Herr Waldhofer, daß ich damit nichts mehr zu tun haben will.«

»Das tut mir leid! Ich hätte Sie jetzt nötiger gebraucht als je. Fräulein Marianne ist fort!«

»Fort ist sie? Wohin?«

Er zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht. Sie war bis gegen Abend in ihrem Zimmer. Jetzt ist es leer. Sie hat das Haus verlassen, ohne daß jemand etwas gewahr geworden ist. Ich glaube, wohl für immer.«

Da griff ich nach dem Pakete und zerriß die Hülle. Ein dicker Band in rotem Umschlag fiel mir in die Hände. Ich schlug die erste Seite auf. Von Frauenhand stand da geschrieben:

»Das Buch meiner Liebe, meiner
Ehe und meiner Verlassenheit.
Elfriede von Soden
Ihrer heißgeliebten Marianne.«

»Die Memoiren ihrer Mutter,« sagte ich erschrocken. Dann blätterte ich rasch weiter und fand einen Brief.

Er lautete:

»Ich muß fort. Wohin, weiß ich nicht. Aber weit! Ich habe Sie schwer gekränkt. Um Vergebung darf ich Sie nicht bitten, da ich selber nicht vergeben habe. So bleibt mir Ihr Haß und Ihre Verachtung.

Lesen Sie das Buch meiner Mutter. Darin habe ich gelesen alle Tage. Ich dachte nie, daß ich es je fortgeben würde. Aber wenn Sie's gelesen, werden Sie ein wenig milder über mich denken.

In dem Briefe meines Bruders an Sie steht, daß mein Vater oft hat zu uns zurückkehren wollen, aber daß meine Mutter Widerstand geleistet habe. Das wußte ich nicht. Das war immer der schwerste, ja fast der einzige Vorwurf, den ich dem Vater machte, daß er sich nie mehr um uns gekümmert hat, daß er nie Reue gehabt hat, nie Sehnsucht nach uns, daß er uns kaltherzig hungern und darben ließ all die Jahre. Jetzt erschien mir seine Heimkehr zu spät.

Wenn es wahr ist, daß der Vater hat zeitig zu uns zurückkommen wollen, so hat mich meine Mutter betrogen. Das hat sie mir verschwiegen. Und das war die Hauptsache!

Das war überhaupt alles!

Meine Mutter! Auf die ich so fest baute! Ich gehe nun den Weg, den ich gehen muß. Leben Sie wohl! Marianne.«

»Da – Waldhofer – da!«

Ich sank in einen Stuhl und stöhnte. Das Licht begann vor meinen Augen zu tanzen. Ich fühlte, wie mir der Schweiß von der Stirn rann.

Waldhofer legte den Brief auf den Tisch.

Er war blaß.

»Waldhofer! Mensch! Reden Sie! Wird sie sich ein Leid angetan haben?«

Er schwieg.

»Waldhofer! Reden Sie!«

»Ich weiß es nicht! Sie ist in allerwildester Empörung.«

»Waldhofer!«

»Wir müssen uns zunächst fassen.«

»Fassen Sie sich! Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich muß sie suchen.«

»Halt, halt! Wo wollen Sie denn suchen?«

»Wir müssen Leute holen – den Wald absuchen lassen.«

»Das ist unnütz. Den meilengroßen Wald! Jetzt abends! Wenn sie fliehen will, findet sie niemand. Die nicht! Und dann – wenn sie – wenn sie wirklich – dann wär's wohl jetzt schon zu spät.«

»Waldhofer! Erbarmen Sie sich!«

»Mir kommt ein Gedanke –«

»Reden Sie – sprechen Sie – Waldhofer – o Gott!«

»Ruhig! Ruhig! Kommen Sie mit!«

Er rief nach Ingeborg. Das Mädchen kam.

»Komm mit nach Mariannes Zimmer,« befahl er. Wir nahmen die Lampe und gingen hinauf.

»Wo hatte Marianne ihr Geld?« fragte Waldhofer.

»Da – da in dem Schreibtischschube. Immer war es da.«

Er riß an dem Schube. Er war nicht verschlossen. In dem Schübe war kein Geld.

Da atmete er tief auf.

»Sie hat das Geld mitgenommen. So ist sie nach dem Bahnhof.«

»Nach dem Bahnhof!«

»Die Bücher von Ihnen fehlen auch,« unterbrach Ingeborg die Stille.

Meine Bücher, das Weihnachtsgeschenk, hatte sie auch mitgenommen! Sonst war alles da, sogar ihre Uhr.

Ich ging mit den beiden anderen nach meinem Zimmer zurück. Waldhofer blieb bei mir.

»Lieber Freund – nun beruhigen Sie sich aber! Die fürchterliche Aufregung schadet Ihnen!«

Das war leicht gesagt. Ich fand keine Ruhe. Das rote Buch lag noch auf dem Tische. Ich griff danach. Waldhofer wehrte mir.

»Nein! Das ist heute keine Lektüre! Kommen Sie mit hinab nach dem Wohnzimmer. Sie werden ein Glas Wein trinken.«

Willenlos folgte ich ihm. Aber unten kam die Unruhe wieder.

Ich nahm ihren Brief in die Hand und las ihn wieder. Dabei konnte ich es nicht hindern, daß meine Tränen rannen. Die ganze Qual der letzten Wochen taute langsam auf.

Es war doch Großes geschehen heute! Der feste, übermächtige Glaube an ihre Mutter, dieser fanatische Glaube, der ihre ganze Seele beherrschte, war wankend geworden. Das Buch, das ihr Lebensevangelium gewesen war, lag oben in meiner Stube.

Weil sie die Mutter in einem Punkte hintergangen hatte! Es war doch eine tiefe, feine Seele! Schauer, Haß, Widerwille brach aus ihr hervor, wenn sie etwas Gemeines witterte, mit elementarer, unaufhaltbarer Kraft, unbekümmert, ob sie damit ihr Glück vernichtete, unbekümmert, ob sich ihr Entsetzen gegen den Vater, die Mutter oder den Geliebten richtete. Die sittliche Idee der Wahrhaftigkeit war ihr das Höchste.

Und nun – da sie nahe an der Versöhnung, nahe an der Erlösung war, ging sie fort. Wohin ging sie? Weit! Wilde Besorgnis brannte in mir wieder auf. »Ein Beweis ist's doch nicht, wenn sie auch das Geld und die Bücher mitgenommen hat. Sie kann sich unterwegs anders besinnen!«

»Regen Sie sich nicht wieder auf! Was nützen solche Vermutungen?«

»Ich will fort! Nach dem Bahnhof!«

»Meinen Sie, daß Sie Marianne dort noch treffen?«

»Nein, aber den Schalterbeamten kann ich fragen – das Bahnpersonal – der Bahnhof ist nicht so groß.«

»Vorläufig warten Sie die Ankunft des Bruders ab!«

Dem fügte ich mich schließlich. Ich sah nach der Uhr. Sechs Uhr vierzig Minuten! Um halb acht Uhr konnte der Assessor da sein. Also in etwa dreiviertel Stunden.

»Wollten der Herr Doktor nicht die Güte haben, etwas zu essen?« »Lassen Sie mich in Ruhe, Baumann, das sag' ich Ihnen!«

Er schlich hinaus. Ich sah wieder nach der Uhr. Sechs Uhr dreiundvierzig Minuten!

»Ich halt's nicht aus! Wir wollen wenigstens dem Assessor entgegengehen. Wir können ihn ja auf der Straße gar nicht verfehlen. Und dann will ich zum Bahnhof.«

Waldhofer erhob Einwände, aber schließlich ging er mit. In unsere Wintermäntel gehüllt, stiegen wir den dunklen Burgweg hinab nach dem Dorfe. Dort fragten wir in dem Gute, das den Schlitten gestellt hatte, ob der Kutscher schon zurück sei. Nein! Nun wandten wir uns nach dem Wege, der zur Stadt führte. Schweigend wanderten wir die Straße entlang. Es war ganz windstill. Von Zeit zu Zeit zündete ich ein Streichholz an und sah nach der Uhr. Fünf Minuten vor halb acht! Und noch war kein Schlitten zu sehen. Ein paarmal tauchten Lichter auf, aber immer erwies sich unsere Hoffnung als vergeblich. Meine Unruhe wuchs wieder.

»Sie sind sehr müde! Ich hätte nicht nachgeben sollen. Wir werden zurückgehen.« »Ich kehre nicht um!« entschied ich. Gleichwohl zitterten mir die Knie.

Jetzt war es halb neun Uhr. Da tauchte ein einsames Haus am Wege auf. Es war ein Straßenwirtshaus. Lachen und lärmende Musik scholl heraus. Es gab wohl Faschingsball da drinnen.

»Da gehen Sie hinein, und lassen Sie sich Kaffee kochen,« sagte Waldhofer. »Ich werde hier auf- und abgehen und auf den Kutscher warten.«

Ich wollte nicht; aber ich mußte. In einem überfüllten, dunstigen Tanzsaal verschlang ich heißhungrig eine Tasse heißen, schlechten Kaffee und ein wenig Butterbrot. Dann ging ich hinaus zu Waldhofer, und wir stampften weiter durch den Schnee.

Da endlich gegen neun Uhr trafen wir den Schlitten. Er war leer.

»Wo ist der Assessor?«

»A schickt'n Zettel,« sagte der Kutscher und reichte mir ein ausgerissenes Notizbuchblatt. Aufgeregt trat ich an die Schlittenlaterne. In stenographischen, aber großen und deutlichen Zeichen stand auf dem Zettel:

»Ich habe unterwegs Marianne getroffen. Sie ist meine liebe, goldene Schwester und jetzt mit mir beim Vater. Im Gasthof zur Sonne sind wir zu erfragen. Tausend Grüße!

Heinrich von Soden


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