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Leute im Tale

.Am Sonntag war Gottesdienst im Dorfe, und bei dieser Gelegenheit machte ich die Bekanntschaft des jungen Lehrers. Das kam so:

Waldhofer sang Baß auf dem Chore und Ingeborg Sopran, und ich hätte mich mit meinem bescheidenen Tenor auch ganz gern an den kirchlichen Gesängen beteiligt, aber infolge meines Jagdausfluges hatte sich meiner eine Heiserkeit bemächtigt, die all den vorzüglichen Mitteln Frau Baumanns, »an die ich mich bemüht hatte«, noch nicht gewichen war. Also stand ich an die Orgel gelehnt und folgte dem Hochamte.

Da geschah es, daß während des Credo der junge Lehrer Nasenbluten bekam, das so heftig wurde, daß eine Fortsetzung des Spiels unmöglich ward. Ich flüsterte dem Organisten einige Worte ins Ohr, schwang mich auf die Orgelbank und griff in die Tasten. Meine Aufgabe wurde mir sehr leicht, denn ich hatte lange Zeit guten Unterricht im Orgelspiel erhalten. Ingeborg wandte sich um und warf mir einen maßlos erstaunten Blick zu, auch die anderen Sänger machten lange Hälse, nur Waldhofer bewegte sich nicht. Diesem Manne schien auf der Welt alles selbstverständlich zu sein.

Nach dem Gottesdienste wurde mein Spiel über die Maßen gelobt; nur der Oberförster, der sich auf dem Kirchberge zu uns gesellte, sagte, es hätte im »Gloria« nicht alles »geklappt«, worauf der wohlwollende Mann zu seiner Enttäuschung erfuhr, daß ich im Gloria noch nicht gespielt habe. Der junge Lehrer aber betrachtete mich mit glänzenden Augen; er war schon am nächsten Tage bei mir auf der Burg, und ich versprach, bald einmal zu ihm zu kommen. Am Mittwoch machte ich mich auf. Auf der Dorfstraße fiel mir unerwartet die Rolle des Friedensrichters zu. Ein Büblein versuchte durchaus ein Mädchen zu zwingen, mit ihm »Pferdchen« zu spielen. Er ergriff ihren blonden Zopf als Leine und schmitzte ihr, da sie kurze Röcke trug, mit einer kleinen Peitsche auf die Waden. Das Mädchen heulte, und der Junge schrie »Hü!« und »Hott!« Ich schlich mich heran, faßte den Übeltäter buchstäblich hinten am Kragen und hob ihn mit strafenden Worten in die Höhe.

Herr des Himmels, fängt der Junge an zu gurgeln, als ob er am Spieße stecke, und das Mädel sieht kaum ihren Bedränger zappeln, so schlägt sie bald dasselbe Zeter- und Mordgebrüll an wie dieser. Mir wurde angst wegen des Aufsehens, das entstehen mußte.

»So schreit doch nicht so entsetzlich!« sagte ich und ließ den Jungen los. »Wie heißt ihr denn, Kinder?« »Fritz Sternitzke heeß ich,« heulte er, »huuuh!« »Und ich heeße Ida Sternitzke, huuuh!« Also dieses edle Geschwisterpaar hatte ich in seinem Nachmittagsvergnügen gestört. Und noch dazu Sternitzkes Kinder! Das war peinlich. Ich versuchte einzulenken. Das hatte aber keinen Erfolg. Der Junge faßte seine Schwester brüderlich an der Hand, und beide wandten mir den Rücken und wanderten die Dorfstraße hinab, dem »Silbernen Löffel« zu.

»Die gutte Jacke hat a mir zerrissen,« heulte er. »Die gutte, neue Jacke hat a ihm zerrissen,« heulte sie.

Ich nahm mir vor, mich niemals im Leben mehr zum unberufenen Retter bedrängter Unschuld aufzuwerfen.

Den jungen Lehrer traf ich nicht zu Hause. Sein Zimmer war verschlossen. Aber als ich die Treppe hinabstieg, hörte ich aus dem Parterrezimmer ein Seufzen. Ich klopfte an, um mich nach dem jungen Leuthold zu erkundigen. Da öffnete er selbst.

»O Herr Doktor! Herzlich willkommen! Ich bin gerade einen Augenblick bei meinem Vorgänger. Er ist sehr krank.«

»Dann bitte, lassen Sie sich nicht stören! Ich komme einmal wieder.« ^ »Ach nein – das heißt, weg kann ich jetzt nicht; er ist allein – die Tochter ist in die Stadt nach Medizin – und ich weiß nicht, ob ich Ihnen anbieten darf, in die Krankenstube zu kommen. Es wäre mir aber sehr lieb; ich bin so allein mit ihm.«

»Wenn's den Kranken nicht stört – ich bin sehr gern bereit.«

Ich trat ein. In einem sauberen Zimmer lag der Kranke. Er mochte in den Fünfzigern stehen; die Krankheit hatte ihm furchtbar zugesetzt. Ich sah bald, daß er der Auflösung nicht weit sei.

»Das ist der Herr, der am Sonntag so schön bei uns Orgel gespielt hat.«

Der Kranke sah mich an mit seinen müden Augen und reichte mir die Hand.

»Ich kann nicht mehr spielen,« sagte er.

Ich setzte mich zu ihm. Wir konnten nicht viel reden, dazu war der Kranke schon zu matt. Leuthold stand am Fenster und schaute hinaus in den herbstlichen Garten.

»Kommt die Anna?« fragte der Kranke. –

»Nein, sie kommt noch nicht; aber ich denke, sie kann nicht mehr lange sein.«

»Wenn sie doch käme – ich – ich weiß nicht –«

Er atmete sehr schwer, dann schloß er die Augen. Nach einer Weile sah er mich an.

»Denken Sie – lieber Herr – die Freude! – Der Franz wird – die Anna heiraten – er – hat es mir vorhin gesagt«

Leuthold trat ans Bett. Ich reichte ihm die Hand. »Ich wünsche Ihnen herzlich Glück!«

»Ich danke, Herr Doktor!«

Der Kranke sah auf den jungen Mann mit glücklichen Augen.

»Ich – - hatte immer so Kummer – um die Anna – meine Stelle hat mir nicht – viel gebracht, und viel – habe ich nicht sparen –«

»Sprich doch nicht so, lieber Vater –«

Der Kranke faßte die Hand des jungen Mannes und streichelte sie. »Ich bin – so glücklich – und ich betrüge – dich nicht – die Anna ist – ein gutes Kind –«

»Wir werden sehr glücklich sein, Vater!«

Da liegt der Kranke ganz ruhig und schaut mit glänzenden Augen den Jüngling an – unverwandt. Ich bin tief ergriffen; aber ich möchte draußen sein, ich möchte hier nicht stören.

Deswegen sage ich, ich würde jetzt gehen und ein andermal wiederkommen.

»Wollen Sie nicht warten?« fragt Leuthold.

Der Kranke macht einen mühsamen Versuch zu lächeln.

»Die Anna – kommt bald – dann feiern wir – Verlobung –«

»Herr Kantor, ich wünsche das aller-allerreichste Glück.« »Ich – - ich möchte – Sie etwas bitten – wenn es nicht – unbescheiden wäre. – Sie kennen den Herrn Baron – er ist der Patron der Schule. – Möchten Sie ein – gutes Wort einlegen – für Leuthold – daß er meine Stelle bekommt – wenn ich sterbe –«

Ich wandte mich erschüttert ab. Dieser Mann hatte sein Lebenlang schwer gearbeitet; nun, da er (vielleicht infolge seiner Anstrengungen) auf einem vorzeitigen Sterbebett lag, mußte er einen Fremden um ein gutes Wort bitten, daß nur der Schwiegersohn dieselbe karge Stelle bekam, auf der er sein Leben gefristet hatte.

»Herr Kantor,« sagte ich, »ich wünsche Ihnen noch ein recht langes Leben. Sollten Sie aber Ihr Amt nicht mehr übernehmen können und sich keine bessere Stelle für Herrn Leuthold finden, so seien Sie gewiß, daß ich all meinen Einfluß aufbieten werde, um ihm diese Stelle zu verschaffen, und er bekommt sie bestimmt!«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor! – Ach, das ist so ein glücklicher Tag heute!«

Ich nahm sehr rasch Abschied und ging. Draußen betrachtete ich mir diese Volksschule. Wenn sie nicht im Tale stände, würden keine anständigen, klugen Bürger darin wohnen, sondern idiotische Barbaren.

»Du kleines Haus, du segensreiches Haus,« dachte ich; »Gott segne dich und deine armen Apostel!« – –

Auf der Dorfstraße begegnete mir ein Gefährt. Ein schmuckes, aber sehr blasses Mädchen saß darin, dem die Ungeduld, heimzukommen, vom Gesichte zu lesen war. Sie hielt ein kleines Paket in der Hand, darin war wohl die Medizin für den Vater. Er würde sie kaum noch brauchen. Das also war auch eine Braut, auch ein Mai, auch eine Liebe -!

Ich ging nach dem Walde zurück, weil ich jetzt keinem Bekannten begegnen wollte; erst als ich mich ein wenig beruhigt hatte, ging ich wieder nach dem Dorfe.

Ein Haufen Kinder stand auf der Straße lärmend, lachend und kreischend beieinander. Plötzlich sah ich, daß ein Weib wie eine Wütende in den Haufen hineinfuhr und die Kinder verjagte. Und da trat – das war sicher Zufall – auch Waldhofer aus einer Seitengasse hinzu.

Ein Mensch lag auf der Straße, der vielleicht die Krämpfe hatte. Ich ging näher, da sah mich Waldhofer und winkte mir ab. Ich blieb stehen und sah, daß er gemeinsam mit dem Weibe einen jungen Menschen emporraffte, der völlig betrunken war. Die drei verschwanden in der Seitengasse, und ich folgte von ferne. Danach traf ich mit Waldhofer wieder zusammen.

»Ich würde einen Betrunkenen nur im größten Notfall transportieren,« sagte er, »aber das Weib tut mir leid, es ist seine Mutter.«

Und ich erfuhr eine kurze, tragische Geschichte.

Die Böhmert hatte einen Weber geheiratet, den sie maßlos liebte. Als sie aber fünf kleine Kinder hatten, wurde dem Manne die Not zur Last, und er lief in alle Welt. Das Weib blieb mit ihren Kindern im größten Elend zurück. Und es geschah, daß die jüngsten vier Kinder kurz nacheinander starben. Da erhob sich das fürchterliche Gerücht, die Frau habe ihre Kinder umkommen lassen, und sie erhielt den Namen »Engelmacherin«. Einige Zeit darauf mußte die Böhmert vor Gericht, aber nicht wegen ihrer Kinder, die lediglich aus Not gestorben waren, sondern wegen eines anderen Falles. Die Böhmert hatte eine Magd mit einem Holzscheit halbtot geschlagen. Das Frauenzimmer hatte ihr ein uneheliches Kind gebracht, angeblich zur Pflege, und dabei durchblicken lassen, sie würde dankbar sein, wenn das Kind nicht alt würde. Die Böhmert wurde verurteilt, aber nach kurzer Zeit begnadigt. Trotzdem blieb sie im Dorfe verfemt. Frau Fama wirkt im kleinen Kreise am fürchterlichsten. Und diese Böhmert war ein Weib, dessen Herz nach Liebe schrie. Da hat sie alle ihre Liebe auf ihren ältesten Sohn, der ihr geblieben war, gerichtet und um Liebe gebettelt – das Kind um Liebe gebettelt. Und da er ein spröder Knabe war, hat sie alles getan, um sein Herz zu gewinnen, hat ihm jeden Wunsch erfüllt. Und da ist er ein Lump geworden.«

»Das gibt ja Stoff zu einer Tragödie,« sagte ich.

»Das Leben!« sagte Waldhofer. »Es ist mir manchmal, als ob die ganze Welt in diesem Tale wohne. Es gibt nichts, das nicht bei uns geschähe oder doch nicht geschehen könnte.«

»Weil der Hauptmotive, die uns Menschen leiten, sehr wenige sind,« sagte ich; »so ist alles auf der Welt nur immer Variation von irgendeinem der wenigen großen Themata.«

Ein Reiter kam – Hartwig! Er grüßte sehr kurz, aber Waldhofer sprach ihn an.

»Nu, Hartwig, nach der Schmiede?«

»Ja; wer weiß, ob er da ist.«

Und er ritt weiter.

»Er meint den Schmied,« sagte Waldhofer, »und er kann recht haben. Der Schmied vertrödelt seine Zeit. Er bildet sich ein, ein Erfinder zu sein, und ist doch bloß ein Tändler. Er versteht nichts von irgendeinem physikalischen Gesetz. Ich hab' ihm einmal ein paar physikalische Bücher besorgt; ich dachte, es würde ihm wenigstens die ungeheure Schwierigkeit der Probleme dämmern, die er lösen will. Aber er hat mir die Bücher zurückgegeben und gesagt, mit gelehrtem Kram ließe er sich nicht ein. Nun trödelt er weiter.«

»Es scheint mir überhaupt,« sagte ich, »als ob die Dorfleute einen Widerwillen gegen alles Wissenschaftliche hätten. Sie lassen allenfalls nur den Mutterwitz gelten und freuen sich riesig, wenn nach ihrer Meinung ein ›Gelehrter‹ einmal hineinfällt. ›Die Gelehrta sein die Verkehrta‹, heißt nicht so ein schlesisches Sprichwort?«

»Ja,« sagte Waldhofer, »besonderes Mißtrauen haben die Leute gegen landwirtschaftliche Neuerungen. Sie meinen, das alles besser zu verstehen. Aber was wird auch manchmal empfohlen! Unerprobte, unpraktische Dinge! Das bringt die wissenschaftliche Landwirtschaft in Mißkredit. Der kleine Bauer hat zum Experimentieren weder Zeit noch Geld.«

Wir kamen zur Schmiede. Ein junger, schmucker Schmiedegeselle beschlug den Rappen Hartwigs. Derweil plauderte der junge Bauer am Fenster mit der schönen Schmiedetochter. Hartwig schien sehr gleichgültig, aber das Gesicht des Mädchens glänzte so eigen, daß ich gleich alles wußte. Und der junge Schmied sah scheel nach dem Fenster.

»Ein Jüngling liebte ein Mädchen,
Das hat einen andern erwählt,
Der andere liebt eine andere –«

Ich hatte diese heineschen Verse nur gedacht, und es berührte mich überraschend, daß Waldhofer meinen Gedankengang laut fortsetzte, als wir an der Schmiede vorbei waren.

Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie ewig neu,
Und wem sie just passieret,
Dem bricht's das Herz entzwei.

Es war mir ein Genuß, mit diesem Manne durchs Dorf zu gehen; er gab mir ganz andere Aufschlüsse, als ehedem Sternitzke getan hatte. Und doch waren beide Gastwirte in demselben Dorfe.

Ein Kindergeschrei erhob sich. Ein Büblein wollte ein kleines Mädchen durchaus zwingen, mit ihm »Pferdchen« zu spielen. Er ergriff ihren blonden Zopf als Leine und schmitzte ihr, da sie kurze Röcke trug, mit einer kleinen Peitsche auf die Waden. Das Mädel heulte, und der Junge schrie »Hü!« und »Hott!«

Als die beiden kleinen Rangen unserer ansichtig wurden, kniffen sie aus, und aus weiter Ferne tönte wieder ihr liebliches Duett: »Die neue Jacke hat a mir zerrissen!«

Ich erzählte Waldhofer die Entstehung dieses schönen Refrains, und er lachte.

»Da sehen Sie, wo die Kleinen hingehen!«

Ich sah sie eben über die Brücke mit dem doppelten Geländer nach der Oberförsterei wandern.

»Jetzt werden Sie verklagt,« sagte Waldhofer.

»Ja,« sagte ich, »und der Herr Oberförster wird unverhofft dazu kommen, ›Elternfreuden nassauern‹ zu müssen.«

»Der Herr Oberförster wird Ihnen den Fall gewaltig übelnehmen; denn der Junge ist sein Liebling! Wenn Sie sich übrigens bald freiwillig stellen wollen, so kommen Sie doch mit zu Sternitzke!«

»Sie gehen in den ›Silbernen Löffel‹, Herr Waldhofer?«

»Ja. Es ist eine Gemeindesitzung heute, an der ich natürlich teilnehmen will. Es handelt sich um den Bau einer Chaussee.«

»Hier durch Wernersdorf soll eine Chaussee gebaut werden? Sie sind wohl natürlich dagegen?«

»Warum meinen Sie das?«

»Nun, ich denke, in diesen idyllischen Waldwinkel paßt keine Chaussee. Eine so harte, gerade, langweilige Straße würde doch die Romantik gewaltig stören!«

Waldhofer sah mich an.

»Die Straßen können nicht gut genug sein. Und es ist ganz egal, ob sich die Burg hier oben ein Handwerksbursche mit dem Stab und Ränzel ansieht oder ein Radler in kurzen Hosen. Wenn er sie nur ansieht! Wenn er sich nur was Echtes denken kann; wenn er nur ein bißchen Herz hat!«

»Na ja, aber eine alte Dorfstraße hat doch ihr Poetisches – diese Krümmungen, diese Unterschiede in der Breite, die Dörnerzäune, Hecken, Winkel, stillen Plätzlein, der verwilderte Graben –«

»Alles ganz richtig! Wollen Sie das nicht in der Versammlung sagen?«

»Habe ich denn dort Sitz und Stimme?«

»Es wird nicht so genau genommen. Kommen Sie nur!« –

Herr Sternitzke empfing mich sehr zurückhaltend; ich hatte ihn bisher recht stiefmütterlich behandelt. Dazu kam, daß er heute als Gemeindevorsteher die Sitzung zu leiten hatte und daher gegen alle seine Gäste eine gewisse Objektivität zur Schau tragen mußte. Die ganze Stube war bereits voll Bauern; ein mächtiger Tabaksqualm fiel mir unangenehm auf die Geruchsnerven, und da uns Frau Sternitzke mit wenig freundlicher Miene bediente, hätte ich unter anderen Umständen sicher lieber mit Waldhofer meinen Gang durchs Dorf fortgesetzt.

Da ging die Tür auf, und der Herr Oberförster erschien. Wie liebliche Englein schwebten an seiner Seite Fritz und Ida Sternitzke. Die drei Gestalten gönnten mir nur je einen sehr vernichtenden Blick und verfügten sich dann nach der Küche, wo ich alsbald Madame Sternitzke zwei deutliche Ohrfeigen austeilen und den Oberförster in einen wütenden Streit mit ihr ausbrechen hörte.

Krebsrot erschien er endlich wieder in der Gaststube und nahm, ohne Waldhofer und mich weiter zu beachten, gegenüber von Sternitzke Platz.

Die Sitzung begann.

Sternitzke, der Gemeindechef, hub an zu einer langen Rede. Er wies, gestützt auf ein zahlreiches Aktenmaterial, die unbedingte Notwendigkeit des Chausseebaues nach, machte Mitteilung, wie weit die Verhandlungen mit dem Kreisausschuß gediehen seien, wieviel »Lasten« auf die Gemeinde kämen und wie sich diese, der Morgenzahl des Grundbesitzes gemäß, auf die einzelnen Besitzer »repetieren« würden. Er schien sich übrigens für verpflichtet zu halten, hochdeutsch zu sprechen, und das strengte ihn an. Als er geendet hatte, erhob sich ein wüstes Durcheinander. Jeder suchte seinem Nachbarn auf möglichst deutliche Weise seine Ansicht über das eben Gehörte auseinanderzusetzen.

»Zilentium!« schrie der Gemeindechef sehr energisch, »es geht nich, daß hier su a jeder Michel quatscht, was a will! Wer wünscht das Wort, meine Herren?«

»Ich! Ich! Ich!«

»Zuerst der Päsler Gustav!«

Ein stämmiger Bauer erhob sich.

»Na ja, meine Herrn – sähn Se – ich meene halt – na ja äben – ma will ja nich gerade räs'nieren – aber 's muß doch oll's beducht sein – und äben deswegen – 's konn's em kee Mensch nich übel nähm –«

»Zur Sache!« brüllte der Oberförster.

Päsler erschrak so, daß er sich ohne weiteres setzte.

»Haben Se sonst noch was zu erwähnen?« fragte der Präsident.

»Nee!« sagte Herr Päsler und tat einen Trunk.

Ein zweiter Redner kam an die Reihe. Er faßte sich bedeutend kürzer, indem er nur folgende Anfrage anbrachte: »Nu, ich will amol fragen, was wird denn do eegentlich aus meim Schweinstalle – hä?«

Sternitzke machte eine Amtsmiene.

»Herr Krause – wer'n Schweinstoll so nahe an de Straße baut, der muß sich's gefoll'n lassen, wenn a ihm behufs Straßenverbreiterung amtlich weggerissen wird.«

Ein Brummen erhob sich, halb Zustimmung und halb Widerspruch. Ein cholerischer Bauer fuhr dazwischen.

»Na, dos wer'n mer a mol sahn! Entschädigung wull'n mer! Entschädigung is de Hauptsache!«

Zustimmung von allen Bänken.

»Jawull! Und eene anständige Entschädigung! Vo meim Gorten werd o eene Ecke obgeschnitten, und do sticht grode dar eenzige Appelbom, dar iberhaupt was taugt. Is dos nich 'ne Gemeenheet?«

»Gemeenheet darfst du vom Chausseebau nich sagen,« bemerkte Sternitzke mit parlamentarischem Takte. Er war ebenso wie Gerstenberger ein eifriger Leser der Reichstagsberichte.

»Mer derfa iberhaupt nischt sogen, mer derfa bloß bezohlen!« schrie einer.

Diese Rede zündete. Ein neuer Tumult brach los.

Da meldete sich Waldhofer. Augenblicklich war große Stille. Ja, der Mann traf den richtigen Ton. Er beachtete alles und tat keinem wehe. Er respektierte den bedrohten »Appelboom« und redete dem unglücklichen Schweinestallbesitzer tröstlich zu; er sprach von den Entschädigungsansprüchen und kam dann auf den Nutzen zu reden, den die Chaussee dem ganzen Dorfe bringen würde. Zuerst dachte er an die armen Weber. Ihnen würde auf der neuen Straße ein neues, ein besseres Brot gebracht werden. Der Verkehr würde sich heben, und davon würden alle Geschäftsleute profitieren.

»Ja, und uff die Burg kumma viel neue Gäste,« schrie ein roher Kerl.

Waldhofer nickte dem Manne freundlich zu, und er sagte, da hätte er ganz recht. Dann fuhr er ruhig fort zu reden. Er sprach von dem schlechten, in der rauhen Jahreszeit kaum passierbaren Wege, von der Sauberkeit, die dem Dorfe not tue, und davon, daß alle Häuser und Güter viel mehr an Wert gewinnen würden, als der einzelne zum Chausseebau beizutragen hätte.

Als er fertig war, hatte er die meisten Leute auf seiner Seite.

Da konnte der Oberförster, der schon immerfort unruhig auf seinem Stuhle hin- und hergezappelt hatte, nicht mehr länger an sich halten.

»Bitte ums Wort!« sagte er und trank mit einem Zuge sein Bier aus. Dann räusperte er sich effektvoll und nahm eine Pose an, wie Bismarck bei einer seiner großen Reichstagsreden.

Er machte noch eine sehr eindrucksvolle Kunstpause und erhob dann seine Stimme zu folgender rednerischer Leistung.

»Schweinerei! – Schweinerei, sage ich!«

»Schweinerei darfst du vom Chausseebau nich sagen,« unterbrach ihn Sternitzke.

Aber da kam er schlecht an.

»Was? Nicht sagen darf ich? Alles kann ich in einer öffentlichen Versammlung sagen! Da bin ich kommun! Das merk' dir mal, du Schwachkopp!«

Da fuhr Sternitzke giftig in die Höhe.

»Was?! Schwachkopp?! Das sagst du mir als Schulze? In der Sitzung? Is das ein Ruppsack! Sie haben gehört, meine Herren – ich verklag'n!«

Schwapp, saß er wieder. In Gerstenbergers Gesicht wetterte ein ganzes Feuerwerk; er pustete und schüttelte sich wie ein Bär, der einen Schrotschuß ins Gesicht bekommen hat. Aber dann gab er sich einen Ruck und nahm plötzlich eine vornehme und ruhig sein sollende Haltung an.

»Es bleibt dabei – Schweinerei sage ich! Der ganze Chausseebau! Denn warum? Erstens kommen die blödsinnigen Kerle, die Steinmetzker, und pinken den ganzen Tag auf der Straße rum. Haben Sie schon mal so'n gottlosen Radau gehört, meine Herren? Nervös werden Sie alle und kriegen Anfälle, das sag' ich Ihnen. Und dann! Kein Mensch kann mehr fahren auf der Straße, und wenn man abends nach Hause geht, ist die Passage einfach unmöglich. Das ist 'ne Schweinerei, sag ich! Wegen einer Chaussee braucht kein Mensch den Hals zu brechen! Das ist unverschämt! Kommt dazu, daß bloß unnötig viel Fuhrwerk, Spaziergänger, Radler und anderes Gesindel ins Dorf kommt. Das macht alles Spektakel und verscheucht mir das Wild. Und dann kann ich fuchsteufelswilde werden, ob's dem Herrn Schulzen paßt oder nicht! Also, meine Herren, lassen Sie sich nischt vorreiben! Auf unserer Straße is noch keiner im Drecke ersoffen! Und wem's nicht paßt, braucht nich herzukommen! – Im übrigen sage ich, daß ich Befehl habe, für den Chausseebau zu sein und im herrschaftlichen Auftrage des Herrn Baron erkläre, daß er auch dafür ist und seinen Teil von den Kosten tragen wird. Ich habe gesprochen!«

Erschöpft setzte sich der gute Mann. Ein lebhafter Gedankenaustausch folgte seinen lichten Ausführungen. Nur Sternitzke saß ihm mit verhaltenem Zorn gegenüber. Plötzlich erhob sich dieser.

»Der Oberförster hat hier die Leute gegen die Chaussee aufgehetzt, während a doch uff Befehl seines Herrn Barons dafür sein sollte! Ich frage den Herrn Doktor, der uns die Ehre gibt und ein Freund vom Herrn Baron ist, was er dazu meint!«

Also ich sollte reden! Aller Augen richteten sich auf mich, und wieder war eine große Stille. Die Augen des Oberförsters funkelten wie die eines grimmen Leuen. Die Sache machte mir Spaß, und ich redete.

»Meine verehrten Herren! Wir stehen hier offenbar vor einer sogenannten Komplikation der Pflichten. Im allgemeinen gilt vom Herrn Oberförster der alte lateinische Satz: Si tacuisses philosophus mansisses.«

»Sehr richtig!« applaudierte Gerstenberger im Brustton der Überzeugung.

»Im übrigen meine ich, Herr Gerstenberger hat seine Pflicht, als Beamter des Barons hier dessen Meinung mitzuteilen, prompt erfüllt.«

»Bravo!« rief der Oberförster ganz entzückt.

»Daß er privatim, in seiner Eigenschaft als Mitglied der Gemeinde, seine persönliche, gegenteilige Meinung hier zum Ausdruck gebracht hat, ist sein einfaches Bürgerrecht.« »Famos!« brüllte Gerstenberger und klatschte in die Hände.

»Deshalb meine ich, meine verehrtesten Herren, der erste Teil der Rede des Herrn Oberförsters ist als Privatäußerung, der letzte aber als eine berufliche Kundgebung aufzufassen, alles in allem ein kleines Meisterstück der Redekunst.«

»Herr Doktor, ich komm Ihn' einen Halben!« schrie der Oberförster, und während er trank, trank, bis nichts mehr im Glase war, blinzelten seine kleinen Äuglein voller Rührung und Begeisterung zu mir herüber.

Da kam ein schriller Mißton in die Stimmung. Eine vor Aufregung bebende Stimme erhob sich:

»Und ich sage, meine Herren, daß einer, der nicht ins Dorf gehört, in der Gemeindesitzung gar nichts zu sagen und überhaupt nichts zu suchen hat!«

Das war Hartwig!

Ich gestehe, daß ich mich ein wenig verfärbte. Ein Tumult brach los, und der Oberförster sprang auf und machte ein paar wütende Schritte nach Hartwigs Tische hin. Da erhob sich Waldhofer.

»Ruhe, Ruhe, liebe Freunde!« rief er laut in das Lokal. »Ich möchte bloß eine Frage an Sie richten: Hat einer von Ihnen etwas dagegen, daß der Herr Doktor unserer Sitzung beiwohnt?«

»Nein! Nein! Nein! Aber woher denn?«

»Also, lieber Hartwig, ich denke, Sie können sich schon beruhigen! Der Herr Doktor hat ja gar nicht zu einer Gemeindeangelegenheit, sondern nur zu einer Sache des Herrn Oberförsters gesprochen.«

Der Bursche war glühendrot vor Aufregung. Daß Waldhofer für mich Partei nahm, ärgerte ihn wütend. Ächzend brachte er heraus:

»Er verteidigt ihn – a muß – 's is ja der Schwiegersohn – deswegen is a ja da!«

»Hartwig!«

Das war das einzige Mal, daß ich den stillen Mann erregt sah. Er wurde aber sofort wieder ruhig. Mitleidig sah er den wilden Burschen an.

»Hartwig, es tut mir leid um Sie!«

Und er setzte sich.

Der Oberförster aber kochte vor Wut.

»Schmeißt 'n doch raus, den Kerl, schmeißt 'n raus, die lose Fresse – den – den –«

Großer Tumult.

»Rausschmeißen? – Was? – Mich?«

Mit drei Sätzen war der junge Bauer beim Oberförster und krallte wie ein wildes Tier alle zehn Finger um seinen Hals.

»Ich – ich – ermurkse dich du – du –« Der Kopf des Oberförsters wurde blaurot. Ich sprang hinüber, auch Waldhofer, aber da war Hartwig schon von kräftigen Bauernfäusten ergriffen. Die Tür wurde aufgerissen, und ich sah durchs Fenster, wie Hartwig in den Hof flog mit dem Gesicht auf die Erde.

Ich hörte nichts mehr von dem Lärm um mich; ich sah nur durchs Fenster auf den blutenden, beschmutzten Burschen, der sich draußen im Hofe erhob.

Er sah übel aus. Die Kleider waren zerrissen und schmutzig, das Gesicht blutete, und die Augen traten ihm aus den Höhlen. So schüttelte er die geballten Hände über seinem Kopf. Er wollte wohl etwas sagen, fluchen, drohen, aber er brachte die Lippen nicht voneinander. Taumelnd wie ein Betrunkener wankte er schließlich die Dorfstraße hinab.

»Das ist fürchterlich!« sagte Waldhofer.

Auch ich war höchst aufgeregt. So sagte ich noch ein paar Worte, es tue mir leid, daß ich der unfreiwillige Anlaß zu so bedauerlichen Vorfällen geworden sei, und ging. Ich hörte kaum auf das, was man mir nachrief; nur eines erkannte ich deutlich: der Sohn des Mörders hatte seine Heimat verloren. Liebe und Vertrauen hatte er wohl nie genossen.

Durch den trüben Wald ging ich mit Waldhofer. Wir sprachen beide nicht. Was war da auch zu sagen? Hartwig war einer von den Unglücklichen, denen nicht zu helfen ist. Es stieg auch ein Trotz auf in meiner Seele. Wie konnte mir dieser Bauer das Recht streitig machen, Ingeborg zu lieben wie er? Und das Mädchen, das das Ziel einer so heißen, trotzigen, leidenschaftlichen Liebe war, kam mir begehrenswerter vor denn je. Es war mir, als müsse ich es schützen vor jener unordentlichen, wilden Glut, und in diesem Augenblick war ich überzeugt, daß ich Ingeborg liebe.

Eine Waldlichtung kam, da blieben wir stehen und sahen hinunter ins Tal. Es war ganz still. Nur die Nebelschleier spannen sich über die Berge.

Da klang eine Glocke. Deutlich hörte ich ihren zitternden Ton. Waldhofer nahm den Hut ab.

»Die Sterbeglocke,« sagte er leise und wies nach der Schule.

Ich trat ein paar Schritte zurück und lehnte mich an einen Baum. Ein paar späte Blätter fielen von den Ästen und sanken langsam durch die schwere Luft.

Wie feierlich diese Glocke klang! Die Seele, der sie nachklingt, ist wohl schon weit. Sie ist hinaus über das Tal mit seinen Sorgen und Freuden, seinem Haß und seiner Liebe. Die Erde bleibt im Nebel zurück, die kleine Erde, auf der Menschen meinen, groß sein zu können. Und die Sonne kommt! Aber auch sie ist nur ein Lichtlein, das verglimmt. Neue Sonnen überstrahlen sie, Millionen neuer Sonnen, und alle sind gewaltig und glänzend, und um alle kreisen Sterne. Ob sie in Dunstschleiern wirbeln, oder ob sie glühen wie Feuer, ob Berge und Wälder von ihnen herüber grüßen, oder ob sie erstorben sind im ewigen Eise – die Seele sieht es nicht. Das ist alles klein, winzig und gleichgültig. Nur das, worauf die Seele hofft und wohin sie zieht, ist groß und ewig.

Himmelfahrt! – Wo bleibt die Erde? – Und wo bleibt unsere Größe?


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