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Wege und Irrwege

.Seit vierzehn Tagen war ich wieder zu Hause. Es war jetzt recht still in der Burg. Der Assessor war abgereist. Marianne war schweigsam, und Ingeborg ließ das Köpfchen hängen.

Im Dorfe unten war auch tiefe Winterruhe. Aus ein paar kleinen Wirtschaften tönte gedämpft der Schlag der Dreschflegel, in irgendeinem großen Hof summte monoton die Lokomobile einer Dreschmaschine, zuweilen bellte ein Hund. Sonst war nichts zu hören.

Ich kann nicht sagen, daß mir um diese Zeit die Einsamkeit wohlgetan hätte. Dazu hätte es in mir selber viel stiller sein müssen. Unruhig bin ich oft in meinem Bankettsaal auf und ab gegangen, wie einer, der sich nach Taten sehnt, nach Leben, nach Befreiung von beengendem Gefühl. Meine Arbeit – das Epos – gab ich vorläufig ganz auf. Ich hatte kein Interesse mehr an meinen Figuren. Sonst waren sie mir vertraut gewesen, gute Bekannte, mit denen ich mich in stillen Stunden unterhalten konnte wie mit wirklichen Personen. Jetzt waren mir das gleichgültige Leute.

Einmal langte ein Brief an mich an, der mich eine Zeitlang aufregte und ablenkte. Er war von Hartwig und kam aus Sansibar.

»Geehrter Herr Doktor!

Ich gehe nicht zu den Buren. Meine Frau ist unterwegs sehr krank gewesen. Jetzt ist sie besser. Wir hatten eine schlechte Schiffahrt. Sie werden sich wundern, daß ich nicht zu den Buren will. Aber ich mag keine Flinte mehr tragen. Ich mag auch nicht auf Menschen schießen. Das können Sie sich wohl denken. Ich will lieber hier in Deutsch-Ostafrika bleiben. Es gibt hier ein Usambaragebirge, da ist die Gegend gesund. Dort kann ich eine Farm kaufen und manches anbauen, auch Kaffee. Ich verstehe noch nichts davon, aber ich werde unterstützt werden. Ich bin schon ein paarmal beim deutschen Konsul gewesen. Einen Teil von meinem Gelde lasse ich hier in einer Bank. Das andere nehme ich mit. Ich denke, es wird schon gehen. Verzeihen Sie mir alles, lieber Herr Doktor. Wenn ich eine feste Wohnung habe, müssen Sie mir einmal schreiben, ob Sie wieder gesund geworden sind. Sie können glauben, daß ich den lieben Gott darum bitte. Ich war früher nicht fromm, aber jetzt habe ich den Herrgott so nötig. Meine Martha ist gut. Ich habe sie sehr lieb. Sie ist die einzige, mit der ich mich aussprechen kann. Allein hielte ich es nicht aus. Aber so wird es schon ganz gut gehen. Hier ist es jetzt sehr heiß, und zu Hause liegt wohl jetzt alles voll Schnee. Ich denke immerfort nach Hause. Meine Frau läßt Ihren Vater grüßen. Wir grüßen auch alle in der Burg und besonders Sie.

Ihr dankbarer
Hartwig.«

Bei dieser Gelegenheit will ich gleich eines anderen Briefes Hartwigs Erwähnung tun. Ich muß da allerdings in der Zeit über den Rahmen meines Buches hinausgehen. Der letzte Brief Hartwigs langte bei mir am 12. Juli 1901 an. Aus ihm entnehme ich folgenden Abschnitt, der geeignet ist, der Geschichte Hartwigs eine Art Abschluß zu geben.

Er lautet:

»Meine Farm ist gut und auch billig. Ich habe sie schon sehr vergrößert. Ich habe acht Bantuneger und eine Anzahl Negerweiber. Manchmal sind die Leute faul. Sie stehlen auch gern und sind tückisch. Aber es geht nicht ohne die Neger. Eine Flinte habe ich doch wieder, sogar ein paar. Man muß das hier haben. Es ist schon wegen der wilden Tiere. Ich habe schon zwei Löwen erschossen. Die Martha hat viel Angst dabei. Aber mir ist es der größte Spaß. Sonst gibt es wenig Vergnügen. Daß Marthas Vater gestorben ist, hat uns sehr leid getan. Meine Frau hat sehr geweint, obwohl er doch in seinem Alter einsam gewesen wäre. Aber jetzt hat sie einen Trost. Wir haben zu Ostern ein kleines Mädchen bekommen. Das ist jetzt unsere größte Freude. Ein Missionar hat sie getauft. Meine Frau wollte sie Ingeborg heißen, aber ich habe sie Martha taufen lassen. Darüber ist meine Frau sehr glücklich gewesen. Nun danke ich Ihnen noch herzlich für das schöne Weihnachtsgeschenk, lieber Herr Doktor. Wir haben alle beide geweint vor Freude. Die Bilder in dem Album sind sehr schön, namentlich die Burg, die Kirche, meine Wirtschaft, die Schmiede, das Grab von Marthas Vater. Auch für das Kreuz, das Sie ihm haben setzen lassen, danken wir innig. Ich wollte Sie nur noch ein einziges Mal sehen, lieber Herr Doktor. Ich bin Ihnen immer so dankbar. Sonntags nachmittags ist es immer mein Vergnügen, daß ich mir die Bilder ansehen kann. Dann vergesse ich auf alles, und dann spreche ich mit Martha schlesisch, und wir unterhalten uns von den Leuten im Dorfe. Unsere kleine Martha muß auch schlesisch reden lernen. Ein paar schlesische Wörter können die Neger schon. Das macht mir Spaß.«

Die schlesische Heimat ist doch schwer zu vergessen. Als der erste Brief Hartwigs ankam, geriet die ganze Burg in Bewegung. Waldhofer war freudig erregt, Ingeborg weinte und Marianne betrachtete mich mit leuchtenden Augen.

Und nun zurück zu den Januarstagen vom Jahre 1900! Zuweilen wurde mir die Stille unerträglich. Es kam wohl daher, daß ich nicht arbeitete. So wurde mir die Zeit manchmal sehr lang. Ich ging immer ruhelos in meinem Zimmer auf und ab. Es war auch ein ungeheurer Widerspruch! Die Geliebte war im Hause, ich wußte, daß sie mich liebte, und ich durfte sie nicht besitzen, sie nicht küssen, durfte kaum mit ihr sprechen.

Oft wünschte ich, daß ich weit fort sei, fort von ihr, daß ich Frieden fände. Es ging ja nicht an. Und ich durfte nicht vergrämt, nicht ungeduldig sein. Wollte ich ihren Geist lösen aus den starren Banden eines kranken Gefühlswinters, dann brauchte ich viel eigene Sonne.

Manchmal floh ich aus der Burg hinunter ins Dorf. Ich rettete mich in die Oberförsterei und ließ mir durch Gerstenbergers groteske Laune ein paar Stunden die Seele aufrütteln, oder ich war bei Sternitzke und hörte den Bauern zu.

Gegen Ende Januar merkte ich überall eine rechte Wintermüdigkeit. Die Bauern hatten nichts zu tun. Sie hockten verdrießlich in ihren engen Stuben und wurden auch in der Schenke nicht recht froh. Die Bewegung fehlte ihnen, die frische Luft.

Einmal, es war Mitte Februar, als ich einen ganzen Nachmittag im Dorfe gewesen war, traf ich Marianne gegen Abend in der Wohnstube.

»Sie waren lange fort,« sagte sie traurig.

»Ist Ihnen das nicht gleichgültig?«

Sie sah mich vorwurfsvoll an.

»Ich meine: wir hätten uns ja so wie so nicht gesehen. Ich wäre oben in meinem Bankettsaal gewesen und Sie irgend sonstwo.«

Sie schlug die Augen nieder.

»So wären Sie doch wenigstens im Hause gewesen.«

Ich reichte ihr die Hand.

»Marianne! Es wird ja doch bald der Tag kommen, wo ich fortgehen muß und gar nicht mehr wiederkommen kann.«

Sie schlug beide Hände vor das Gesicht.

»Wenn Sie nicht gerufen hätten dort oben – dann lägen wir im tiefen Schnee – und würden nie mehr getrennt. Aber Sie wollten nicht mit mir sterben.«

»Nein! Ich werde nie das Leben selbst von mir werfen, solange mir meine Vernunft bleibt. Und ich mußte auch Ihr Leben erhalten. Ihr Leben ist wertvoll!«

»Mein Leben ist schrecklich!«

»Es ist nicht schrecklich, Marianne! Denken Sie einmal nach. Ist gar nichts Lichtes in Ihrem Leben?«

Da sah sie mich strahlend an.

»O ja! Ihre Liebe!«

Zitternd stand ich vor ihr. Sie jetzt nicht an mich ziehen, sie nicht küssen dürfen, das war ein fast Übermenschliches. Aber ich brachte es fertig.

»Kommen Sie, Marianne, spielen Sie mir etwas vor.«

Ich geleitete sie zum Flügel.

Sie spielte ein Notturno. Ich saß ganz dicht neben ihr. Als sie geendet hatte, lehnte sie ihre heiße Wange an meine Schulter.

Sacht legte ich den Arm um sie. Draußen ging der Tag zur Neige. Um uns war tiefe Stille. Da sprach ich:

»Marianne! Wenn es irgendwo auf der Welt ein stilles Haus gäbe – stiller, menschenferner noch als die verschneiten Hütten im Gebirge – ein Haus, zu dem kein Laut aus der großen Welt dringt – könnten Sie dort eines Mannes Weib sein?«

Sie sah mich erschrocken an.

»Nein, nein, Marianne, erschrecken Sie nicht. Ich halte mein Wort; ich bitte Sie nicht, mir anzugehören; ich fragte bloß, weil ich Ihre Seele ganz kennen lernen wollte.«

Sie streichelte meine Hand.

»Sie leiden so – Sie Guter! Ich weiß es! Und doch ist die Liebe so schön, wenn sie so ist wie unsere. Ohne alle wilden Wünsche! Die Menschenliebe, sagte meine Mutter, ist nur schön als Knospe – dann kommen Staub und Würmer. – So, wenn man keine Treue verspricht – nichts verspricht, was man doch nicht halten kann – das ist schön!«

Sie machte eine Pause, dann fröstelte sie in sich zusammen und fuhr fort:

»Ich habe immer daran gedacht, wie es sein wird, wenn Sie einmal eine andere lieben und heiraten werden.«

»Das wird nie sein, Marianne!«

Sie lächelte müde.

»O ja! Es wird schon sein! Für mich wird es schwer sein. O Gott! Aber sehen Sie, ich werde Sie doch weiter achten können. Ich werde mir sagen: Er hat dir nichts versprochen, er hat dir nicht die Treue gebrochen. Er hat dich nur vergessen.«

»Marianne!«

»Und dann wird doch der Sieg kommen. Wenn die grauen Tage die Liebe zu der anderen erstickt haben – dann, wenn Sie einsam sind – dann werden Sie einmal daran denken, daß es doch ein heiliges, unentweihtes Gefühl war, das uns verband.«

»Marianne! Sie haben eine hohe Ansicht von der Liebe, aber die Treue kennen Sie nicht. Sie kennen überhaupt nicht die Menschen. Was Sie sagen, ist schön, aber es ist unwahr. Ich muß Ihnen das sagen. Ich muß ehrlich sein und männlich. Eben weil ich Sie liebe. Was Sie voraussehen, kann nicht eintreffen. Ich werde nie eine andere nach Ihnen lieben, aber ich werde auch nie mit einer hohen Herzensbegeisterung an unser Verhältnis zurückdenken können.«

Sie wurde bleich und klammerte sich an einen Stuhl. Unbeirrt fuhr ich fort:

»Es ist unnatürlich, daß zwei junge Menschen, die sich lieben, so nebeneinander stehen wie wir, unnatürlich, wenn aus der Liebe nicht der Wunsch entspringt, sich zu gehören. Die echte Liebe opfert und wagt. Sie will sich nicht ewig flüchten und schützen, sie verbindet sich mit dem Geliebten und geht mit ihm durch den Lärm und Staub des Lebens. Die echte Liebe denkt eben nicht zu viel an sich selbst, denkt nicht bloß an das eigene Heil, sondern auch an das Wohl und Glück des anderen. Das Weib, das liebt, will nicht als Göttin, nicht als lichte Idealgestalt über dem Wege des Mannes schweben, sondern unten mit ihm marschieren, kameradschaftlich in Not und Gefahr, in Hochgefühl und Mißstimmung. Das, Marianne, ist meine Meinung, und das ist auch natürliche und göttliche Ordnung!«

Zitternd vor Aufregung sagte sie:

»So – so – so können Sie mich schmähen?«

»Ich schmähe Sie nicht, Marianne, ich sage Ihnen lediglich die Wahrheit. Die Wahrheit, die Ihnen bis jetzt verschlossen geblieben ist. Machen Sie doch die Probe im Leben! Sehen Sie sich die Familienmütter an, ob sie untüchtiger oder auch nur unglücklicher sind als die Einsamen. Nein, verehrungswürdig sind sie und glücklich, so weit man eben vom Glücke sprechen kann. Das alles wissen Sie nicht, Marianne; denn Ihre Mutter hat Ihnen die Ausnahmen gezeigt und die allgemeine Regel verschwiegen.«

»Sagen Sie nicht, daß mich meine Mutter betrogen hätte!«

»Wissentlich betrogen nicht, aber dennoch betrogen! Betrogen um das Vertrauen und den klaren Blick, betrogen um Ihren Willen, um Ihr –«

»Sie lästern meine Mutter!«

»Ich lästere sie nicht; ich bedauere sie bloß. Denn sie war krank, Marianne! Das muß ich Ihnen einmal sagen!«

»Krank? – Krank? – Wie? Wie? – Sie meinen doch – nicht – geisteskrank – – wahnsinnig?«

»Ja! Sie litt an Verfolgungswahn.«

»Herr!«

»Marianne, ich bitte Sie, hören Sie mich an!«

Sie kehrte mir den Rücken und ging hinaus. Ich war allein.

Aber es war kein Bedauern in mir, eher ein Kraftgefühl, wie man's immer hat kurz nach einer Tat. Sollte ich sie aufsuchen? Nein, ich wollte meine Worte ruhig wirken lassen.

Und wenn es zum Bruche kam?

Nun, so wollte ich ihn tragen! Die Unnatur in unserem Verhältnis drückte mich so schwer, daß ich mir den Schmerz um eine verlorene Liebe fern von der Geliebten vorzog. Das würde doch natürlich sein. Es mußte zu einer Entscheidung kommen. Das ewige Stehen und Grübeln am Kreuzweg wurde mir zuwider.

Eine halbe Stunde schritt ich im Zimmer auf und ab, dann riß ich den Hut von der Wand und nahm den Stock. An die Luft mußte ich. Hier hielt ich's nicht aus.

Im Hausflur standen Ingeborg und Baumann.

»Wollen Sie noch einmal fort?« fragte Ingeborg.

»Ja, ich will dem Herrn Oberförster noch einen Besuch machen. Heut nachmittag traf ich ihn nicht zu Hause.«

Baumann erzählte mir eilig, daß er einen Brief an den Assessor zur Post tragen müsse; der Herr Assessor hätte schon drei Tage nicht geschrieben. Dann ging er schnell davon.

Ich nahm Ingeborg an der Hand.

»Wegen der drei Tage haben Sie Kummer? Der glückliche Mann! Sein Weg ist ganz gerade und sonnig. Und er nimmt seinen Schatz an der Hand und marschiert mit ihm ins Blaue hinein. Nicht wahr, so ist es?«

»Herr Doktor! Sie sind jetzt immer so nachdenklich! Gar nicht mehr lustig, gar nicht mehr! Wissen Sie noch, wie lustig sie anfangs waren? Damals, als ich Sie eingesperrt hatte? Das war eine schöne Zeit!«

»Ja, Ingeborg, das war eine schöne Zeit! Leben Sie wohl!«

Ich reichte ihr die Hand. Sie hielt mich noch auf.

»Und Marianne! Das arme Mädchen leidet schrecklich! Jetzt ist sie wieder noch in den Wald.«

»Marianne ist im Walde?«

»Ja, ganz allein. Sie läßt sich nicht aufhalten. Wenn ihr einmal was zustieße!«

»Ich werde sehen, daß ich sie finde.«

»Sie wird vielleicht bei dem Muttergottesbilde sein.«

»Auf Wiedersehen!«

Ich ging rasch einen Waldweg auf der Westseite des Berges hinunter. Es war schon dunkel im Walde, nur der Schnee leuchtete matt. Aber nach kaum zehn Minuten schimmerte rotes Licht durch die Bäume.

Dort war das Muttergottesbild, von dem Ingeborg gesprochen hatte. Ich kannte es schon lange. Ein junger Bauer war an diesem Orte beim Holzfahren zu Tode verunglückt. Seine Frau errichtete einen Bildstock und machte das Gelübde, solange sie lebe, am Sonnabend, dem Muttergottestage und zugleich dem Todestage ihres Mannes, eine Öllampe vor dem Bilde anzuzünden. Das Bild selbst war ein Kunstwerk, von einem jungen, unberühmten Künstler für wenig Geld gemalt, »Consolatrix afflictorum« stand darunter, und über dem schönen, heiligen Frauenantlitz lag auch wirklich der tröstende Ausdruck! »Siehe ich habe den Schmerz überwunden.«

Marianne stand vor dem Bilde. Dunkel hob sich ihre Gestalt von dem Schnee und den weißen Bäumen ab. Das Lämpchen erfüllte die Nische, in der das Bild war, mit rotem Lichte. Kein Laut regte sich im winterlichen Walde. Von ferne blieb ich stehen. Ich sah immer hin, mit brennenden Augen, und dann nahm ich langsam den Hut ab.

»Du Trösterin der Betrübten – – –«

Da wandte sich Marianne mir zu und schrie leise auf. Ich ging rasch zu ihr. »Kommen Sie heim, Marianne!«

Sie folgte mir ganz willig, ja, sie legte den Arm in den meinen. Ihr Widerstand war gelähmt. Langsam stiegen wir den Berg hinauf. Wir sprachen beide nicht. Endlich begann sie leise, indem sie das Gesicht an meiner Schulter verbarg:

»Ich muß Sie um etwas bitten.«

»Sprechen Sie, Marianne – sprechen Sie ganz mit Vertrauen.«

»Ich muß Sie bitten – daß Sie – daß Sie abreisen.«

»Marianne!«

»Ich ~- ich würde es ja nicht sagen – ich würde selber abreisen, aber ich weiß nicht – ich weiß nicht – wo ich jetzt – gerade jetzt hin soll.«

»Marianne, was ist Ihnen? Sie vergessen alles! Sie vergessen, daß Sie selber gewollt haben, ich solle bei Ihnen bleiben, solange es möglich ist.«

»Ja, aber es geht nicht – es ist unmöglich. Noch so ein Streit wie heute und –«

»Und Marianne?«

Sie klammerte sich fest an meinen Arm.

»Sehen Sie – Sie haben gesagt, unser Verhältnis sei unnatürlich. Sie werden nicht ohne Groll daran denken können. Aber ich! Ich will mir Ihr liebes Bild mein Leben lang erhalten. Die Erinnerung an Sie wird ja alles sein, was ich habe. Da soll es eine reine, ungetrübte Erinnerung sein. O ja, dieses Glück gönnen Sie mir!« »Marianne!«

Ich riß sie in meine Arme. Minutenlang lag sie bewegungslos an meiner Brust. Dann sagte sie: »Liebster, wirst du gehen?«

Fieberfrost schüttelte mich. Ich konnte nicht antworten.

Da wiederholte sie in inniger Bitte: »Wirst du gehen. Liebster? Wirst du mir das gönnen?«

Tonlos sagte ich: »Wenn es denn sein muß – so werde ich gehen. Ich sehe es ja ein – es ist das Beste.«

»Wirst du bald gehen?«

»Bald! Morgen früh!«

Sie zitterte.

»Sag' mir noch einmal, daß du mich liebst.«

»Ich liebe dich, Marianne, wie ich kein Weib geliebt habe und wie ich kein Weib mehr lieben werde. Du bist ja mein Engel – meine Sehnsucht, meine ganze Liebe!«

Sie hing an meinem Halse, sah mir immerzu in die Augen. »So wollen wir jetzt scheiden – nicht morgen früh vor den anderen – jetzt! Schau mich noch einmal an! Lange, lange! Mit deinen großen Augen! Du lieber, guter Mann! Ich liebe dich ganz allein! – Bis ans Ende! – Gott behüte dich!«

Sie küßte mich ernst und feierlich auf die Lippen, Eine Sekunde zögerte sie noch. Dann lächelte sie sanft und nickte mir zu.

So ging sie davon.

Sie sah sich nicht mehr um. Wie ein Toter so still war ich und so allein. Auch so ohne alles Gefühl. Um mich war Nacht. Ich saß mit Waldhofer allein im Bankettsaal. Ich erzählte ihm alles von Anfang an. Und nun auch das Ende. Mit tiefernstem Gesicht saß mir der gute, kluge Freund gegenüber. Er schwieg erst ein Weilchen, dann sagte er: »Ja, Sie müssen fort. Sie hätten bald gehen sollen – im Gebirge schon. Denn so können Sie nicht zum Ziele kommen.«

»Ich werde nie ans Ziel kommen,« sagte ich.

»Das glauben Sie jetzt. Aber es kann schon alles noch gut werden.«

Ich schüttelte verzagt den Kopf.

»Sehen Sie,« fuhr er fort, »das haben Sie richtig erkannt, daß die ganze Sache unnatürlich und krankhaft ist.«

»Krankhaft? Sie glauben, daß Marianne –«

»Ich glaube, daß sie in schwerer Gefahr ist. Sie hat die Disposition zur Krankheit ihrer Mutter.«

»Waldhofer!«

»Nicht aufregen, mein Freund! Noch ist nichts verloren! Noch ist sie gesund! Aber Sie sagen selbst, daß das Mädchen nicht normal handelt. Das ist aber kein Wunder. Denken Sie daran, was für eine Mutter Marianne gehabt hat, und vergessen Sie nicht, daß diese Mutter kaum ein Vierteljahr tot ist, daß sie im Ehehaß gelebt hat und darin gestorben ist. Die ganze Lebenslehre und das Testament dieses Weibes war: Heirate nicht! Nun kommt Marianne in Zwiespalt zwischen der Liebe zu Ihnen und dem Andenken der von ihr vergötterten Mutter, und dieser schwere Zwiespalt erklärt ihre Handlungsweise.«

Es entstand eine Pause, dann fuhr Waldhofer fort:

»Ich glaube, daß Frau von Soden Memoiren hinterlassen hat.« »Woraus schließen Sie das?«

»Marianne liest täglich in einem Buch, das sie niemand zeigt, auch Ingeborg nicht. Wenn meine Vermutung richtig ist, dann wird dieses Buch ein Lehrbuch des Ehehasses sein, ein Brevier der Ehefeindschaft und krankhafter Lebensauffassung, das unbedingt aus Mariannens Händen muß.«

»Wie soll das möglich gemacht werden?«

»Der Weg findet sich schon. Sie reisen morgen ab. Ich sorge dafür, daß auch Marianne nicht mehr lange hier bleibt. Dieser stille Ort mit seiner Romantik taugt nicht für sie. Der Bruder muß sie in die Stadt nehmen. Er muß sie zerstreuen, wenn nicht anders möglich, mit Gewalt zerstreuen. Und das Buch, wenn ein solches existiert – muß er ihr mit List oder Gewalt nehmen. Gutes Zureden nutzt da nichts. Sie wird anfangs toben, aber sie wird sich beruhigen, und die giftige Quelle ist verstopft.«

»Und ich?«

»Sie müssen mit Marianne beständig in Verbindung bleiben. Sie jetzt für immer verlassen, hieße sie ins Verderben stürzen. Fühlen Sie denn nicht, wonach ihre Seele strebt? Nach einer beständigen, hoffnungslosen Sehnsucht – diesem wollüstigen Schmerz, an dem ihre Mutter gestorben ist. Und dem würde auch sie zum Opfer fallen wie einem bittersüßen Gifte. Das muß verhindert werden.«

»Aber wie – wie?«

»Sie schreiben an sie. Oft! Sagen wir täglich! Immer zärtlich, immer in Liebe. Nicht poltern, nicht zürnen, nicht ungeduldig sein. Das sind schwere Fehler! Nein, lustig, so gut wie's möglich ist. Von Zeit zu Zeit kommen Sie zum Besuch zu ihr. Nicht auf lange! Einen oder zwei Tage! Da nehmen Sie ihrer Sehnsucht das Hoffnungslose; denn sie hofft ja doch dann von einem Male zum anderen, ob sie will oder nicht. Inzwischen entfernt sie sich vom Grabe ihrer Mutter immer mehr, das Andenken der Mutter verblaßt nach und nach, und das gute Ende findet sich wohl von selbst.«

»Herr Waldhofer! Ich liebe Sie wie einen Vater!«

»Nur Mut haben, mein lieber Freund! Keinem von uns bleiben schwere Kämpfe erspart. Wissen Sie, warum ich hier auf dem Waldhofe sitze? Auch wegen einer Frau! Wegen meiner Frau!«

Ich sah ihn an, wagte aber nichts zu fragen! Da fuhr er fort: »Ich will es nicht erzählen. Sie ist tot! Ingeborg hat sie nicht kennen gelernt. Die war noch klein, als sie starb. Und von den Leuten hier weiß niemand, daß der Gastwirt Waldhofer früher einmal Doktor der Philosophie war.«

Ich erschrak und faßte seine Hand.

»Ich werde Ihnen jetzt den Baumann zum Einpacken schicken,« sagte er und ging hinaus.

Ich sah ihm bewegt nach. Dann setzte ich mich an den Tisch und legte das Gesicht auf beide Hände.

Nach einiger Zeit polterte es draußen. Die Tür wurde geöffnet. Mein großer Reisekorb wurde hereingeschoben, und dann kam Baumann. Er machte keine Verneigung und sah mich auch nicht an.

»Wenn – wenn der Herr Doktor – befehlen, so – so packe ich ein!« sagte er mit abgewandtem Gesichte.

Ich ging zu ihm hin und legte die Hand auf seine Schulter.

»Baumann – lieber Freund – tut es Ihnen so leid, daß ich fortziehe?« Da setzte sich der Alte auf den Korb und weinte wie ein Kind. Es war nur ein einfacher Mann, ein schnurriger Kauz, aber seine rührende Liebe zu mir erschien mir unendlich kostbar. Die Augen wurden mir heiß, als ich ihn so weinen sah.

Dann sagte ich: »Lassen Sie's gut sein, Naumann! Einmal hätt' ich ja doch fort gemußt. So ist's halt ein bißchen eher. Aber ich komm' einmal wieder. Das verspreche ich Ihnen bestimmt.«

Er ließ sich nicht trösten.

Da fuhr ich fort: »Und dann müssen Sie mich einmal besuchen, Baumann! In Breslau oder Berlin, wo ich halt gerade sein werde. Nächsten Winter, Naumann! Herr Waldhofer gibt Ihnen schon eine Woche Urlaub. Und dann wollen wir uns mal in der großen Stadt miteinander tüchtig amüsieren. Nicht wahr?«

Da wurde er noch fassungsloser:

»So – so gut, wie der Herr Doktor – ist noch kein Mensch zu mir gewesen – auf der ganzen Welt.«

Wie leicht ist ein Menschenherz zu gewinnen durch ein bißchen Liebe!

»Packen Sie jetzt ein, Baumann!« sagte ich.

Da erhob er sich, pflichtgetreu wie immer. Er öffnete den Schrank und begann auf dem großen Tische alles zurechtzulegen. Wehmütig schaute ich ihm zu. Er war ganz schweigsam, aber er tat alles mit großer Sorgfalt. –

»Ich sage dir, laß mich in Ruhe, Waldhofer! Ich muß ihn sehen. Ich werde ihm das schon anstreichen!«

Das war der Oberförster unten im Hausflur.

Da tönte auch schon sein gewichtiger Tritt die Treppe herauf, und bald darauf stand er in der geöffneten Tür. Er sah immer abwechselnd Baumann und mich an, und ein ganzes Unwetter lag auf seinem Gesichte.

»Ihr seid wohl verrückt?« donnerte er los.

Ich ging ihm entgegen.

»Es freut mich sehr, daß ich Sie noch einmal sehe, Herr Oberförster. Morgen früh reise ich ab.«

»Reisen Sie ab! Nhä! – Nöö! Reisen Sie nich ab, sag' ich Ihnen! Baumann, machen Sie mal, daß Sie rauskommen!«

»Was – was sagen der Herr Oberförster?«

»Daß Sie sich zum Teufel scheren sollen, Sie alter Packesel!«

»Wenn – wenn der Herr Oberförster wünschen, so geh ich,« sagte Baumann und wollte sich entfernen.

»Halt, halt, Baumann! Sie müssen packen!«

»Nu, Baumann! Wenn Sie nich gleich machen, daß Sie rauskommen – .« Baumann war draußen.

»Also, Sie sind total verrückt,« nahm der Oberförster wieder das Wort. »Das Nervöse is bei Ihnen jetzt in richtigen Blödsinn umgeschlagen.«

»Ich muß fort, Herr Oberförster!«

»Sie müssen, jawohl. Sie müssen! Waldhofer hat mir schon was vorgequatscht von eigenen Angelegenheiten, individuellen Gründen und lauter solches elendigliches Gemäre. Kenn' ich schon, Ihre individuellen Gründe! Ein Kerl, wie Sie sind, kriegt tausend Mädel auf der Welt, an jeden Finger hundert Stück sag' ich Ihnen! Da muß es doch nicht gerade die sein!«

»Herr Oberförster, ich muß ernstlich bitten –«

»Gar nischt zu bitten haben Sie! Sie werden mir doch keinen Dunst vormachen! Ich Hab' die Geschichte schon im Riesengebirge gewußt. Aber wenn Sie nicht so ein dummer Kerl wären, hätten Sie sich mit den Weibern gar nicht eingelassen.«

»Das sind doch wohl wirklich meine eigenen Angelegenheiten, Herr Oberförster!«

»So! Und Ihre guten Freunde hätten einfach das Maul zu halten?«

»In diesem Falle – ja! Das geht nur mich an! Keinen andern!« Das beleidigte ihn.

»So, so! Aha! Hmhm! Das Maul zu halten! – Na dann – dann wünsch' ich glückliche Reise!«

Er wandte sich zur Tür.

»Herr Oberförster, lassen Sie uns in Freundschaft auseinandergehen.«

»Ich bin nicht mehr Ihr Freund. Glückliche Reise!«

Er ging wirklich. Nach einer Weile kam Baumann zurück und nahm mit betrübter Miene das Geschäft des Einpackens wieder auf.

Mitten in der Arbeit unterbrach er sich.

»Es ist auch mit der Abendpost ein Brief an den Herrn Doktor gekommen. Ich hab' ihn von der Post mitgebracht, aber dann vergessen. Wegen dem Schreck!«

Damit griff er in die Brusttasche seiner Barchentjacke und brachte einen Brief zum Vorschein. Ich betrachtete die Aufschrift. Der Brief war vom Assessor.

Ohne lebhafteres Interesse öffnete ich ihn. Und da las ich das Folgende:

»Verehrter, lieber Freund!

Eine Nachricht muß ich Ihnen geben, die Sie nicht viel weniger heftig berühren wird als mich, der ich sie vor drei Tagen empfing. Mein Vater ist zurückgekommen! In Franzisko hat er von dem Tode der Mutter erfahren. Sein Leben lang hat er eine Aussöhnung mit der Mutter und uns Kindern herbeizuführen gesucht. An dem Widerstande der Mutter ist alles gescheitert. Er hat mir ein ganzes Paket Briefe, auch Geldbriefe gezeigt, deren Annahme von der Mutter verweigert worden ist. Jetzt ist er nach der Heimat zurückgekehrt, um wenigstens uns wieder zu sehen. Er glaubt, daß er nicht lange mehr leben wird. Er ist leberleidend und hat erst auf dem Schiffe einen gefährlichen Anfall mit genauer Not überstanden.

Er ist zuerst nach Wien gefahren und hat da meine verheiratete, ältere Schwester besucht. Mit ihr hat er seit längerer Zeit in brieflichem Verkehr gestanden. Sie hat ihn auch von dem Tode der Mutter unterrichtet. Mittwoch erhielt ich die Nachricht von seiner Ankunft, und Donnerstag früh war er bei mir.

O, mein Freund, ich kann Ihnen nicht beschreiben, was ich in diesen Tagen alles innerlich durchgemacht habe. Eines muß ich Ihnen sagen; ich habe mich mit meinem Vater ausgesöhnt. Ein bewegtes Leben hat er hinter sich, ein Leben voll Entbehrung, Arbeit, Gram und Reue.

Nun gilt es, auch Marianne mit ihm zu versöhnen. Sonntag abend komme ich mit dem Vater nach Steinwernersdorf. Auf den Waldhof will der Vater nicht; er hat auch bei mir nicht wohnen mögen. Besorgen Sie – bitte – ein Zimmer bei Sternitzke.

Und reden Sie mit Waldhofer! Er muß uns helfen. Ich fürchte, der Vater wird Marianne gegenüber einen harten Stand haben. Und ich möchte doch so gern, daß auch sie sich mit ihm versöhne.

Helfen Sie, lieber Freund, helfen Sie! Sie haben noch den größten Einfluß auf meine Schwester. Vielleicht, wenn sie sich diesmal überwindet, daß dann noch alles gut wird.

Also auf Wiedersehen Sonntag abend! Grüßen Sie alle, besonders auch meine liebe Braut! Es war mir unmöglich, in diesen Tagen an sie zu schreiben. Auch diesen Brief schreibe ich in Hast. Er ist wohl ein bißchen konfuse. Ich rechne auf Sie!

Ihr Heinrich von Soden.«

Ich sank auf einen Stuhl. Dann las ich den Brief noch einmal. Endlich faßte ich mich.

»Baumann, gehen Sie bald mal hinunter! Herr Waldhofer möchte heraufkommen zu mir!«

Ich stand an der offenen Tür und konnte es kaum erwarten, bis Waldhofer kam. Baumann blieb draußen.

»Da – lesen Sie!«

Er las – las, und sein Gesicht färbte sich rot.

»Jetzt wird alles anders,« sagte er. »Jetzt müssen Sie dableiben«.


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